Befreiungsnationalismus und Antiimperialismus

 

Oglaigh na hÉireann -

Die Irisch-Republikanische Armee

 

Verfasser: Richard Schapke

 

 

Vierter Teil: Der Weg in den Bürgerkrieg

 

1. Die Neuorientierung der IRA

Am 26. Februar 1962 verkündete der IRA Army Council die Einstellung seiner Offensive gegen Nordirland, der border campaign. Die IRA versicherte den britischen Besatzungstruppen ihre ewige Feindschaft. Das irische Volk wurde zur Unterstützung aufgerufen, um dereinst die letzte und erfolgreiche Phase des Freiheitskampfes für ganz Irland zu eröffnen. Bei den Auseinandersetzungen hatten sechs IRA-Volunteers (zumeist durch ihre eigenen Bomben) und sechs Beamte der RUC den Tod gefunden. Die Republik Irland internierte 335 Republikaner, die nach dem Ende der border campaign ebenso wie die von den Briten verurteilten Terroristen freigelassen wurden.

In der "New York Times" wurden IRA und Sinn Féin für erledigt erklärt, und der Protestant State stand scheinbar so fest wie nie da. Die Führung zog sich nunmehr zur Selbstkritik zurück. Man hatte als halbgeheime Organisation kaum Massenkontakt gehabt. In der Folgezeit konzentrierte die republikanische Bewegung sich vermehrt auf soziale und wirtschaftliche Aspekte des Kampfes, an die Kongreßbewegung von 1934 anknüpfend. Unter Stabschef Cathal Goulding entstand die neue Phasentheorie. Protestantische und katholische Proletarier in Nordirland sollten ihre gemeinsamen Interessen entdecken und sich verbünden. In der zweiten Phase würde das Proletariat in beiden irischen Teilstaaten die Regierungen hinwegfegen und eine vereinigte sozialistische Volksrepublik ausrufen. Sinn Féin sollte fortan die Parlamente in Dublin, Belfast und London anerkennen und als politisches Forum nutzen. Die IRA definierte sich nunmehr als bewaffnete Garantin der irischen Revolution.

Goulding strebte nichts geringeres an als die Transformation der IRA zur nichtkonfessionellen und antinationalistischen Arbeiterbewegung - was sie niemals zuvor war. Die republikanisch-katholischen Traditionalisten betrachteten die Entwicklung mit Unmut, da beispielsweise in Dublin mit Billigung Gouldings Kommunisten in die Organisation einsickerten. Angesichts der tiefgreifenden Spaltung der nordirischen Gesellschaft stellte der neue Kurs der IRA reines Wunschdenken dar, da infolge der privilegierten Stellung der protestantischen Facharbeiterschaft Klassenkampfgedanken in der unionistischen Gesellschaft wenig Anklang fanden.

 

2. Die Lage der Katholiken im Protestant State in den 60er Jahren

Seit den 20er Jahren hatte sich an der schlechten Lage der nordirischen Katholiken nichts geändert. Hervorragend wird ihre Diskriminierung durch einen Blick auf das Wahlsystem beleuchtet. Im Jahr 1967 waren in Nordirland 909.481 Bürger für die Wahlen zum britischen Unterhaus, 933.724 Bürger für die Wahlen zum nordirischen Stormont-Parlament und 694.483 Bürger für die Kommunalwahlen wahlberechtigt.

Bei den Unterhauswahlen wurde nach dem britischen Mehrheitswahlrecht verfahren, so daß sich stets die stärkste Partei durchsetzte. Die protestantische Bevölkerungsmehrheit und manipulierte Wahlkreiseinteilungen bewirkten, daß es sich hierbei vorwiegend um die Ulster Unionist Party handelte, die faktische Staatspartei Nordirlands. Das anfänglich für das nordirische Parlament vorgesehene Verhältniswahlrecht wurde schon 1929 durch ein rigoroses Mehrheitswahlrecht ersetzt, um den katholischen Einfluß weiter zu verringern. Die stärkste Partei wurde bei der Sitzverteilung durch Zusatzmandate noch weiter begünstigt.  Auch hier waren die Wahlkreise manipuliert: Beispielsweise teilte Belfast das mehrheitlich katholische Fermanagh in drei Wahlkreise. In zweien hiervon hatten die Protestanten die Mehrheit, so daß die Grafschaft im Regelfall zwei unionistische und einen katholischen Abgeordneten stellte. In Sachen Wahlmanipulation stellte Derry das abstoßendste Beispiel dar. Bei 14.429 katholischen und 8781 protestantischen Wählern wurden zwei mehrheitlich protestantische Kreise gebildet, denen ein zu 90 % katholischer Wahlkreis gegenüberstand.

