Zeitgeschichte + Hintergründe

 

Gewaltverzichtserklärung der Provisional IRA


Verfasser: Richard Schapke, im August 2005


Die irische Untergrundorganisation Provisional IRA gab in einer viel beachteten Erklärung bekannt, dass sie den bewaffneten Kampf gegen die britische Kolonialmacht für immer einstellt, ihre Einheiten zur Abgabe der Waffen auffordern und ihr Waffenarsenal unbrauchbar machen wird. Fortan soll die irische Wiedervereinigung nur noch auf friedlichem und politischem Wege, sprich via Sinn Féin, erreicht werden. Bereits im Vorfeld hatten die Sinn Féin-Frontleute Gerry Adams und Martin McGuinness sowie der irische Parlamentsabgeordnete Martin Ferris ihre Posten im IRA Army Council niedergelegt. Ironischerweise dementierte gerade der Sinn Féin-Parteivorsitzende Adams seit Jahr und Tag, Angehöriger des IRA-Oberkommandos zu sein. Für die drei Abgänge scheinen die Brigadekommandeure von South Armagh, Tyrone und Belfast nachgerückt zu sein, um die Kontrolle der nordirischen Kompromisslerfraktion über die Gesamtorganisation sicherzustellen. Erstmals besteht der Army Council damit ausschließlich aus nordirischen IRA-Kommandeuren, davon kommen alleine 4 aus Belfast. Damit gab der bewaffnete Arm der republikanischen Bewegung der bereits im April gestellten Forderung der Parteiführung nach, die Waffen endgültig niederzulegen und beendete die Doppelstrategie „bullet and ballot box“. Erstmals seit der Teilung Irlands im Jahre 1920 haben die irischen Linksnationalisten damit einer militärischen Lösung entsagt.

John de Chastelains Entwaffnungskommission wird nun einen genauen Zeitfahrplan vorlegen. Die Unbrauchbarmachung des Waffenarsenals wird wohl im Verlauf des August beginnen und von der Chastelain-Kommission und Vertretern der katholischen und protestantischen Kirchen beaufsichtigt werden. Als vertrauensbildende Geste im Voraus setzten die britischen Behörden den vor einigen Wochen inhaftierten IRA-Aktivisten Séan Kelly wieder auf freien Fuß. Nach Bekanntgabe der IRA-Erklärung machten sich die britischen Truppen und die nordirische Polizei umgehend daran, an der Demarkationslinie zur Republik Irland eine Reihe von Stationen, Beobachtungstürmen und Wachposten abzubauen. Ferner soll die Truppenstärke in Nordirland bis 2007 auf knapp 5000 Soldaten halbiert werden, was vor allem durch die Auflösung der 3 in den Six Counties stehenden Bataillone des Royal Irish Regiment erfolgen wird. Vorgesehen ist die Schließung von 26 der 40 Armeestützpunkte, ferner sollen die Befestigungsanlagen um die Polizeistationen abgebaut werden. Abgeschafft werden sollen die berüchtigten Sondergerichte (Diplock Courts), in denen im Gegensatz zur britischen Rechtsprechung keine Geschworenen zugelassen sind und die Urteile in der Regel anhand von Aussagen aus Sicherheitskreisen zustande kommen. Weitere Debatten bewirkte die Forderung von Sinn Féin, künftig Abgeordneten der nordirischen Regionalversammlung in die Provinz betreffenden Angelegenheiten ein Rederecht im südirischen Parlament einzuräumen. Die Gewaltverzichtserklärung der Provisional IRA stärkt die Stellung von Sinn Féin. In Nordirland sind die Republikaner bereits die stärkste irisch-katholische Partei, und südlich der Demarkationslinie siedeln Umfragen sie derzeit bei 10 % der Stimmen an. Der Gewinn weiterer Sitze im irischen Parlament ist durch Nachwahlen möglich, und bei einem regulären Wahlgang hat Sinn Féin gute Chancen, als Zünglein an der Waage regierungsfähig zu werden.

