Befreiungsnationalismus
und Antiimperialismus
|
Oglaigh na hÉireann -
Die Irisch-Republikanische Armee
Verfasser: Richard Schapke
Achter Teil und Schluß: Der Weg zum Karfreitagsabkommen
1. Waffenstillstand und Verhandlungen
Der Waffenstillstand vom 31. August 1994 war innerhalb der IRA alles andere als unumstritten. Zwei der sieben Mitglieder des Army Council stimmten gegen die Waffenruhe. Zudem war der Waffenstillstand nicht als permanent anzusehen, da ein solcher nur von der Army Convention, also der Delegiertentagung der Einheiten, beschlossen werden konnte und nicht durchsetzbar war. Die Unzufriedenen innerhalb der IRA wurden von Spezialeinheiten ruhiggestellt, die den Bataillonskommandos unterstanden. Jede nonverbale Kritik an der Waffenruhe wurde mit nackter Gewalt erstickt. Ein weiteres Ventil für das "Hooligan-Element" der IRA stellten die nun rapide zunehmenden Bestrafungsaktionen gegen Drogenhändler und Kriminelle dar. Die Untergrundarmee etablierte sich als parastaatliche Ordnungsmacht in Konkurrenz zur RUC. Da Schüsse als Verletzung des Waffenstillstandes ausgelegt werden könnten, verlegte man sich zusehends auf brutale Prügelattacken, die punishment beatings (1994 32, 1995 141, 1996 172). Auch Kritiker dieser rough justice aus den Reihen der SDLP wurden zusammengeschlagen. Ihre terroristischen Ambitionen lebten die Republikaner durch die Direct Action Against Drugs aus. Unter diesem Deckmantel ging die IRA gegen den ausufernden Drogenhandel in Nordirland und Irland vor und liquidierte bis zum Jahr 2001 rund 15 Dealer. Bis 1998 mußten mehr als 1000 Menschen Ausweisungsbefehlen der IRA Folge leisten. Auch die Rolle der Ziviladministration Sinn Féins als Staat im Staate wurde verstärkt.
Seit 1969 waren im Bürgerkrieg auf den Britischen Inseln und dem europäischen Kontinent 3.446 Menschen ums Leben gekommen, es gab 35.000 Verletzte. In den nordirischen Gefängnissen saßen 1920 Gefangene, davon alleine 759 im Hochsicherheitsknast von Maze. Unter den diesen Gefangenen befanden sich 700 republikanische und 400 loyalistische Paramilitärs. Mehr als 60 % aller nordirischen Häftlinge saßen wegen terroristischer Vergehen ein. Mit 19.000 Soldaten und 13.835 Polizisten kam zu diesem Zeitpunkt auf 3,7 waffenfähige Katholiken zwischen 16 und 44 Jahren ein Angehöriger der Sicherheitskräfte.
Am 14. Oktober 1994 stellten auch die Loyalisten der Ulster Defence Association und der Ulster Volunteer Force ihre Operationen ein. Ende Oktober erstellte der britische Premier John Major die Arbeitshypothese, die IRA habe einen dauerhaften Waffenstillstand erklärt, auf dessen Grundlage man verhandeln könne. Die Unionisten forderten nun eine Entwaffnung der IRA als Voraussetzung für gleichberechtigte Verhandlungen, während die Republikaner nicht daran dachten, ihre Druckmittel aus der Hand zu geben. Eine vorweggenommene Waffenabgabe war gleichbedeutend mit einer Kapitulation, und in der Tradition des Republikanismus gab es keine Abrüstung. Waffen wurden nach dem Ende einer Kampagne vergraben oder beiseite geschafft, aber niemals der anderen Seite übergeben. Zu allem Überfluß behauptete Sinn Féin beharrlich, sie habe keinerlei Einfluß auf die Haltung der IRA. Als Vertreterin einer nicht unerheblichen Zahl nordirischer Wähler dürfe man sie jedoch keinesfalls von den Verhandlungen ausschließen.
Als Geste des guten Willens zogen die Briten im November ein paar schwache Einheiten aus Nordirland ab und leiteten die Freilassung der inhaftierten IRA-Mitglieder ein. Diese Entlassungen wurden jedoch abgebrochen, nachdem ein IRA-Kommando bei einem Raubüberfall auf ein Postamt in Newry einen Angestellten erschoß. Dennoch verhandelte die britische Regierung am 9. Dezember 1994 erstmals nach dem Waffenstillstand mit Vertretern Sinn Féins, verweigerte jedoch Gespräche auf Ministerebene.