Bei den Kommunalwahlen stimmte die Bevölkerung nach einem Zensuswahlrecht - nur Hausbesitzer und Steuerzahler waren wahlberechtigt. Je nach Steueraufkommen konnte der nordirische Wähler bis zu 6 Stimmen abgeben (plural voting). Dieses Wahlrecht schloß ein Viertel der Gesamtbevölkerung von den nordirischen Kommunalwahlen aus, und von dieser Gruppe waren 75 % katholisch. Bei den Kommunalwahlen von 1968 gab es in Armagh 3139 katholische gegen 2798 protestantische Stimmen - infolge der Kreiseinteilung erwuchsen hieraus 12 Mandate der Ulster Unionist Party gegen 8 von anderen Parteien. Obwohl die Protestanten in der Minderheit waren, kontrollierte die UUP auch in den mehrheitlich katholisch besiedelten Gegenden die Kommunalverwaltungen. Selbst in der katholischen Hochburg Fermanagh stellten Katholiken unter 10 % der Verwaltungsangestellten. Lediglich in Newry waren katholische Parteien in der Mehrheit - die sie zur Diskriminierung der Protestanten nutzten. Ein weiteres protestantisches Vehikel für Vetternwirtschaft und Arbeitsplatzvergabe war der Orange Order. Die Mitglieder seiner protestantischen Logen standen für bedingungslose Loyalität zur britischen Krone und rassisch-religiöse Ablehnung der katholischen Iren ein.

Im Jahr 1961 wurden in Nordirland 34,9 % Katholiken (= 497.547) und 61,5 % Protestanten (= 875.433) gezählt, hinzu kamen Konfessionslose und Sektierer. In Antrim existierte eine katholische Minderheit von 24 % der Bevölkerung, in Belfast von 28 %, in Down von 22 %, in Armagh von 47 %, in Derry County von 43 %. Die Bevölkerungsmehrheit stellten Katholiken mit 53 % in Fermanagh, mit 67 % in Derry City und mit 55 % in Tyrone. Im Protestant State gab es also nur in Antrim, Down und Belfast ein eindeutiges protestantisches Übergewicht. Ende der 60er Jahre waren bereits 51 % aller Schulkinder in Nordirland katholisch - die katholische Geburtenrate lag 40 % höher als diejenige der Protestanten.

Die Unionisten waren sich des demographischen Drucks der katholischen Bevölkerungsgruppe nur zu bewußt. Neben den in den Teilen 1 und 2 skizzierten religiösen und ideologischen Motiven hatte die Diskriminierung der Katholiken einen weiteren handfesten Hintergrund: Durch systematische Ausgrenzung und Entrechtung wurden Zehntausende in die Auswanderung getrieben. Die katholische Emigrationsrate war doppelt so hoch wie die der Protestanten, was Jahrzehntelang die Vorherrschaft des Unionismus sicherte. Während nordirlandweit 4 % aller Protestanten arbeitslos waren, galt das für 11 % aller Katholiken. In urbanen Regionen mit hohem Katholikenanteil lag die Arbeitslosigkeit 1961 weit über dem Landesdurchschnitt: Derry City 21,2 %, Newry 17,2 %, Strabane 14,4 %.

Sowohl die katholische als auch die protestantische Bevölkerungsgruppe wiesen eine normale Klassenstruktur auf, aber diejenige der Protestanten war marginal nach oben versetzt. Der Anteil der Protestanten an den sozialen Schichtungen nahm mit steigenden Einkommen zu: Sie stellten 51 % der ärmsten, aber 75 % der reichsten Nordiren. Auf der anderen Seite gehörten Katholiken tendenziell eher zur Unterschicht als Protestanten. In hohen sozialen Positionen finden wir 26,2 % der Protestanten und 14,8 % der Katholiken. In die Mittelschicht konnten 41,4 % der Protestanten und 41,2 % der Katholiken eingeordnet werden. In der Unterschicht sind 32,4 % der Protestanten, aber 44 % der Katholiken zu verorten. In Portadown zum Beispiel betrug der Anteil der ungelernten Arbeiter unter den Katholiken 16 %, derjenige der halbgelernten 39 % - doppelt so viel wie bei den Protestanten. Auf dem Land sind 34 % der Katholiken Kleinbauern, 22 % Landarbeiter und 9 % Tagelöhner; die protestantischen Vergleichszahlen lauten 17 %, 8 % und 7 %. In den 60er Jahren waren an der Queen´s University in Belfast nur 22 % der Studenten Katholiken, und der Lehr- und Verwaltungskörper bestand noch 1989 zu 85 % aus Protestanten.

