Befreiungsnationalismus und Antiimperialismus

 

Oglaigh na hÉireann -

Die Irisch-Republikanische Armee

 

Verfasser: Richard Schapke

 

 

Fünfter Teil: Bürgerkrieg in Nordirland

 

1. Die Spaltung der republikanischen Bewegung

Als Reaktion auf die loyalistischen Katholikenverfolgungen in Nordirland verkündete am 18. August 1969 der IRA Army Council unter seinem Vorsitzenden Cathal Goulding, die IRA beanspruche das Recht zur Verteidigung der katholischen Bevölkerungsgruppe, solange die Republik Irland nicht militärisch interveniere. Die zur Befriedung Nordirlands eingesetzten britischen Truppen wurden davor gewarnt, diese Selbstverteidigung der katholischen community zu behindern. In der irischen Regierung traten vor allem Landwirtschaftsminister Blaney und Finanzminister Haughey für ein bewaffnetes Eingreifen ein.

Der traditionalistisch-nationalistische Flügel der IRA warf Gouldings Marxisten vor, sie hätten über ihre politischen Experimente zur Herbeiführung einer überkonfessionellen proletarischen Einheitsfront die Schutzfunktion für die katholische Bevölkerung sträflich vernachlässigt. In Belfast befanden die Traditionalisten sich bereits in offener Rebellion gegen den Army Council, und vor allem die altgedienten Veteranen forderten den Ausschluß der Marxisten aus der republikanischen Bewegung. In der Tat wurden die schwachen nordirischen IRA-Einheiten von der Eskalation der Spannungen vollkommen überrascht und waren nicht imstande, den loyalistischen Mobs oder der RUC Widerstand zu leisten.

Vier Wochen später stürmte ein Trupp von 16 Bewaffneten ein Treffen des IRA-Kommandos für Belfast und machte den traditionalistischen Standpunkt deutlich: Gouldings Leute hätten die nationale Bewegung in Nordirland verraten. Billy McMillen, der Kommandeur in Belfast, hielt eine interne Auseinandersetzungen zu diesem Zeitpunkt für selbstmörderisch, beugte sich aber. Der Marxist McMillen blieb Kommandeur, mußte aber alle Verbindungen zu Dublin abbrechen. Ein Mitglied der Putschistengruppe war der 21jährige Gerry Adams.

Die irische Regierung suchte in der Person von Finanzminister Charles Haughey Kontakt zur republikanischen Bewegung, um den Katholiken in Nordirland zu helfen. Da Dublin die kommunistischen Sympathien Gouldings nicht geheuer waren, profitierten die Traditionalisten in Belfast von dieser Hilfe. Als Gegenleistung versicherten sie, keinesfalls militärisch in Südirland zu operieren. Die Traditionalisten erhielten massive Finanzhilfen, ferner bezahlte Dublin die republikanisch-antikommunistische Zeitung "Voice of the North". Volunteers wurden in der Grafschaft Donegal von der irischen Armee ausgebildet, und wahrscheinlich war Haughey auch in den Ankauf von Waffen verwickelt.

Am 28. Dezember rief der traditionalistische Flügel die Provisional IRA (fortan Provisionals) ins Leben. Der Spaltung voraus ging die Army Convention in Dublin, auf der die Marxisten die Aufgabe des traditionellen Mandatsverzichtes und Zusammenarbeit mit der kommunistischen Arbeiterpartei in einer Nationalen Befreiungsfront forderten. Das Ziel der gesamtirischen Republik wurde als verfehlt eingestuft, und die militärische Taktik habe nur die Gegensätze zwischen Protestanten und Katholiken vertieft. Weiterhin sollte das protestantische und katholische Proletariat seine gemeinsamen Interessen erkennen und letztendlich die Sozialistische Republik Irland herbeiführen. Die Traditionalisten verloren die Abstimmung, weil Nordirland nur wenige Delegierte stellte, und verließen daraufhin die Convention. Sie hielten der marxistischen Official IRA vor, über parlamentarische Politik den grundsätzlich militärischen Charakter zu vernachlässigen und betonten die Traditionsaufgaben der IRA: Militärische Wiedervereinigung Irlands und Schutz der Katholiken. Am letzten Tag des Jahres 1969 übertrug Thomas Maguire, der letzte Überlebende des Zweiten Dáil von 1921 (also der von den Republikanern als legal anerkannten irischen Legislative), dessen Befugnisse auf das Oberkommando der Provisional IRA.