Zu den Zugeständnissen Dublins könnte auch die Nichtauslieferung der Colombia Three gehören. Diese drei Aktivisten von IRA und Sinn Féin, Martin McAuley, Niall Connolly und Jim Monaghan, werden von der kolumbianischen Regierung beschuldigt, der FARC-Guerrilla Unterstützung geleistet zu haben. Nach ihrer Flucht aus Kolumbien tauchten sie unmittelbar nach Bekanntgabe der IRA-Gewaltverzichtserklärung in der Republik Irland auf. Während Interpol, die US-Regierung und Kolumbien die Auslieferung des Trios fordern, regt sich in Irland massiver Widerstand gegen einen solchen Schritt. Erwähnenswert ist die Tatsache, dass es kein Auslieferungsabkommen zwischen Dublin und Bogotá gibt; auch der Vollzug eines Interpol-Haftbefehls ist in Irland rechtlich ungeregelt. Die nordirischen Behörden kündigten derweil an, sie würden die Colombia Three bei Einreise umgehend verhaften und nach Südamerika ausliefern. In Kolumbien wurden sie in einem mehr als zweifelhaften Verfahren zu jeweils 17 Jahren Gefängnis verurteilt.

Die Erklärung des Army Council im – auszugsweisen - Wortlaut: „Die Führung der Oglaigh na hEireann hat offiziell die Beendigung des bewaffneten Kampfes angeordnet. Dies wird ab vier Uhr heute Nachmittag (17.00 MESZ) gelten. Allen IRA-Einheiten ist befohlen worden, die Waffen niederzulegen. Alle Freiwilligen sind angewiesen worden, bei der Entwicklung rein politischer und demokratischer Programme mit ausschließlich friedlichen Mitteln mitzuhelfen. Sie dürfen sich an keinerlei anderen Aktivitäten beteiligen. Die IRA-Führung hat zudem unseren Vertreter beauftragt, mit der Unabhängigen Internationalen Kommission zur Entwaffnung so schnell wie möglich die Waffen nachprüfbar unbrauchbar zu machen und das Vertrauen der Öffentlichkeit weiter zu verstärken. Wir haben zwei unabhängige Zeugen von der protestantischen und der katholischen Kirche gebeten, dies zu bezeugen. Der Rat der Armee fällte diese Entscheidungen nach einer beispiellosen internen Diskussion und Beratung mit IRA-Einheiten und Mitgliedern. (...) Das Ergebnis unserer Konsultationen zeigt den sehr hohen Rückhalt bei IRA-Mitgliedern für die Friedensstrategie von Sinn Fein. Weit verbreitet ist Sorge über das Versagen beider Regierungen sowie der Unionisten, sich voll für den Friedensprozess einzusetzen. Dies hat wirkliche Probleme geschaffen. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung von Irland unterstützt diesen Prozess völlig. Sie und alle Freunde der irischen Einigung in der ganzen Welt wollen das Karfreitags-Abkommen ganz umgesetzt sehen. Ungeachtet dieser Probleme wurden unsere Entscheidungen gefällt, um unsere republikanischen und demokratischen Zielsetzungen voran zu bringen, einschließlich unseres Ziels eines vereinigten Irland. Wir glauben, dass es nun einen alternativen Weg gibt, um dies zu erreichen und das Ende der britischen Herrschaft in unserem Land zu erreichen. Es liegt in der Verantwortung aller Freiwilligen, Führungsstärke, Entschlossenheit und Mut zu zeigen. Wir gedenken der Opfer unserer toten Patrioten, derer, die ins Gefängnis gingen, der Freiwilligen, ihrer Familien und der erweiterten republikanischen Basis. Wir bekräftigen unsere Einschätzung, dass der bewaffnete Kampf völlig gerechtfertigt war. Uns ist bewusst, dass viele Menschen in dem Konflikt gelitten haben. Auf allen Seiten besteht die zwingende Notwendigkeit, einen gerechten und dauerhaften Frieden zu errichten. (...) Die Gesellschaft hat die Verantwortung, sicherzustellen, dass sich die Pogrome von 1969 und den frühen 1970er Jahren nicht wiederholen. Zudem gibt es eine Gesamtverantwortung, gegen Sektierertum in allen Formen anzugehen. Die IRA steht voll und ganz hinter den Zielen der irischen Einheit und Unabhängigkeit und dem Aufbau der Republik gemäß der Proklamation von 1916. Wir rufen die irischen Republikaner überall zu einem Höchstmaß an Einheit und Einsatz auf. Wir sind überzeugt, dass die irischen Republikaner unsere Ziele erreichen können, wenn sie zusammenarbeiten. (...) Es gibt jetzt eine nie da gewesene Gelegenheit, die beträchtliche Energie und den vorhandenen guten Willen im Friedensprozess einzusetzen. Diese umfassende Serie beispielloser Initiativen ist unser Beitrag dazu und für die fortgesetzten Anstrengungen, der Bevölkerung von Irland Unabhängigkeit und Einheit zu bringen."