Der mehrheitlich katholische Westen jenseits des Bann River wurde von der Wirtschafts- und Strukturpolitik bewußt stiefmütterlich behandelt. Diese bevorzugte die mehrheitlich protestantischen Gebiete im Osten. Von den 217 zwischen 1945 und 1964 errichteten neuen Fabriken lagen nur 31 mehr als 30 Meilen von Belfast entfernt. In den städtischen Regionen wurde die katholische Bevölkerung auch zwecks Wahlkreismanipulation auf engstem Raum in Ghettos aus abstoßenden Plattenbauten zusammengepfercht, teilweise unter Vertreibung katholischer Familien aus protestantischen Vierteln. In Nordirland lag kein Klassenkonflikt vor - beide communities handelten geschlossen gegeneinander. Die gespaltene Gesellschaft befand sich in einem Zustand des Kalten Krieges - offene Feindseligkeiten waren selten, aber es bestand ein beachtliches Konfliktpotential.

Die katholische Bevölkerungsgruppe sah sich als ein Opfer jahrzehntelanger struktureller Gewalt und lehnte den Protestant State strikt ab. Andererseits stand nur eine Minderheit im Lager der militanten Republikaner. Die katholische National Party, hervorgegangen aus der United Irish National Party, trat für eine gewaltlose Wiedervereinigung ein. Ansonsten überließ sie die Rolle einer Opposition gegen das unionistische Regime eher der - hieran nur marginal interessierten - Regierung Südirlands.  Angesichts der manipulierten Wahlkreise hatte die National Party vor allem auf kommunaler Ebene keine Chance - es gab keine effektive politische Interessenvertretung der katholischen Minderheit im Einparteienstaat Nordirland. Stets fanden sich die 6 bis 10 Stormont-Abgeordneten der National Party 33 bis 40 Vertretern der UUP gegenüber.

 

3. Die Unionisten auf Reformkurs

Nur zu bezeichnend war es, daß eine zaghafte Initiative zur Reform des Protestant State nicht von katholischer, sondern von unionistischer Seite ausging. Im Jahr 1963 wurde mit Terence O´Neill ein Vertreter des liberalen Flügels der Ulster Unionist Party neuer Premierminister in Belfast. Als Angehöriger des liberalen anglikanischen Establishments wollte O´Neill die Situation des latenten Bürgerkrieges durch einen Reformkurs entschärfen. Ein nicht zu unterschätzender Grund war die Drohung der Labour-Regierung in London, Nordirland die Zuschüsse zu kürzen, ferner hätte eine bessere Reputation des wirtschaftlich notleidenden Protestant State die Werbung um internationale Investoren erleichtert. Die Lage schien angesichts der gescheiterten Grenzkampagne der IRA günstig zu sein.

Die liberale Parteiführung, dominiert von Anglikanern, wollte die Katholiken für Nordirland gewinnen und brachte damit vor allem die radikalen Presbyterianer gegen sich auf. Der eher aus Gesten denn aus konkreten Maßnahmen bestehende Kurs O´Neills löste zusammen mit einem erwachenden sozialen Selbstbewußtsein der Katholiken und der beunruhigenden Bevölkerungsentwicklung in Derry und Belfast erhebliche Ängste unter den Protestanten aus. "Ein System der privilegierenden Zuteilung von Status, Macht und Einfluß, das zu seiner Selbsterhaltung und Fortdauer auf Diskriminierung als wichtigstes Herrschaftselement angewiesen ist, erträgt keine 'Reform', die diesen so zentralen Mechanismus außer Kraft zu setzen in der Lage wäre." Privilegierte Bevölkerungsgruppen reagieren bei einem drohenden Verlust ihrer Vorrangstellung mit der Hinwendung zu faschistischen Tendenzen, und so entstand schon 1964 eine breite Volksbewegung um Reverend Ian Paisley, flankiert durch eine innerparteiliche Opposition innerhalb der UUP. Der reaktionäre Prediger Paisley konnte sich auf seine Kontakte zu christlich-fundamentalistischen Gruppen in den USA verlassen.