Am 11. Januar 1970 wurde in Dublin der Jahresparteitag Sinn Féins abgehalten. Die Parlamentarisierung der Bewegung und die Zusammenarbeit mit den Kommunisten fielen als Satzungsänderung durch, konnten aber als normaler Antrag mit einfacher Mehrheit verabschiedet werden. Schweren Herzens erhob sich daraufhin der ehemalige britische Soldat Séan MacStiofáin und bekundete seine Loyalität zur Provisional IRA. Die Traditionalisten gründeten als politischen Flügel die Provisional Sinn Féin (fortan einfach Sinn Féin), während der marxistische Flügel rasch an Bedeutung verlor und als Arbeiterpartei ein Schattendasein führte.

Die Provisionals gaben sich eine militärische Kommandostruktur. Oberste Autorität war die von den Delegierten der Einheiten beschickte Army Convention. Diese wählte die aus 12 Personen bestehende Army Executive, die über die Mitglieder des Army Council, des eigentlichen Oberkommandos, entschied. Vorsitzender dieses Armeerates war der Stabschef, dem ein Generaldjutant zur Seite stand. Weitere Mitglieder des Army Council waren der Quartiermeister sowie die Leiter der Abteilungen Finanzen, Einsatz, Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit. Hinzu kamen die Kommandeure wichtiger Brigaden wie Belfast oder Derry. Obwohl 70 % der IRA-Mitglieder bei den Officials blieben, entschieden die attraktiveren Provisionals den Wettlauf um die Jugend für sich. Die durch die Unruhen politisierten jungen Katholiken strömten der Provisional IRA in Scharen zu.

MacStiofáin wurde erster Stabschef der Provisional IRA, während Ruairi O´Bradaigh die Führung Sinn Féins übernahm. Politisches Ziel wurde die Neugliederung Irlands in seine vier historischen Provinzen Ulster, Leinster, Munster und Connaught. Die vier Bundesstaaten sollten einer Zentralregierung in Athlone, dem geographischen Mittelpunkt Irlands, unterstehen. Militärisch hatte die Verteidigung der katholischen Gebiete in Nordirland absolute Priorität. So schnell wie möglich war dann die Bereitschaft zu Vergeltungsoperationen bei britisch-unionistischen Übergriffen herzustellen. Nach einer ausreichenden Vorbereitung stand dann die Offensive gegen das britische Besatzungssystem auf dem Programm.

In Nordirland nahmen die antikatholischen Pogrome im Februar 1970 ein derartiges Ausmaß an, daß Irlands Premier Lynch eine militärische Intervention ernstlich in Erwägung zog. Seine Forderungen nach Entsendung einer internationalen Schutztruppe nach Nordirland verhallten ungehört, also wies Lynch den irischen Oberbefehlshaber an, die Armee auf den Einmarsch vorzubereiten. Im Gespräch war vor allem die Entsendung eines irischen Bataillons in die katholische Stadt Newry. Ferner wurden Waffen und Gasmasken an der Grenze bereitgestellt, um gegebenenfalls die nordirischen Katholiken damit zu versorgen.

Ende Mai 1970 wurde auf dem Flughafen von Dublin eine Flugzeugladung Waffen aus Österreich beschlagnahmt, die offensichtlich für die Provisionals bestimmt war. Als Bauernopfer der irischen Regierung mußten Haughey und Blaney zurücktreten. Dennoch hatte die Republik Irland den Provisionals entscheidende finanzielle Starthilfe geleistet. Nun flossen die von der irisch-nationalistischen NORAID, New York, organisierten Spendengelder der rund 40 Millionen Amerika-Iren. Da die 1962 vergrabenen Waffen ein skurriles Sammelsurium unterschiedlichster Modelle zutage förderten, organisierte George Harrison in den USA ein überaus effektives Netzwerk zur Beschaffung von Spenden und Waffen. Zu den ersten beschafften Waffen gehörten Gewehre vom Typ AR-15, und diese Armalite sollte zum Markenzeichen der IRA werden. Harrisons Waffenring wurde erst 1981 vom FBI ausgehoben. Auch der Ostblock wurde aufmerksam: Unterhielt das KGB anfangs vor allem zu den Officials enge Kontakte, so gelangten sehr bald die Provisionals in den Genuß von Waffenlieferungen aus dem Ostblock, zunächst aus der Tschechoslowakei. Weitere Waffen kamen auf Geheiß des libyschen Revolutionsführers Gaddhafi, und der kubanische Geheimdienst DGI unterwies IRA-Mitglieder in Kleinkriegs- und Sabotagetechniken. Auch Arafats Al Fatah belieferte die IRA mit Waffen aus sowjetischer Produktion.