Major und sein irischer Amtskollege Bruton einigten sich am 22. Februar 1995 auf das Framework Document, ein Rahmenabkommen für Nordirland. Beide Staaten versprachen, den Willen der Bevölkerung hinsichtlich der staatlichen Zugehörigkeit zu respektieren. Der Vertrag sah Verhandlungen mit allen Parteien, Schaffung eines Parlaments, Einrichtung gemeinsamer irisch-nordirischer Behörden mit teilweiser Exekutivgewalt, Abänderung des Government of Ireland Acts und Änderung der irischen Verfassung vor. Die oberste Autorität des britischen Unterhauses über Nordirland sollte aufgehoben werden. Im Gegenzug entfernte Dublin den Wiedervereinigungsparagraphen aus der Verfassung. Nach den britischen Plänen sollte das nordirische Parlament aus 90 nach dem Verhältniswahlrecht gewählten Abgeordneten bestehen. Die Steuer- und Polizeihoheit blieben zunächst bei der britischen Regierung. An der Frage der Entwaffnung der Konfliktparteien scheiterten alle weitergehenden Schritte. Die IRA lehnte es ab, wie von den Protestanten und London gefordert, als erste Streitmacht die Waffen abzugeben. Der als John Unionist bekannte Bruton plante, durch Zugeständnisse die Protestanten von ihrer starren Haltung abzubringen, was von vornherein zum Scheitern verurteilt war.
Im März zogen die Briten weitere Verbände aus Nordirland ab und stellten ihre nächtlichen Patrouillen in Belfast ein. In den Grenzgebieten blieb die Armee weiterhin präsent, da man hier eine ungestörte Aufrüstung der IRA verhindern und die IRA-internen Waffenstillstandsgegner in Schach halten wollte. Am 10. Mai führten die britische Regierung und Sinn Féin die ersten offiziellen Gespräche auf Ministerebene seit 1972. Strittig war die Forderung Londons nach einer Entwaffnung der IRA als Vorbedingung für Verhandlungen. Irlands Expremier Reynolds erklärte, er hätte die Downing Street Declaration niemals unterzeichnet, wenn ihm die Forderung der Briten nach einseitiger Entwaffnung bekannt gewesen wäre. Angesichts der bis an die Zähne bewaffneten Protestanten kam für die katholische Seite eine Entwaffnung vor Abschluß einer zufriedenstellenden und stabilen Vereinbarung nicht in Frage.
Als Minimalforderungen kristallisierten sich bei den Republikanern Nichtrückkehr zu einem verteidigungslosen Zustand der katholischen Community und Nichtwiederherstellung des Protestant State heraus. Ohne Freilassung der Gefangenen und RUC-Reform käme eine Waffenabgabe der Kapitulation gleich. London und die Unionisten hatten nicht begriffen, daß die IRA in ihren eigenen Augen aus einer Position der Stärke heraus den Waffenstillstand erklärt hatte. Indessen wurde es für die Provisionals bei längerer Waffenstillstandsdauer immer schwerer, den Kampf wieder aufzunehmen, ferner drohte die Abspaltung des radikalen Flügels. Bei einer Spaltung könnte London relativ einfach den kampfbereiten Teil unterdrücken.
In einer Erklärung der IRA zu den noch immer auf der Stelle tretenden Verhandlungen über die Beteiligung von Sinn Féin an den Nordirlandgesprächen vom September 1995 hieß es: ""Das ganze Abrüstungsthema ist eine bewußte Ablenkung und Hinhaltetaktik der britischen Regierung, die wider Treu und Glauben handelt. John Majors Regierung weiß genug über anglo-irische Geschichte, um zu verstehen, daß es keine Möglichkeit der Entwaffnung gibt, außer als Teil eines ausgehandelten Abkommens."
Am 28. November einigten sich Major und Bruton auf einen Kompromiß zur Nordirlandfrage. Da London auf einer Entwaffnung der IRA bestand, was von Dublin für undurchführbar gehalten wurde, sollte eine internationale Kommission eingeschaltet werden. Diese Kommission unter Leitung von US-Senator George Mitchell, eines engen Vertrauten Bill Clintons, hatte den Auftrag, Empfehlungen zur Überwachung der Entwaffnung aller Konfliktparteien auszuarbeiten. Nach Vorlage des Mitchell-Berichtes sollten die vorgesehenen Allparteiengespräche im Februar 1996 beginnen. Im gleichen Monat entließen die Briten 88 republikanische und loyalistische Kriegsgefangene. Der Strafnachlaß bei guter Führung wurde auf die Hälfte erhöht - zwei Drittel der 500 republikanischen Gefangenen würden dann auch im Jahr 2000 noch in Maze einsitzen. Für weiteren Unmut sorgte die Verschärfung der Haftbedingungen für die in englischen Gefängnissen inhaftierten Republikaner.