Am 14. Januar 1965 trafen erstmals seit 1921 die Premierminister von Irland und Nordirland zusammen, und am 24. April 1966 gestattete O´Neill den Katholiken Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Dubliner Osteraufstandes. Die politische Apathie der katholischen Bevölkerungsgruppe wich, und die National Party gerierte sich erstmals als konstruktive Oppositionspartei. Bereits 1965 entstand als außerparlamentarische Bürgerrechtsbewegung nach dem Vorbild der USA die Campaign for Social Justice CSJ, welche die Öffentlichkeit in Großbritannien auf die Diskriminierung der Katholiken aufmerksam machen wollte. Paisleys Anhänger reagierten auf die symbolischen Versöhnungsgesten der Regierung und das neue Selbstbewußtsein der Katholiken mit schweren Unruhen und Ausschreitungen gegen die katholische Bevölkerungsgruppe. Zu nennen sind hier vor allem die Tricolour Riots gegen das Zeigen der irischen Flagge. Im Sommer 1966 radikalisierte sich der Widerstand gegen die Signale in Richtung der Katholiken. Um Gusty Spence schlossen sich unionistische Extremisten vor allem aus der Unterschicht und dem Lumpenproletariat zur paramilitärischen Ulster Volunteer Force UVF zusammen - der Loyalismus war geboren. Die UVF erklärte der IRA gewissermaßen den Krieg und ging mit wahllosen Morden an Katholiken zur Einschüchterung der katholischen community über, um die Zugehörigkeit Nordirlands zum Vereinigten Königreich sicherzustellen.

Ende Februar 1967 formierte sich aus Frustration über die zaghafte und machtlose CSJ die Northern Irish Civil Rights Association NICRA. Hauptziele der anfänglich von Liberalen aller Schattierung dominierten Bewegung waren die Gleichberechtigung der Katholiken, die Auflösung der verhaßten Polizeireserve und die Aufhebung der weitreichenden Sondervollmachten des Innenministeriums. Beispielsweise waren der mehrheitlich protestantisch-unionistischen Polizeitruppe Royal Ulster Constabulary RUC bei bloßen Verdacht auf Vorrätighaltung von Waffen, Sprengstoff und "terroristischem Material" Hausdurchsuchungen ohne richterliche Anordnung gestattet. Wer der Mitgliedschaft in einer "terroristischen Vereinigung" verdächtig war, konnte bis zu 48 Stunden lang ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert werden. Mit Genehmigung des Innenministeriums war es möglich, diese Verhörzeit um weitere 5 Tage auszudehnen. Neben der RUC und dem Orange Order behinderten vor allem Paisleys Anhänger die Bürgerrechtsbewegung, indem sie jeder Veranstaltung der NICRA eine eigene Anmeldung entgegensetzten und damit der Polizei oftmals die Möglichkeit zum Verbot aus Sicherheitsgründen gaben. Für das bessere Verständnis betonen wir noch einmal, daß es sich bei der RUC mit ihren Reserveeinheiten, der Ulster Special Constabulary, nicht um eine reguläre Polizei, sondern um eine paramilitärische Antiterrortruppe zur Sicherstellung der protestantischen Vorrangstellung handelte. Fast alle Offiziere gehörten dem Orange Order an, ebenso wie alle Regierungsmitglieder.

 

4. Der Widerstand formiert sich

Nach und nach sickerten immer mehr Anhänger Sinn Féins in die NICRA ein, die nicht an Reformen interessiert waren, sondern Nordirland als Ganzes in Frage stellten. Bereits beim 1. Jahrestreffen befanden sich unter den 70 Teilnehmern 30 polizeibekannte Republikaner. Im August 1968 eröffnete die NICRA in Dungannon/Grafschaft Tyrone mit 2500 Teilnehmern ihren ersten Protestmarsch gegen die soziale Diskriminierung der Katholiken bei der Wohnraumvergabe.