 

2. Bürgerkrieg

Um die Jahreswende erlebte Nordirland die Ruhe vor dem Sturm. Die Lage hatte sich so weit entspannt, daß die Briten Teile ihrer von der Hauptinsel in die Unruheprovinz verlegten Einheiten wieder abzogen. Im März löste der Angriff einiger Republikaner auf eine Polizeistation in Derry schwere Unruhen in ganz Nordirland aus.

Am Ostermontag marschierten die Anhänger des Orange Order durch das Katholikenviertel Ballymurphy in Belfast. Nach Provokationen durch die Unionisten wurde der Zug von der aufgebrachten Wohnbevölkerung mit Pflastersteinen und Brandsätzen angegriffen. Die britische Armee war unvorbereitet und brauchte drei Tage, um die Ruhe wiederherzustellen. Am letzten Tag der Unruhen setzte das bereits vorher von katholischen Randalierern angegriffene schottische Regiment 200 Mann in Panzerwagen und Unmengen von Tränengas gegen das Katholikenviertel ein - für viele Katholiken der Beweis, daß die Armee für die Unionisten Partei ergriff. Wahrscheinlich hatten die in Ballymurphy von Gerry Adams geführten Provisionals die Schotten gezielt provoziert. Nach derartigen Drehbüchern liefen auch weitere Zusammenstöße mit der Armee ab, die zu überharten Vergeltungsmaßnahmen angestachelt wurde. Ziel war die soziale Ächtung der anfangs durchaus als Beschützer betrachteten Truppen. Für einen erfolgreichen Untergrundkampf braucht auch eine Stadtguerrilla die Rückendeckung der Zivilbevölkerung.

Ein wichtiger Prestigeerfolg gelang den Provisionals am 27. Juni 1970, als unter Führung Billy McKees ein loyalistischer Überfall auf das Belfaster Katholikenviertel Short Strand abgewehrt werden konnte. Bei der Schießerei kamen zwei Mitglieder der loyalistischen Ulster Volunteer Force UVF und ein IRA-Freiwilliger ums Leben. Da die Loyalisten nach jeder Aktivität der IRA mit überzogener Härte Härte zurückzuschlagen versuchten, trieben sie die Katholiken in deren Arme. Dieses Verhalten des Gegners wurde, wie oben beschrieben, durchaus auch vom IRA-Oberkommando einkalkuliert. Zur Jahresmitte zählte die Provisional IRA bereits 1500 Volunteers in Kampfeinheiten, den Active Service Units (ASU). Davon befanden sich 600 Freiwillige in Belfast, dessen Brigade bereits drei Bataillone zählte, und 200 im restlichen Nordirland. Den Aufbau in Belfast leiteten Séamus Twomey, Joe Cahill und eben Billy McKee.

Am 3. Juli 1970 führte die britische Armee in Belfasts Lower Falls-Viertel eine Großrazzia gegen die Official IRA durch. Rund 3000 Mann riegelten den Stadtteil auf einer Fläche von 1,5 Quadratkilometern ab und verhängten eine 35stündige Ausgangssperre. Wer trotz des Ausgangsverbotes auf die Straße ging, sollte warnungslos erschossen werden. Ein ganzes Wochenende lang kämmte die Armee das Sperrgebiet durch, wobei es zu massivsten Übergriffen gegen Gesundheit und Eigentum der katholischen Bevölkerung kam. Die Soldaten verbrauchten 1500 Schuß scharfe Munition und 1600 Kanister Tränengas. Drei unbewaffnete Zivilisten wurden erschossen, ein weiterer von einem Militärfahrzeug überfahren. Die Briten stellten 52 Pistolen, 55 Gewehre, 100 selbstgebastelte Bomben, 100 Kilogramm Sprengstoff sowie 21.000 Schuß Munition sicher und verhafteten 300 Katholiken.