Ian Paisleys Democratic Unionist Party, die stärkste protestantische Partei Nordirlands, mauerte schon vor Bekanntgabe der IRA-Erklärung gegen jegliche Zugeständnisse, sofern das Waffenarsenal nicht nachweislich und öffentlich außer Gefecht gesetzt wird. Erst dann werde man Sinn Féin als politische Partei und Verhandlungspartner akzeptieren. Über die Waffen der protestantischen Untergrundorganisationen verlor man wie üblich kein Wort – und das, obwohl sich die Loyalist Volunteer Force und die Ulster Volunteer Force seit Wochen eine blutige Fehde liefern, die bereits zwei Todesopfer und eine Reihe von Schwerverletzten forderte. Auch der Umstand, dass die Loyalisten bis über beide Ohren in den Drogenhandel verwickelt sind, war der DUP keine Erwähnung wert. Allerdings wartet man in Dublin, London und Belfast bereits seit 1994 auf eine definitive Entwaffnung der IRA, und angesichts der Tatsache, dass die Provisionals auch in den vergangenen Jahren Freiwillige ausbildeten und neue Waffen beschafften, ist das Misstrauen zum Teil verständlich. Die Progressive Unionist Party als politischer Arm der UVF signalisierte bereits, dass eine Entwaffnung der IRA durchaus entsprechende Diskussionen bei den protestantischen Paramilitärs bewirken werde. Allerdings stellte die Ulster Defence Association als größte Loyalistenmiliz bereits klar, dass sie vorerst keinerlei Entwaffnungsschritte vornehmen werde.

Im September stehen Verhandlungen an, um die Rückkehr Nordirlands zu beschränkter Selbstregierung und die Wiedereröffnung des Regionalparlaments einzuleiten. Die Gesellschaft für bedrohte Völker meldete sich zu Wort und forderte die britische Regierung zu einer tief greifenden Reform der nordirischen Polizei auf, da diese nach wie vor teilweise mit protestantischen Untergrundgruppen verflochten sei. Protestantenparteien und Tories kritisieren die eingeleitete Entmilitarisierung und pochen darauf, dass zuerst die IRA ihre Entwaffnungszusage zu erfüllen habe. Ian Paisley als DUP-Vorsitzender erklärte, vor 2007 sei eine Rückkehr zur nordirischen Selbstverwaltung mit seiner Partei nicht zu machen.