Am 5. Oktober sollte in Derry, dem Herz der Diskriminierung, ein weiterer großer Protestmarsch stattfinden. An der Organisation dieses Marsches war mit Eamon McCann einer der prominentesten republikanischen Journalisten Irlands beteiligt. Innenminister James Craig Jr. hatte den geplanten Durchmarsch durch ein protestantisches Wohnviertel untersagt, aber dieses Mal gaben die Bürgerrechtler nicht nach. Als Polizeieinheiten den Demonstrationszug angriffen, entwickelte sich eine heftige Straßenschlacht mit 80 Verletzten auf beiden Seiten. Erstmals waren Presse und Fernsehen anwesend und übertrugen die Vorfälle in alle Welt. Ein weiterer Protestmarsch in Armagh wurde mittels einer Gegendemo Paisleys verhindert, dessen Parteigänger die Region buchstäblich besetzten. Die Ereignisse zogen den Blick der Weltöffentlichkeit auf Nordirland, und die britische Labour-Regierung drängte Belfast zu Reformen.

Am 22. November 1968 kündigte O´Neill Reformen an, ohne das vollständige Programm der NICRA zu berücksichtigen. Vor allem die Einführung eines gerechten Kommunalwahlrechtes unterblieb. Immerhin: Ein Ombudsman sollte Beschwerden nachprüfen, die Vergabe öffentlicher Wohnungen wurde neu geregelt und das Mehrstimmenrecht für Firmen abgeschafft. Die Aufhebung der Notstandsgesetze wurde in Aussicht gestellt, und eine Sonderkommission sollte sich mit den Zuständen in Derry befassen. Die Reaktion der protestantischen Opposition bestand in einer verhängnisvollen Radikalisierung.

Anfang 1969 begannen Studenten und Bürgerrechtler Nordirlands den "Langen Marsch" von Belfast nach Derry. Am 4. Januar erreichten sie Derry, wo an der Burntollet Bridge unter dem Wegsehen der Polizei Anhänger Paisleys die Demonstranten attackierten. Als Antwort auf eine riesige Protestversammlung führte die RUC in der Nacht einen regelrechten Angriff auf das Katholikenviertel Bogside durch. Die Beamten waren zum Teil betrunken und randalierten in den katholischen Straßen umher. Die Bewohner flüchteten in den höhergelegenen Stadtteil Creggan, wo sich 20.000 aufgebrachte Katholiken zum Entscheidungskampf mit der Polizei zusammenfanden. John Hume konnte den Abzug der RUC aushandeln, und in der Bogside entstand eine faktische Selbstverwaltung.

Das Stadtviertel riegelte sich mit Barrikaden ab, was auch in West Belfast nachgeahmt wurde. In diesen exterritorialen Gebieten übernahmen nun Community Defence Committees die Funktion der Sicherheitsorgane. Das zentrale CDC hatte seinen Sitz in Belfast. Gemeinsam mit der Gruppe um Hume, aus der die gemäßigt nationalistische Social Democratic Labour Party SDLP hervorgehen sollte, strebten die CDC nach einer Normalisierung der Situation. Der britische Gouverneur zeigte sich so beunruhigt, daß er eine Kommission einsetzte, um die Ursachen der Unruhen zu analysieren. O´Neill gab unter dem Druck der Parteirechten der NICRA die Hauptschuld für die Eskalation in Derry und kündigte einen vermehrten Einsatz der gefürchteten Polizeireserve, der militant protestantischen USC, an.

Bei den vorgezogenen Neuwahlen in Nordirland kandidierten am 23. Februar erstmals der liberale unionistische Flügel um O´Neill und die Rechte um Craig und Brian Faulkner gegeneinander. Die Bürgerrechtsbewegung konnte drei unabhängige Kandidaten durchbringen, und auch die unionistischen Parteirebellen Craig und Faulkner wurden ins Parlament gewählt. Am 17. April 1969 setzte sich die 22jährige Bernadette Devlin als Vertreterin der nordirischen Bürgerrechtsbewegung bei einer Unterhaus-Nachwahl in Mid-Ulster gegen den unionistischen Kandidaten durch.