Nachdem die Selbstverteidigung der katholischen Stadtviertel und Regionen gewährleistet schien, gab der Army Council der Provisional IRA Angriffe auf britische Soldaten frei. Das erste Opfer wurde am 7. Februar 1971 Robert Curtis in Belfast, und bis zum Sommer töteten die Provisionals insgesamt 10 Soldaten und Polizisten. Eine zweite Front des Terrors wurde die systematische Zerstörung der kommerziellen Stadtzentren, um die Kosten für die britische Besatzung in die Höhe zu treiben. Ferner wurden so Armeeressourcen von den katholischen Ghettos abgelenkt. Im März kam es zu einer blutigen Fehde zwischen den rivalisierenden IRA-Fraktionen, die jedoch durch einen Waffenstillstand beendet wurde. Mit dem Bombenanschlag auf einen protestantischen Pub in der Shankill Road, bei dem es wie durch ein Wunder nur Verletzte gab, verstießen die Provisionals erstmals gegen den ungeschriebenen Ehrenkodex der Republikaner, nach dem Zivilisten keine legitimen Ziele waren. Die Führung distanzierte sich von dem Anschlag, aber die IRA wurde bald allgemein als antiprotestantische Organisation begriffen. Aus den Verteidigungskomitees der protestantischen Arbeiterviertel entstand die Ulster Defence Association UDA, die schon Ende 1971 3000 Mann zählte. Da Angriff als beste Verteidigung schien, verübte die Organisation Anschläge auf Republikaner. Sehr bald tötete auch die UDA nach dem Vorbild der UVF wahllos katholische Zivilisten.

Nordirlands Premier Brian Faulkner gab am 9. August 1971 die Verabschiedung der Special Powers Act bekannt. Die Sicherheitskräfte erhielten die Vollmacht zur Einweisung "verdächtiger Personen" in Internierungslager. Neben der RUC richtete auch die Armee Verhörzentren ein, in denen Verdächtige bis zu 7 Tage lang von Polizisten und Soldaten "befragt wurden, ehe man sie wieder auf freien Fuß setzte. Schon am 10. August begann die RUC nach veralteten und dilettantisch zusammengestellten Listen mit der Internierung von 342 Personen, darunter nicht ein einziger Protestant. Unter anderem wurde ein uralter Teilnehmer des Osteraufstandes von 1916 verhaftet. Bis 1976 wurden insgesamt 2060 Katholiken ohne jedes Gerichtsurteil interniert, hinzu kamen 109 UVF und UDA zugerechnete Protestanten. Die bekanntesten IRA-Aktivisten hatten sich schon vor Tagen nach Irland abgesetzt oder waren untergetaucht. Auf die Razzia folgten bis zum 12. August andauernde Straßenkämpfe zwischen katholischen Jugendlichen und der Polizei, bei denen 17 Menschen erschossen wurden. Bei Anschlägen und Schießereien gab es bis zum 14. August weitere 9 Todesopfer, und die Briten mußten ihre Militärpräsenz auf 12.500 Mann erhöhen. Vor dem Terror von Armee und RUC flüchteten 7000 Katholiken über die irische Grenze. Faulkner ließ die fast ausschließlich aus Protestanten bestehende Polizeireserve bewaffnen.

Fortan waren brutale Festnahmen, überfallartige Hausdurchsuchungen, Folterungen, ungerechte Politgerichte und Unterdrückungsgesetze an der Tagesordnung. Eine Welle antibritischer Gefühle erfaßte Nord- und Südirland. Die IRA reagierte mit einer nicht abreißenden Serie von Anschlägen - das wirtschaftliche Leben der Provinz wurde gelähmt. Bereits am 17. August gab der IRA Army Council mitten in Belfast eine Pressekonferenz, um Faulkner bloßzustellen. Die Provisionals starteten nun ihre Offensive Victory 72. Ihre Brigaden operierten hierbei weitgehend selbständig. Zur dauernden Verunsicherung des Gegners wurden Straßenschlachten mit der katholischen Jugend inszeniert. Dadurch waren Polizei und Armee abgelehnt, und die ASU konnten ungestört ihre Operationen vorbereiten und durchführen.

Das ländliche South Armagh entwickelte sich neben Derry und West Belfast zu einer weiteren no go-area für die britische Armee. Bewegungen waren den Soldaten nur noch per Hubschrauber zu ihren auf Hügeln gelegenen Stützpunkten möglich, was bis ins Jahr 2000 unverändert blieb. Vor allem eine lebhafte Heimproduktion von Landminen gegen Soldaten und Fahrzeuge, die sich in die Gegend verirrten, machte den Briten das Leben schwer. Die Bevölkerung zahlte keine Steuern mehr, ignorierte Rechnungen und gerichtliche Vorladungen. Für die Bekämpfung von Personenzielen wurden zumeist dreiköpfige Heckenschützenkommandos aufgestellt, und ab Anfang 1972 kam das tückische Mittel der Autobombe hinzu. Zwischen August und Ende 1971 wurden in Nordirland 1400 Feuergefechte, 800 Explosionen und 139 Todesopfer registriert.