Sollte die Entwaffnung der Provisional IRA tatsächlich vollzogen werden, so dürfte die ehemals erfolgreichste Stadtguerrilla mindestens des europäischen Kontinents sich in eine Art Veteranenorganisation verwandeln. Allerdings scheint das Vorgehen des Army Councils eigenmächtig zu sein – es fand dem Stand der Dinge nach keine Army Convention, also keine Vertretertagung der IRA-Einheiten statt, um die Entwaffnung zu sanktionieren. Die irische Polizei hält es nicht für ausgeschlossen, dass es auf einer solchen Delegiertenkonferenz massive Widerstände geben würde; Unklarheit herrscht auch über ein mögliches Abwandern von Provo-Aktivisten zur Real IRA oder zur Continuity IRA. Ein bedeutsames Problem der Führung dürfte darin liegen, das „Hooligan-Element“ an der Basis unter Kontrolle zu halten – die Einheiten auf unterer Ebene sind seit Jahrzehnten an Schutzgelderpressung, Schmuggel etc. gewöhnt und fungieren gerade in den katholischen Unterschichtvierteln de facto als Polizei. Nicht nur als Polizei, sondern auch als Schutzmacht; unter den nordirischen Katholiken ist nach wie vor die Erinnerung an die blutigen Pogrome in den späten 60er und frühen 70er Jahren lebendig. Daher rief der Army Council auch die britischen Behörden auf, im Ernstfall ihrer Verantwortung nachzukommen und die Katholiken vor loyalistischen Paramilitärs zu schützen. Kenner der Materie gehen davon aus, dass es ohnehin keine vollständige Entwaffnung geben wird: Ein Großteil der Waffenlager vor allem in der Republik Irland ist den Behörden schlichtweg unbekannt, zudem riskiert der Army Council eine offene Revolte, wenn er keine Waffen für die Selbstverteidigung der IRA-Volunteers und für den Schutz der Katholikenviertel zurückhält. Die irische Polizei geht davon aus, dass der Army Council zu seinem eigenen Schutz eine bewaffnete Kerneinheit zurückhalten wird – und um notfalls die republikanischen Dissidenten in Schach zu halten. Nach dem Militärstrafgesetzbuch der Irish Republican Army gibt es für die Auslieferung von Waffen an den Feind oder für ihre Zweckentfremdung nur eine Strafe – den Tod.

Das der nicht im Waffenstillstand befindlichen Real IRA nahe stehende 32 County Sovereignty Movement höhnte in einer Presseerklärung, die Kapitulation der Provisional IRA sei weder überraschend noch historisch. Es habe sich vielmehr um die logische Konsequenz des mit dem Waffenstillstand von 1998 betretenen Pfades gehandelt. Das 32CSM fügte hinzu, die einstmals zur Verteidigung der Souveränität der irischen Nation angetretenen Provisionals hätten diese Souveränität usurpiert und durch Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens und ihren Kompromisskurs die nationale Position verlassen – und das, während Großbritannien nach wie vor die Souveränität über Teile Irlands beansprucht und Tausende von Soldaten in der Provinz stationiert hat. Die Real IRA ließ verlauten, die Kapitulation der Provos habe keinerlei Auswirkungen für sie; man werde den bewaffneten Kampf gegen die britische Fremdherrschaft fortsetzen. Sicherheitskreise gehen davon aus, dass die RIRA derzeit über 150 Aktivisten verfügt, die vor allem in Belfast, Derry, Dublin, Dundalk und Limerick ansässig sind. Ruáiri O´Bradaigh, Vorgänger von Gerry Adams als Sinn Féin-Parteichef und nunmehr Vorsitzender der der Continuity IRA vorgeschalteten Partei Republican Sinn Féin, rief die Provisional IRA zur vollständigen Selbstauflösung auf, da sie die Prinzipien der republikanischen Bewegung verraten habe und bald eine Armee ohne Waffen sein werde. Die Provisionals befänden sich seit Jahren in einem Prozess der Absorption in das britische Herrschaftssystem und würden letztendlich die Uniform des Feindes anziehen und sich in die nordirische Polizei integrieren lassen. Vor Bekanntgabe seiner Erklärung kontaktierte der IRA Army Council auch die nationalmarxistische Irish National Liberation Army. Die INLA akzeptierte den Schritt der Provos und bekannte sich erneut zum Waffenstillstand, wird aber keine Waffen abgeben und ihre militärische Struktur intakt halten.

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Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 2 - Osteraufstand, Bürgerkrieg und Zwanziger Jahre

Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 3 - Dreißiger Jahre, Zweiter Weltkrieg und Wiederauferstehung
Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 4 - Der Weg in den Bürgerkrieg
Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 5 - Bürgerkrieg in Nordirland
Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 6 - Hungerstreik

Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 7 - Waffen und Wahlurnen

Die Irisch-Republikanische Armee: Teil 8 - Der Weg zum Karfreitagsabkommen

 

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