Ende November besuchte Bill Clinton als erster US-Präsident die nordirische Hauptstadt Belfast und Derry. Wie zuvor in London und anschließend in Dublin warb er auch hier für den Frieden. An der Falls Road traf der prominente Besucher nicht ganz zufällig mit dem Sinn Féin-Vorsitzenden Gerry Adams zusammen. Der politische Druck aus den USA auf London steigerte sich - die Amerika-Iren stellen eine der stärksten Wählergruppen in den USA, und 1996 standen Präsidentschaftswahlen an. Mitte Dezember konnte die internationale Entwaffnungskommission um General de Chastelain aus Kanada ihre Arbeit aufnehmen. Die IRA lehnte jedoch im Vorfeld noch einmal ihre Entwaffnung ab.
Die Mitchell-Kommission legte am 24. Januar 1996 ihren Abschlußbericht vor. Republikanische und loyalistische Paramilitärs waren laut Mitchell verpflichtet, konstruktiv an einer vollständigen und nachprüfbaren Entwaffnung als Teil von Allparteienverhandlungen mitzuarbeiten. Diese Verpflichtung schloß jedoch nicht die Waffenabgabe vor Beginn der Gespräche ein. Alle Verhandlungsteilnehmer sollten sich auf eine demokratische und friedliche Konfliktlösung, die vollständige Entwaffnung der Paramilitärs und das Ende der Bestrafungsaktionen gegen Kriminelle festlegen. Major entschied sich allerdings für die Wahl einer nordirischen Regionalversammlung, was den Beginn der Gespräche um mindestens zwei Monate verschieben sollte. Die gewählten Abgeordneten dieses Nationalforums sollten zugleich die Verhandlungsdelegationen stellen, was Sinn Féin angesichts des unionistischen Übergewichts schwächen würde. Ferner beharrte London auf der Waffenabgabe als Vorbedingung für Verhandlungen. SDLP-Chef John Hume hielt dem Premier im Unterhaus vor, seine Aufmerksamkeit gelte eher den neun Stimmen der Unionisten im Parlament (diese waren als Mehrheitsbeschaffer für die konservative Regierung unentbehrlich) als dem Friedensprozeß in Nordirland.
2. Die letzte Runde
Der IRA Army Council zog die Konsequenzen aus der destruktiven Haltung Londons. Am 9. Februar 1996 explodierte in den Londoner Docklands ein riesiger Sprengsatz der IRA, wobei es 2 Tote, 100 Verletzte und umgerechnet 250 Millionen DM Sachschaden gab. Zugleich erklärte das Oberkommando das Ende seines Waffenstillstandes: "Nur sehr widerstrebend gibt die Führung der IRA bekannt, daß die völlige Einstellung aller militärischen Operationen heute abend um 18.00 Uhr endet. Wie wir am 31. August 1994 erklärt haben, wollten wir mit dem Waffenstillstand den demokratischen Friedensprozeß fördern und unseren entschlossenen Einsatz für seinen Erfolg unterstreichen...Anstatt sich dem Friedensprozeß anzuschließen, hat die britische Regierung nicht aufrichtig gehandelt. Major und die Führer der Unionisten haben diese Chance für die Lösung des Konflikts vertan. In den vergangenen 18 Monaten wurden im Londoner Parlament immer wieder parteipolitische und sektiererische Interessen über die Rechte des irischen Volks gestellt. Wir möchten bei dieser Gelegenheit unser entschiedenes Engagement für die republikanischen Ziele bekräftigen. Die Lösung des Konflikts in unserem Land erfordert eine umfassende Verhandlungsregelung. Sie ist solange unmöglich, wie die britische Regierung ihrer Verantwortung nicht gerecht wird. Die Schuld für das bisherige Scheitern des irischen Friedensprozesses tragen eindeutig John Major und seine Regierung." Um Vergeltungsaktionen der Loyalisten zu verhindern, verlegte die IRA den Schwerpunkt auf das britische Festland, so daß die Waffenstillstände von UVF und UDA bestehen blieben.