 

3. Zusammenbruch des Protestant State

Der 30. Januar 1972 sah eine der größten Tragödien des nordirischen Bürgerkrieges. In Derry folgten 20.000 Menschen einem Demonstrationsaufruf der Bürgerrechtsbewegung NICRA gegen die Internierungslager. Auf Bitten der Veranstalter hatten selbst die Provisionals auf jede Operation verzichtet. Die als Sicherungstruppe eingesetzten britischen Fallschirmjäger eröffneten das Feuer auf die Menge - die Bilanz des Bloody Sunday waren 14 Tote (darunter ein Soldat) und 130 Verletzte. Eine Untersuchung des Vorfalls durch die britische Generalstaatsanwaltschaft wurde höchst lustlos durchgeführt. Am 3. Februar demonstrierten in Dublin 100.000 Menschen gegen den britischen Terror. Auf den Straßen wurden offen Waffen für die IRA gesammelt, und am Abend stürmte die aufgebrachte Menge die britische Botschaft und brannte das Gebäude nieder. Im nordirischen Newry protestierten 60.000 Menschen. Alleine in Derry schnellte die Zahl der IRA-Volunteers auf 350 empor. Die Official IRA sprengte zur Vergeltung per Autobombe das Offizierskasino im britischen Aldershot in die Luft - unter den sieben Toten befanden sich fünf weibliche Zivilangestellte und ein katholischer Priester. Bei Bombenanschlägen der Provisionals auf das Restaurant Abercorn und den Bahnhof Great Victoria Street im Zentrum Belfasts gab es zwei Tote und Dutzende von Verstümmelten.

Noch immer weigerte sich Faulkner, den Katholiken auch nur das geringste Zugeständnis zu machen. Infolge der offensichtlichen Unfähigkeit der Regierung, die Lage in Nordirland in den Griff zu bekommen, schloß Großbritanniens Premierminister Edward Heath am 24. März 1972 mit der Direct Rule Act das nordirische Parlament und die nordirische Regierung. Die Regierungsgewalt über Nordirland wurde einem neuen Ministerium unter William Whitelaw übertragen. Zuvor hatte London bereits die direkte Kontrolle über die RUC übernommen. Faulkner rief die nordirischen Protestanten zum zivilen Ungehorsam gegen die Briten auf, die nun zusehends zwischen zwei Feuer gerieten.

Schon am 29. Mai 1972 verkündete das Oberkommando der Official IRA einen unbefristeten Waffenstillstand und wandte sich gegen alle nur auf militärischer Aktion beruhenden Strategien. Die Provisionals zeigten sich zunächst unbeeindruckt, aber am 13. Juni machten Martin McGuinness als Kommandeur der Brigade West Belfast und Stabschef MacStiofáin den Briten ein Verhandlungsangebot. Whitelaw lehnte postwendend ab, aber John Hume von der jungen gemäßigt irisch-nationalistischen SDLP und der Bürgerrechtler Patrick Devlin vermittelten dennoch Gespräche. Als Vorbedingung für einen Waffenstillstand forderte die Provisional IRA den Status politischer Häftlinge für ihre Kriegsgefangenen und die Hinzuziehung des internierten Gerry Adams zu den Gesprächen. London erfüllte diese Forderungen, und am 26. Juni riefen auch die Provisionals einen unbefristeten Waffenstillstand aus.

Am 7. Juli 1972 nahm die britische Regierung in London diskrete Gespräche mit einer IRA-Delegation auf, der u.a. MacStiofáin, Adams, McGuinness und Twomey angehörten. Die Provisionals forderten Anerkennung des Rechtes des irischen Volkes auf eine gesamtirische Volksabstimmung, Abzug der britischen Regierung bis zum 1. Januar 1975 aus Nordirland, sofortigen Rückzug der Armee aus katholischen Gegenden und Amnestie aller inhaftierten Republikaner. Als Whitelaw anmerkte, London habe sich 1948 in der Ireland Act verpflichtet, Nordirland im Vereinigten Königreich zu belassen, schlug MacStiofáin kurzerhand die Annullierung dieser Vereinbarung vor.

Weitere Verhandlungen wurden durch schwere Zusammenstöße in West Belfast obsolet. Die IRA-Einheiten nahmen die Kampfhandlungen wieder auf, und eine noch nie erlebte Terrorwelle überrollte Nordirland. Alleine bis zum 31. August wurden 2800 Feuergefechte, 200 Sprengstoffanschläge und 95 Tote gezählt.  Am Bloody Friday, dem 21. Juli 1972, zündeten die Provisionals im Stadtzentrum von Belfast innerhalb einer Stunde 22 Sprengsätze. Unter den 9 Toten befanden sich 4 Soldaten und Polizisten, ferner gab es 300 Verletzte. Am 1. August legten drei Autobomben das Zentrum des Ortes Claudy bei Derry in Trümmer - 8 Tote. Der 8. August sah das 500. Kriegsopfer seit August 1969. Die Auswirkungen der brutalen Offensive waren verheerend: Das sich um die SDLP sammelnde katholische Bürgertum und die Bürgerrechtsbewegung grenzten sich immer schärfer von den Republikanern ab.