Am 19. April 1969 gab es in Derry bei Zusammenstößen zwischen Katholiken und Protestanten 170 Verletzte. Die Polizei besetzte strategische Punkte in der Bogside, woraufhin 4000 Bewohner vorübergehend aus dem Viertel flüchteten. Ein 42jähriger Familienvater wurde zu Tode geprügelt, wodurch die RUC sich spätestens jetzt bei der katholischen Bevölkerung vollständig diskreditierte. An der Beisetzung nahmen 30.000 Menschen teil. Auf Regierungsseite wurde erstmals der Einsatz der Armee diskutiert. Nach Anschlägen der UVF auf katholische Gegenden versorgende Elektrizitäts- und Wasserwerke mußte die USC zum Objektschutz mobilisiert werden, erwies sich aber als unzuverlässig und zu schwach. Ende April trat Terence O´Neill desillusioniert zurück, da die Regierungsmehrheit die gerade durchgesetzte Reform des Kommunalwahlrechtes ablehnte. Nachfolger wurde mit nur noch einer Stimme Vorsprung vor Faulkner der ehemalige Landwirtschaftsminister Chichester-Clark. Faulkner mußte ins Kabinett aufgenommen werden. Die neue Regierung kündigte weitere Reformen an und amnestierte politische Gefangene wie den vorübergehend inhaftierten Paisley.

Sehr bald hatte die NICRA ihr erstes Todesopfer zu verzeichnen: In Dungiven bei Derry starb Francis McCloskey, nachdem er während einer Demonstration von RUC-Beamten zusammengeschlagen wurde. McCloskey war 70 Jahre alt, sein Vergehen bestand darin, ein Katholik zu sein.

 

5. Eskalation

Am 12. August 1969 traten in Derry 15.000 Orangisten zu ihrem Traditionsmarsch durch die Innenstadt an. In diesem Jahr waren die traditionellen Märsche zur Erinnerung an die endgültige Unterwerfung des katholischen Elements anno 1689/90 besonders gut besucht, weil die Protestanten "ihr" Land nicht mit den "katholischen Staatsfeinden" teilen wollten und zudem eine irische Invasion befürchteten. Die Polizei konnte und wollte die verfeindeten Bevölkerungsgruppen nicht auseinanderhalten, und die berüchtigte dreitägige Battle of the Bogside begann. Die Orangisten scheiterten an den Barrikaden, woraufhin sich die RUC und die alarmierten Polizeireservisten mit ihnen verbrüderten und in die Kämpfe eingriffen. Insgesamt wurden 1200 Gasgranaten in die Bogside geschossen.

Die Verteidiger riefen dazu auf, zur Entlastung landesweit Polizeistationen anzugreifen. Während der schweren Unruhen übernahmen die derzeit wenigen Kader der IRA in den Katholikenvierteln Polizeifunktionen und gingen gegen Diebe und Plünderer vor. Hierzu der IRA-Aktivist Martin Meehan: "Denn wir verteidigten unsere Gebiete, während diese Typen Gesetzlosigkeit verbreiteten. Es gab einen Verhaltenskodex und die Menschen wußten, wo die Grenze verlief. Und jeder, der diese Grenze überschritt, erhielt die Antwort von der republikanischen Bewegung." Auf diese Weise okkupierte die IRA sehr bald die Funktion der Community Defence Committees.

Als Konsequenz aus den Ereignissen in Derry erklärte Irlands Premierminister Jack Lynch am nächsten Tag, nur die Wiedervereinigung sei eine Lösung für den Konflikt in Ulster. Seine Regierung werde intervenieren, wenn die Ereignisse eine bestimmte Grenze überschreiten würden. In der Tat machte Dublin seine Streitkräfte mobil. Daraufhin kam es in Belfast zu schweren Unruhen, als sich katholische Jugendliche eine Straßenschlacht mit der RUC lieferten. In der Nacht attackierten loyalistische Mobs aus der Shankill Road die Katholikenviertel Falls Road und Ardoyne. UVF-Paramilitärs, RUC und USC schossen wahllos auf katholische Häuser und warfen Brandsätze. Nachdem die Bewohner flüchteten, wurden Wohnungen und Geschäfte geplündert. Die Loyalisten brannten 120 Häuser nieder und beschädigten weitere 300 schwer. Es gab 6 Tote, darunter Gerald McAuley von der IRA-Jugendorganisation Fiánna, und 178 Verletzte. Die IRA konnte keinen Widerstand leisten, weil unter dem Einfluß der marxistischen Goulding-Gruppe die Waffenbeschaffung zugunsten der Agitation vernachlässigt wurde. In ganz Belfast standen maximal zwei Dutzend Pistolen zur Verfügung - die lokalen Einheiten waren seit dem Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger inaktiv.