Trotz der Wiederaufnahme der militärischen Operationen wurden Ende Mai 1996 die Wahlen für das nordirische Nationalforum abgehalten. Mit 15,5 % und 17 von 100 Sitzen erzielte Sinn Féin ihr bislang bestes Ergebnis. In vier Wahlkreisen konnten die Republikaner die bürgerliche SDLP überflügeln, und in Belfast war Sinn Féin gar die stärkste Partei. In West Belfast stimmten 53,4 % der Bevölkerung für die Republikaner und 26,5 % für die SDLP. Weitere SF-Hochburgen waren North Belfast mit 19 %, Mid-Ulster mit 29,6 % und Fermanagh/South Tyrone mit 24,2 %. In allen drei Wahlkreisen hatten die Republikaner die SDLP geschlagen. Hinter der SDLP lagen sie mit 25,7 % in Derry westlich des Foyles, mit 28,1 % in West Tyrone und mit 25,6 % in Newry/South Armagh. Im Verhältnis zur Unterhauswahl von 1992 fiel die SDLP von 184.445 Stimmen und 23,5 % auf 160.786 Stimmen und 21,4 % (21 Sitze) zurück, während Sinn Féin legte von 78.291 auf 116.377 Wähler zulegte. Am 10. Juni 1996 begannen die Allparteiengespräche ohne eine Waffenruhe der IRA und damit ohne Sinn Féin.
Am 15. Juni zündete die IRA während der Fußball-EM einen monströsen Sprengsatz von 1500 Kilogramm eines Diesel-Dünger-Gemisches in der Fußgängerzone Manchesters. Die Sprengladung nahm die komplette Ladefläche eines Lastwagens ein. Das Stadtzentrum lag auf einer Fläche von 1,5 Quadratkilometern in Trümmern, es gab 200 Verletzte. Da kein Semtex eingesetzt wurde, handelte es sich um eine deutliche Warnung an Major, zu welchen Schlägen die IRA nach wie vor imstande sei. Infolge einer rechtzeitigen Warnung durch die Untergrundarmee konnten 75.000 Menschen evakuiert werden. Kurz darauf wurde eine britische Kaserne in Osnabrück mit Mörsergranaten beschossen.
Im Juli 1996 kam es im Rahmen der marching season, mit der die Protestanten den Sieg über den katholischen König James Ende des 17. Jahrhunderts feierten und dabei den protestantischen Charakter Nordirlands betonten, zu schweren Unruhen. Gegen den Widerstand der katholischen Anwohner prügelten Polizeikräfte den Protestanten den Marschweg durch die Garvaghy Road in Portadown frei, was einen Katholiken zu der vielzitierten Bemerkung veranlaßte: "Wir sind nicht Bürger zweiter, sondern dritter Klasse. Wir sind die weißen Nigger dieser Provinz." Seamus Mallon, Vizepräsident der SDLP, warf der britischen Regierung im Unterhaus vor, sie habe vor den "Schlägern mit Schärpen" kapituliert. Der Marsch von Drumcree machte das mühsam aufgebaute Vertrauen in Nordirland zunichte. Es kam zu schweren Zusammenstößen zwischen Katholiken und der Polizei, und die SDLP übernahm Sinn Féins Forderung nach Auflösung der nordirischen Polizei RUC. Adams kamen die neuen Krawalle nicht ungelegen, denn zur Beruhigung der IRA-Volunteers setzte dieser auf die Zurückgewinnung öffentlicher Gebäude und öffentlichen Raums für die republikanische Bewegung. Sinn Féin wollte an die Straßenpolitik der späten 60er Jahre anknüpfen und erneut Freie Zonen schaffen. Hierfür war die Instrumentalisierung der marching season gerade recht. Ferner konnten die Republikaner argumentieren, eine Entwaffnung der IRA würde die katholische Bevölkerung den loyalistischen Mobs ausliefern.
Anfang Oktober machten Hume und Adams der britischen Regierung ein neues Verhandlungsangebot: Bei Einbeziehung Sinn Féins zu den Allparteienverhandlungen werde die IRA einen sofortigen Waffenstillstand ausrufen. Außerdem sollte die IRA auf das Prinzip fortschreitender Entwaffnung nach dem Beginn der Verhandlungen festgelegt werden. Nach einem Bombenanschlag auf das Hauptquartier der britischen Armee in Lisburn verlangte Major, einer Waffenruhe habe zunächst eine Quarantänezeit zu folgen, während der die Republikaner ihre Beschränkung auf demokratische Mittel beweisen sollten. Auf informellem Wege teilte die britische Regierung mit, daß vor den Unterhauswahlen nicht mit Fortschritten zu rechnen ist. Im Dezember verloren die Tories bei Nachwahlen zwei Mandate und damit die Mehrheit im Unterhaus; die Partei war den Unionisten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Bei den britischen Unterhauswahlen vom 1. Mai 1997 erlitten die Konservativen eine vernichtende Niederlage gegen die Labour Party unter Tony Blair. Sinn Féin errang zwei Mandate, aber die Abgeordneten wurden aus dem Unterhaus ausgeschlossen, weil sie den obligatorischen Treueeid auf die Queen nicht ablegten. Die Unionisten hatten ihre Schlüsselstellung im Unterhaus verloren. Der neue Premierminister absolvierte seine erste Dienstreise nach Belfast, was der Lösung des Nordirlandkonfliktes die höchste Priorität verlieh. Blair ging davon aus, daß die Republikaner sich über den künftigen Kurs noch nicht im klaren waren. Sie sollten in den politischen Prozeß integriert werden, um ihnen die Entscheidung zugunsten friedlicher Mittel leichter zu machen.