Am 31. Juli 1972 erfolgte ein massiver Gegenschlag der Armee. Die Briten setzten 36.000 Mann Militär und Polizei ein und besetzten die faktisch autonomen Gebiete West Belfast und Free Derry. Dieser größten britischen Militäraktion seit dem Suezkrieg von 1956 hatte die IRA nichts entgegenzusetzen. Die Republikaner verloren wichtige Rückzugsgebiete. London änderte seine Taktik: Die Politik begann, sich ernsthaft mit der Lage der katholischen Bevölkerungsgruppe zu befassen, und die Sicherheitskräfte sollten mit allen Mitteln einen Keil zwischen Provisionals und Masse treiben. Whitelaw kündigte sofort Reformen an und schuf eine Agentur für faire Beschäftigung sowie einen Ombudsman als Beschwerdestelle über Diskriminierungen. Nordirlands Sozialwesen erhielt staatliche Zuschüsse und Vergünstigungen, die selbst unter Maggie Thatcher nicht angetastet wurden. London wollte der IRA durch Zugeständnisse das Wasser abgraben - die Radikalisierung der Protestanten war die Folge. Statt direkter militärischer Konfrontation wurden verdeckte Operationen durchgeführt, um die Struktur der IRA zu zerstören. SAS-Spezialeinheiten entführten republikanische Aktivisten und richteten sie hin. Bis Jahresende wurden mehr als 200 IRA-Volunteers verhaftet. In Nordirland entstanden die sogenannten Diplock Courts (benant nach Lord William Diplock, einem juristischen Hardliner) als Sondergerichte. Hier fällte ein Einzelrichter ohne Geschworene anhand der von der RUC gelieferten Aussagen seine Urteile. Die Republik Irland ging ebenfalls gegen republikanische Kader vor, die Haftstrafen von bis zu 6 Monaten absitzen mußten.

Im November verhaftete die irische Polizei in Dublin den Provisional-Stabschef MacStiofáin, der angesichts einer nur 6monatigen Haftstrafe einen völlig hysterischen Hungerstreik eröffnete und sich politisch selbst ins Abseits stellte. Sein Nachfolger Joe Cahill wurde schon Anfang 1973 verhaftet, und Seamus Twomey übernahm die Führung des IRA Army Council. Da die Provisionals in Nordirland in die Defensive geraten waren, wollte der neue Kommandeur die Operationen auf das britische Festland ausweiten, um den Druck auf London zu erhöhen und die bislang gleichgültige Öffentlichkeit im Vereinigten Königreich aufzurütteln.

 

4. Agonie

Im Verlauf des Jahres 1972 wurden in Nordirland 467 Tote, 4876 Verletzte, 10.628 Feuergefechte und 1382 Bombenanschläge gezählt. Seit August 1969 wurden alleine in Belfast bis zu 15.000 Familien aus ihren Stadtvierteln vertrieben. Nunmehr befanden sich 72 % aller protestantischen und 66 % aller katholischen Haushalte in monokonfessionellen Straßen. Die ethnische Säuberung etablierte sich als fester Bestandteil des Konfliktes. Ziel hierbei war stets die totale Kontrolle über ein Gebiet bzw. die Ausweitung einer bestehenden Kontrolle. UVF und UDA ermordeten alleine 1972 mehr als 100 katholische Zivilisten.

1973 brach die nordirische Wirtschaft infolge des Terrors zusammen, die explodierende Arbeitslosigkeit verschärfte die Lage weiter. In Belfast waren 300 gewerbliche Räume zerstört, was einem Viertel der gewerblichen Gesamtfläche entsprach. Der ökonomische Kollaps und die Direct Rule markierten das Ende des herkömmlichen Unionismus. Bald sollte die Republik Irland den Norden wirtschaftlich, kulturell und sozial überrunden. Die protestantische Arbeiterelite verlor ihre soziale Vorrangstellung, was sie weiter radikalisierte und dem offenen Rassismus noch zugänglicher machte.