Am 14. August griff auf Betreiben der nordirischen Regierung die britische Armee ein und stellte die Ordnung vordergründig wieder her. Von den Katholiken wurden die Truppen zunächst jubelnd begrüßt, da sie von ihnen im Gegensatz zur RUC Schutz vor den loyalistischen Mobs erwarten konnten. In einer stillschweigenden Übereinkunft vereinbarte man, daß die Armee sich aus den Katholikenvierteln in Belfast und Derry heraushalten sollte. Die Barrikaden um Free Derry wurden abgebaut, nur eine weiße Linie signalisierte die Grenze. In Belfast versuchte die Armee zunächst vergeblich, die verfeindeten Bevölkerungsgruppen zu trennen.

In der Downing Street Declaration vom 19. August stellte die britische Regierung klar, daß die "zeitweilige Stationierung von Truppen in Nordirland" auf der letztendlichen Zuständigkeit des Vereinigten Königreiches, also des Parlaments in Westminster, für die Unruheprovinz beruht. Die nordirische Regierung wurde aufgefordert, umgehend für ein Ende der Diskriminierung zu sorgen. London begrüßte die von Chichester-Clark angekündigten Reformen von Kommunalwahlrecht, Wohnraumvergabe, Sozialleistungen und öffentlicher Kontrolle der Verwaltung. Mit dem Eingriff und der Unterstützung für die Reformpläne beendete London seine seit 50 Jahren durchgehaltene Nichteinmischungspolitik. Die Frage war nur, ob die Regierung diese Reformen gegen ihre eigene Partei durchsetzen konnte.

Unseligerweise befand sich unter den nach Nordirland verlegten Verbänden eine verhältnismäßig große Zahl schottischer Einheiten, die eine Tendenz zur Solidarisierung mit den Protestanten besaßen. Die USC wurde aufgelöst und durch das Ulster Defence Regiment UDR ersetzt. Dieses bestand zu 97 % aus Protestanten und war teilweise mit loyalistischen Paramilitärs verflochten. Die Ausschreitungen nahmen ihren Fortlauf: Bis Monatsende wurden alleine in Belfast 1820 Familien aus ihren Häusern in mehrheitlich anderskonfessionellen Vierteln vertrieben, davon waren 82,7 % katholisch. Damit waren 5,3 % aller katholischen Haushalte Belfasts Opfer ethnischer Säuberungen. Die Zusammenstöße forderten 10 Tote, alleine bis zum 18. August wurden 514 Zivilisten (150 durch Schußwunden) und 226 Polizisten verletzt. Bis Monatsende stieg die Verletztenzahl auf 900 - Nordirland befand sich im Bürgerkrieg. Im September errichteten britische Pioniere und RUC eine sechs Fuß hohe Mauer zwischen der katholischen Falls Road und der protestantischen Shankill Road. Die bewachten Durchgänge wurden bei drohenden Unruhen geschlossen. Kurz darauf kam es zu den ersten massiven Übergriffen der britischen Armee gegen die katholische Bevölkerungsgruppe. Bei einer Razzia in West Belfast Ende September wurden zwei Katholiken, darunter ein 9jähriger Junge, erschossen. Weitere 136 Katholiken erlitten Verletzungen, davon 40 durch Schußwunden. Trotz ihrer Immunität als Unterhausabgeordnete inhaftierten die Briten Bernadette Devlin wegen Teilnahme an Krawallen in Derry.

 

Weitere Teile über die Irisch-Republikanische Armee:

Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 1 - Die Wurzeln des Nordirlandkonfliktes

Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 2 - Osteraufstand, Bürgerkrieg und Zwanziger Jahre

Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 3 - Dreißiger Jahre, Zweiter Weltkrieg und Wiederauferstehung
Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 4 - Der Weg in den Bürgerkrieg
Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 5 - Bürgerkrieg in Nordirland
Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 6 - Hungerstreik

Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 7 - Waffen und Wahlurnen

Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 8 - Der Weg zum Karfreitagsabkommen

 

Lesen Sie in diesem Zusammenhang auch:

Gewaltverzichtserklärung der Provisional IRA [von Richard Schapke]

 

 

 

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