Der unaufhaltsame Aufstieg Sinn Féins hatte eingesetzt. Bei den nordirischen Kommunalwahlen vom 21. Mai 1997 steigerte die Partei sich auf 16,9 %, wobei sie in Newry und Derry der SDLP die Mehrheit abjagen konnte. In weiteren vier Wahlkreisen verloren die Unionisten infolge des katholischen Bevölkerungswachstums ihre Mehrheiten. Am 6. Juni gelang es Sinn Féin bei den irischen Parlamentswahlen, erstmals seit Jahrzehnten wieder einen Abgeordneten in den Dáil zu entsenden.
3. Nordirlandverhandlungen und die letzte Spaltung der IRA
Nach weiteren Terrorakten sicherte das Nordirlandministerium Martin McGuinness zu, daß weder London noch Dublin auf der Entwaffnung der IRA als Vorbedingung für die Beteiligung Sinn Féins an den Allparteienverhandlungen bestehen würden. Die freiwillige und gegenseitige Entwaffnung könne nur im Kontext fortschreitender Verhandlungen erreicht werden. Nur ein wahrer und eindeutiger Waffenstillstand der IRA werde Sinn Féin die Beteiligung an den für September geplanten Gesprächen ermöglichen. Nach einer Aufforderung durch Adams verkündete der Army Council am 20. Juli 1997 einen neuen Waffenstillstand: "Wir wollen einen dauerhaften Frieden und sind deswegen bereit, zur Suche nach einem demokratischen Friedensabkommen durch echte und inklusive Verhandlungen beizutragen." Die unzweideutige Wiederherstellung der Waffenruhe vom August 1994 sei angeordnet worden. Gerry Adams formulierte in den "Republican News", Sinn Féin werde auf maximale politische Veränderungen drängen. Gemeint war eine Neuverhandlung des politischen Verhältnisses zwischen Nordirland und London. Gemeinsam könnten Sinn Féin, SDLP, Dublin und die Amerika-Iren durch ein Abkommen die Tür zu einem vereinten Irland öffnen. Sinn Féin ließ inoffiziell wissen, daß sie dem Konsensprinzip und damit dem Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich zustimmen könnte, wenn das Abkommen die Rechte der Katholiken garantiere, sie an der Regierung Nordirlands beteilige und die Option der Wiedervereinigung offenhalte. Adams und McGuinness mußten diesen provisorischen Aspekt sicherstellen, um dem Vorwurf zu begegnen, sie hätten es nur auf Stimme und Posten in Stormont abgesehen, anstatt für ein freies Irland zu kämpfen.
Am 15. September 1997 begann in Belfast die erste Runde der Allparteiengespräche über die Zukunft Nordirlands unter Beteiligung Sinn Féins. Auf protestantischer Seite fehlte Paisleys Democratic Unionist Party, die aus Protest gegen die Teilnahme der Republikaner absagte. Dennoch waren die wichtigsten politischen Kräfte beider Lager, die politischen Vertreter der Paramilitärs sowie die Regierungen aus London und Dublin zugegen. Man verhandelte dreispurig über die Beziehungen innerhalb Nordirlands, über die Beziehungen zwischen Belfast und Dublin sowie über das Verhältnis zwischen Irland und Großbritannien. Ein Abkommen sollte nur dann in Kraft treten, wenn in allen drei Bereichen ein Konsens erzielt wurde. Laut Zeitplan sollten die Verhandlungen im Frühjahr beendet sein, damit man das Abkommen im Mai einer Volksabstimmung unterziehen könne. Nach der Volksabstimmung war eine Ratifizierung des Abkommens durch die Parlamente in Dublin und London vorgesehen. Bis zur letzten Sitzung vor der Weihnachtspause am 17. Dezember konnten Unionisten und Republikaner sich nicht einmal auf eine gemeinsame Tagesordnung einigen. London verlegte als vertrauensbildende Maßnahme in England inhaftierte IRA-Aktivisten nach Nordirland, rollte den Fall Bloody Sunday neu auf und lud Adams nach Downing Street 10 ein.