Am 3. März 1973 entschieden sich bei einer von der katholischen Bevölkerungsgruppe boykottierten Volksabstimmung 98 % der Nordiren für den Verbleib bei Großbritannien. Hochgerechnet stimmten noch 60 % der Bevölkerung für London. Am gleichen Tag plazierten die Provisionals vier Autobomben in London. Zwei wurden entschärft, aber die Sprengsätze vor dem Old Bailey und dem Rekrutierungsbüro der britischen Armee verletzten 180 Menschen. Die Provisional IRA stationierte nun sogenannte sleeper units in England, deren Mitglieder einer geregelten Tätigkeit nachgingen und als Freizeit-Terroristen fungierten. Zwei Gruppen nahmen sich der Stromversorgung und der Telekommunikation an, die berüchtigte Balcombe Street Gang kümmerte sich um die britische Oberschicht und deren Etablissements. Mangelte es schon in Nordirland an direkter Kontrolle der Einheiten, so arbeiten die Volunteers in England vollkommen selbständig. Im Mai 1973 wurde bilanziert, daß die IRA seit Ausbruch des Bürgerkrieges im August 1969 571 Zivilisten, 194 Soldaten und 37 Polizisten getötet hatte.

Die RUC war nach Struktur und Aufgabe her keine herkömmliche Polizeitruppe und daher zu normaler Verbrechensbekämpfung nicht imstande. Angesichts der Tatenlosigkeit der RUC und der ausufernden Kriminalität inmitten des nordirischen Chaos griffen die Paramilitärs beider Seiten zur Selbsthilfe. In den katholischen Vierteln Nordirlands begann die Provisional IRA mit dem Aufbau von Volksgerichten. Diese Bürgerkomitees befaßten sich mit Nachbarschaftsstreitigkeiten und der Kleinkriminalität. Bei der Arbeit waren vor allem menschliche und soziale Faktoren zu berücksichtigen, d.h. der Täter sollte den angerichteten Schaden möglichst wiedergutmachen. Als Richter fungierten örtlich angesehene IRA-Volunteers. Zur Unterstützung war eine Republican Police Force vorgesehen. Bei schwereren Vergehen schritt die IRA selbst ein.

Den Volksgerichten war aus Sicherheitsgründen kein langes Leben beschieden, aber an ihre Stelle trat die Vergeltungsjustiz der IRA-Kommandos, die eigene Anti-Social Squads für solche Zwecke aufstellten - was von UVF und UDA kopiert wurde. Die häufigste Bestrafungsform dieser rough justice war das Durchschießen der Kniescheibe. Insgesamt registrierte die RUC über 2000 solcher punishment shootings, die zu 60 % katholische Kriminelle trafen. Zwischen 1973 und 1979 schoß die IRA mindestens 537 Personen an; den Höhepunkt bildete 1975 mit 139 shootings. Ferner griffen die Provisionals zu brutalen Prügelattacken, bei denen systematisch Knochen gebrochen wurden. Hier sei angemerkt, daß Kleinkriminelle erst Besuch einer Anti-Social Squad bekamen, wenn sie vorherige Aufforderungen zur Wiedergutmachung des angerichteten Schadens ignorierten. Auf Verrat stand ohne Ansehen des Geschlechts die Todesstrafe. Ließ sich ein katholisches Mädchen mit britischen Soldaten ein, wurde es geteert und gefedert. Im Extremfall richteten die Paramilitärs Gewohnheitskriminelle, Sexualstraftäter und Drogendealer hin. In Allianz mit den katholischen Bürgern bildete sich ein Alternativsystem zur entfremdeten Staatsmacht heraus.

 

5. Das Sunningdale-Abkommen

Unter dem Schutz britischer Maschinengewehre wurden am 30. Mai 1973 Kommunalwahlen und am 28. Juni Wahlen für ein neues nordirisches Parlament abgehalten. Überraschend avancierte die SDLP nach der ehemaligen Einheitspartei UUP zur zweitstärksten Fraktion. Die gemäßigten Gruppen traten angesichts der Agonie Nordirlands in ernsthaftere Verhandlungen ein. Auf Vorschlag der britischen Regierung wurde im Dezember das Sunningdale-Abkommen ausgehandelt. Die Republik Irland erhielt durch den Council of Ireland, in dem 7 Minister der beiden irischen Kabinette saßen, Mitspracherechte. Dublin erkannte die Zugehörigkeit Nordirlands zum Vereinigten Königreich an und sicherte ein härteres Vorgehen gegen die IRA zu. Am 1. Januar 1974 nahm unter Brian Faulkner eine Koalitionsregierung aus Ulster Unionist Party, SDLP und überkonfessioneller Alliance Party die Arbeit auf. Die SDLP betrachtete das Abkommen als Schritt zum irischen Einheitsstaat, während Faulkner den konstitutionellen Status quo gestärkt sah. Um die Gemüter zu beruhigen, wurden die Verbotsmaßnahmen gegen Sinn Féin und die UVF aufgehoben. Die Unionisten tobten, und Paisley verweigerte nun jegliche Zusammenarbeit mit der britischen Regierung. Die Republikaner lehnten ein reformiertes Stormont-Parlament ab, und viele Unionisten konnten sich eine Machtbeteiligung der Katholiken nicht einmal vorstellen. Eine Folge war die Spaltung der UUP, wo sich die Gegner im United Ulster Unionist Council sammelten und Front gegen Faulkner machten.