Die vor allem an der Basis verbreitete Unzufriedenheit über den Kompromißkurs der Führung bewirkte eine Stärkung der republikanischen Hardliner. Am 16. September zündete die Continuity IRA eine Autobombe vor der Polizeiwache von Markethill. Der 160-Kilo-Sprengsatz legte die Station und weite Teile des Ortszentrums in Schutt und Asche, die Explosion war noch im 12 km entfernten Armagh zu hören. Aus Protest gegen die ergebnislosen Verhandlungen und den parlamentarischen Kurs der Führung begann Anfang November die Abspaltung republikanischer IRA-Extremisten in South Armagh, Down und der irischen Grenzstadt Dundalk. Vergebens sicherte Francie Molloy aus dem Sinn Féin-Vorstand, den Rebellen zu, die Verhandlungen seien nur eine Phase im Kampf für ein neues Irland. Sollten die Gespräche scheitern, werde man zum bewaffneten Kampf zurückkehren. Auf einer Parteiversammlung in der irischen Grenzstadt Dundalk spaltete sich eine radikale Gruppe von Sinn Féin ab, da Gerry Adams nach einer Reform Nordirlands und nicht nach der Wiedervereinigung strebe.
Am 30. November 1997 stimmte die Mehrheit des Army Councils dem Friedenskurs zu, aber die Hardliner um den ehemaligen Waffenmeister Michael McKevitt und dessen Frau Bernadette Sands-McKevitt (die Schwester des legendären Bobby Sands) spalteten sich daraufhin als Real IRA ab. Der politische Flügel der Hardliner wurde das 32 County Sovereignty Committee. Sands-McKevitt erklärte den Kompromiß mit London zum Verrat am Opfer des Märtyrers Bobby Sands. Die Continuity IRA machte mit einer wahren Serie von Bombenanschlägen auf sich aufmerksam.
Kurz darauf geriet der Waffenstillstand in seine vielleicht gefährlichste Krise, als am 27. Dezember ein Kommando der Irish National Liberation Army in Maze den für mindestens 40 Morde an Katholiken verantwortlichen Billy Wright, den Führer der von der UVF abgefallenen Loyalist Volunteer Force. Zuvor ermordeten Loyalisten trotz des Waffenstillstandes 6 katholische Männer und Frauen. Nordirlandministerin Mo Mowlam und David Trimble von der Ulster Unionist Party reisten umgehend nach Maze, um Sam McCrory, den UDA-Kommandeur im Gefängnis, zur weiteren Unterstützung des Waffenstillstandes zu bewegen. Die Antwort bestand in einer Serie von Mordanschlägen auf katholische Taxifahrer in Belfast. Bis Anfang Februar kamen 12 Menschen bei diesem Schlagabtausch zwischen republikanischen und unionistischen Hardlinern ums Leben. An je zweien dieser Morde waren die Waffenstillstandsparteien UDA und IRA beteiligt. Sinn Féin und die Democratic Unionist Party wurden für 14 Tage von den Verhandlungen suspendiert.
4. Das Karfreitagsabkommen
Unter Einschluß von DUP und Sinn Féin wurden die Nordirlandgespräche am 23. März 1998 wieder aufgenommen. US-Senator Mitchell als Vorsitzender der Konferenz setzte den Konfliktparteien eine Frist bis zum Gründonnerstag, den 09. April 1998, um ein gemeinsames Dokument vorzulegen. Nach hektischen Verhandlungen konnte buchstäblich in letzter Minute am 10. April 1998 das Karfreitagsabkommen unterzeichnet werden. Nordirland erhielt ein Parlament mit 108 Abgeordneten. Dieses sollte eine Regierung wählen, in der alle relevanten Parteien vertreten waren. Die meisten Entscheidungen das Parlaments erforderten den parallelen Konsens, also Mehrheiten in beiden Lagern. Belfast und Dublin bildeten in sechs zu vereinbarenden Sachgebieten gesamtirische Nord-Süd-Behörden unter Kontrolle der Parlamente. Die Republik Irland entfernte den Gebietsanspruch auf Nordirland aus der Verfassung. Im Rat der Inseln sollten Parlamentarier aus Schottland, Wales und Nordirland sowie Regierungsvertreter aus London und Dublin gemeinsame Belange beraten. Die britische Regierung richtete eine Gleichberechtigungskommission für Nordirland ein. Symbole unionistischer Dominanz waren aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen, vor allem aber war eine grundlegende Neustrukturierung der RUC vorgesehen. Die Paramilitärs sollten innerhalb von zwei Jahren entwaffnet werden. Parallel hierzu rückte die britische Armee schrittweise ab und reduzierte die RUC ihre Sicherheitsmaßnahmen auf Friedensniveau. Sofern die Organisationen den Waffenstillstand einhielten, sollten alle inhaftierten Paramilitärs bis zum Jahr 2000 auf Bewährung entlassen werden.
Der Vertrag erkannte an, daß "die Menschen der Insel Irland alleine" das Recht haben, die Wiedervereinigung herbeizuführen. Der Status Nordirlands konnte nur bei Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit geändert werden. Angesichts des ständig anwachsenden katholischen Bevölkerungsanteils wird Nordirland um 2010 eine für die Wiedervereinigung stimmende Mehrheit haben, was wiederum mit neuer Gewalt von loyalistischer Seite beantwortet werden dürfte. Der nordirische Bürgerkrieg ist nicht vorüber, er ist lediglich eingefroren worden.
Vorbedingung für die Machtübertragung an Unionisten und Republikaner war der ausschließliche Gebrauch friedlicher und demokratischer Mittel. Trimble sah hierin eine Entwaffnungsbestimmung für die IRA, während Adams anmerkte, die Entwaffnung sei keinesfalls im Friedensabkommen angeführt. Die IRA hatte ihr politisches Ziel eines britischen Rückzuges nicht erreicht, und das Abkommen legitimierte zu einem gewissen Grad den britischen Staat in Nordirland. Dennoch stimmten auf einem Sonderparteitag am 17. April mehr als 90 % der Sinn Féin-Delegierten dem Karfreitagsabkommen zu. Der IRA Army Council hatte bereits vor der Unterzeichnung durch Adams zugestimmt. Die am 22. Mai in Irland und Nordirland abgehaltene Volksabstimmung billigte das Abkommen mit 94 % bzw. 71 %. In Nordirland stimmten zwar 96 % der Katholiken zu, aber bezeichnenderweise nur 55 % der Protestanten. Die nordirische Regionalversammlung wurde am 26. Juni 1998 gewählt. Stärkste Partei wurde erwartungsgemäß die Ulster Unionist Party mit 21,28 % und 24 Sitzen, gefolgt von der katholischen SDLP mit 21,99 % und 21 Mandaten sowie der radikalen Unionistenpartei DUP mit 18,03 % und 19 Abgeordneten. Auf dem vierten Platz etablierte sich Sinn Féin mit 17,65 % und 15 Sitzen.
5. Nordirland nach dem Friedensschluß
Die Hardliner setzten den Kampf gegen die britische Herrschaft in Nordirland und gegen das Karfreitagsabkommen fort. Die Real IRA zündete am 15. August 1998 in der Kleinstadt Omagh eine Autobombe und legte den Ort in Trümmer. Sinn Féin verdammte den sinnlosen Anschlag mit 29 Todesopfern. Nordirlandministerin Mowland forderte die Provisional IRA vor laufenden Kameras auf, gegen die Hardliner vorzugehen. Kurz darauf erschienen IRA-Aktivisten bei 40 bekannten Mitgliedern der RIRA und legten ihren ehemaligen Kameraden unter Todesandrohung die Einstellung jeglicher Aktivitäten nahe. Die Führung der RIRA gab dem Druck nach und verkündete am 8. September einen "unbefristeten und vollständigen" Waffenstillstand, der immerhin bis 1999 halten sollte. Erstmals hatte die republikanische Untergrundarmee als Polizeitruppe der Briten fungiert, was für große Erbitterung sorgte. Ein schleichender Zustrom frustrierter Provisionals zur CIRA und zur RIRA hielt jedoch an und führte zur allmählichen Stärkung dieser Organisationen.
Ein Hauptproblem des Friedensprozesses in Nordirland ist, daß die die IRA sich nicht auflösen wird. Sie kann auch nicht in die neue Staatsmacht integriert werden - das obliegt Sinn Féin als politischem Flügel. Die IRA ließ sich niemals auf einen Dialog ein und blieb für sich in ihrer selbstgeschaffenen Welt. Bei einem Erfolg des Karfreitagsabkommens kann sie keine zukunftsfähige Rolle einnehmen. Sinn Féin fordert eine Integration der Volunteers in eine neugeschaffene nordirische Polizei, doch an den Erfolg dieses Anliegens glaubt nicht einmal sie selbst. Gerry Adams und Martin McGuinness opferten die Volunteers der Provisional IRA auf dem Altar des Karfreitagsabkommens und dem Versuch, mit friedlichen Mitteln ein wiedervereinigtes Irland zu erreichen.