Bereits am 4. Januar wurde Faulkner als Vorsitzender des Ulster Unionist Council durch Harry West gestürzt. Bei den Wahlen zum britischen Unterhaus vom Februar 1974 entfielen 11 der 12 nordirischen Mandate auf die unionistischen Hardliner vom UUUC, was mit dem vorzeitigen Aus für Faulkner gleichbedeutend war. Der Anfang vom Ende kam am 14. Mai. Unter maßgeblicher Beteiligung Ian Paisleys, dessen Bewegung sich bald zur Democratic Unionist Party DUP mausern sollte, und des UUUC organisierte der Ulster Workers Council UWC einen machtvollen Generalstreik. UDA-Paramilitärs errichteten Straßenkontrollen zwecks Abriegelung katholischer Gebiete, und unionistische Gewerkschafter fuhren die Kraftwerke auf ein Minimum herab. In Dublin und Monaghan töteten von Loyalisten gezündete Autobomben 33 Menschen - diese forgotten campaign sollte die blutigste Operation des gesamten Bürgerkrieges bleiben.

Obwohl das Vorgehen des UUC einem Putsch gleichkam, blieb die Armee in den Kasernen. Die Führung der konservativen Partei im Unterhaus und das Offizierskorps der Armee kollaborierten mit den Loyalisten. Erst mit dem Rücktritt des ohnmächtigen Faulkner am 28. Mai wurde der Generalstreik beendet. London kehrte zur Direct Rule zurück und erklärte den Council of Ireland für aufgelöst. Die Republikaner sahen sich in ihrer Ansicht bestärkt, daß eine demokratische Reform Nordirlands unmöglich war, während die SDLP per Aussöhnung zwischen Katholiken und Protestanten den Weg zum vereinigten Irland suchen wollte.

Zu einer der blutigsten IRA-Operationen kam es am 21. November 1974 in Birmingham. In einer bei britischen Soldaten beliebten Kneipenzeile explodierten zwei Sprengladungen und töteten 22 Menschen. Das britische Unterhaus verabschiedete ein Sondergesetz zur Bekämpfung des Terrorismus. Nach einem Lagebericht der neuen Nordirlandministerin Merlyn Rees beschlagnahmten die Sicherheitskräfte im Jahr 1974 mehr als 11 Tonnen Sprengstoff und brachten 1300 Personen wegen terroristischer Verbrechen vor die Sondergerichte. Republikaner und Loyalisten nahmen 133 punishment shootings vor, wobei die Loyalisten bei ihren Bestrafungsaktionen gegen Kriminelle sogar zu Black-und-Decker-Elektrobohrern griffen. Seit Jahresbeginn tötete die IRA 140 Menschen, die Gesamtverluste dieses Jahres lagen bei 216 Toten. Die CIA bezifferte 1974 die Stärke sowohl der Official IRA als auch der Provisionals auf je rund 1000 Mann. Langley klassifizierte die Provisionals bereits jetzt als faschistische Bewegung.

 

Weitere Teile über die Irisch-Republikanische Armee:

Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 1 - Die Wurzeln des Nordirlandkonfliktes

Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 2 - Osteraufstand, Bürgerkrieg und Zwanziger Jahre

Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 3 - Dreißiger Jahre, Zweiter Weltkrieg und Wiederauferstehung
Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 4 - Der Weg in den Bürgerkrieg
Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 5 - Bürgerkrieg in Nordirland
Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 6 - Hungerstreik

Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 7 - Waffen und Wahlurnen

Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 8 - Der Weg zum Karfreitagsabkommen

 

Lesen Sie in diesem Zusammenhang auch:

Gewaltverzichtserklärung der Provisional IRA [von Richard Schapke]

 

 

 

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