Es besteht die Gefahr, daß die IRA den gleichen Weg nimmt wie die protestantischen Paramilitärs. Seit dem Karfreitagsabkommen sind IRA-Mitglieder vermehrt in Schmuggeldelikte aller Art verwickelt, und seit dem Waffenstillstand verstärkt sich ein Trend zur Organisierten Kriminalität, wie sich am Erscheinen republikanischer Terroristen als Auftragskiller in Schottland ablesen läßt. Einzelne schwarze Schafe wandten sich bereits offen kriminellen Geschäften zu, so sollen in Dublin aus ehemaligen IRA-Volunteers einige Unterweltgangs hervorgegangen sein. Die Schutzgelderpressung in Nordirland geht weiter; eingenommene Gelder werden von lokalen IRA-Größen in Geschäften und Wirtschaftsunternehmungen angelegt. Die Republikaner erhielten seit 1980 mindestens zweistellige Millionenbeträge vor allem aus den USA. Ein Großteil dieser Gelder wurde mit Hilfe europäischer Großbanken gewaschen und in Grundstücken und Aktien angelegt, um hier für den Freiheitskampf zu arbeiten. Auf der Schattenseite steht, daß republikanische Persönlichkeiten wie Gerry Adams oder Stabschef Murphy einen wahrhaft luxuriösen Lebensstil pflegen und sich von der Welt der katholischen Unterschicht meilenweit entfernt haben.
Wie schon oben angedeutet, droht dem Karfreitagsabkommen die größte Gefahr weniger von republikanischen Hardlinern, sondern eher von den loyalistischen Untergrundorganisationen. Die nordirischen Protestanten werden in ihrer Mehrheit eine wie auch immer zustandegekommene Integration in einen irischen Gesamtstaat niemals hinnehmen und mit bewaffneter Gewalt antworten. Seit Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens sind die Loyalisten nicht etwa in der Versenkung verschwunden, sondern sie wurden durch den massenhaften Zustrom neuer protestantischer Freiwilliger gestärkt. Vor allem UVF und UDA entwickeln sich zum Sammelbecken der Unzufriedenen. Während seit der Regierung Thatcher die katholische Bevölkerungsgruppe in den Genuß erheblicher wirtschaftlicher Verbesserungen kam, vernachlässigte die britische Regierung die Lage der breiten protestantischen Unterschicht. In den von Massenarbeitslosigkeit und Wohnungsnot gebeutelten loyalistischen Arbeitervierteln, die sich zudem von prosperierenden katholischen Nachbargegenden bedrängt sehen, braut sich ein gefährlicher sozialer Sprengstoff zusammen.
Die nordirische Gesellschaft
ist heute ein britisch-irisches Gebilde, das der irischen Tradition und
den politischen, sozialen und kulturellen Rechten der katholischen Minderheit
unverändert zu wenig Rechnung trägt. Kurz- bis mittelfristig muß
die Zukunft Nordirlands darin bestehen, eine völlige Gleichstellung
der beiden Communities und ihrer Traditionen herzustellen. Dies würde
eine umfassende Demokratisierung und die Beseitigung sämtlicher diskriminierender
Strukturen erfordern, was allerdings am traditionellen Selbstverständnis
dieses Staates und seiner historischen Legitimation rütteln würde
- und damit an der Existenz des Staates selbst. Denn die Identifikation
der protestantischen Community mit der nordirischen Eigenstaatlichkeit und
Union basiert vorrangig auf der Garantie auf Dominanz. Das Karfreitagsabkommen
ist ein Ergebnis gesellschaftlicher Erschöpfung, nicht des Friedenswillens.
Solange die Spaltung nicht überwunden ist, befindet sich die Provinz
in einem Schwebezustand zwischen Krieg und Frieden.
Weitere Teile über die Irisch-Republikanische Armee: |
Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 1 - Die Wurzeln des Nordirlandkonfliktes |
Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 2 - Osteraufstand, Bürgerkrieg und Zwanziger Jahre |
Die
Irisch-Republikanische Armee: Teil 3 - Dreißiger Jahre,
Zweiter Weltkrieg und Wiederauferstehung
|
Die
Irisch-Republikanische Armee: Teil 4 - Der Weg in den Bürgerkrieg
|
Die
Irisch-Republikanische Armee: Teil 5 - Bürgerkrieg in Nordirland
|
Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 6 - Hungerstreik |
Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 7 - Waffen und Wahlurnen |
Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 8 - Der Weg zum Karfreitagsabkommen |
Lesen Sie in diesem Zusammenhang auch:
Gewaltverzichtserklärung der Provisional IRA [von Richard Schapke]