Zeitgeschichte + Hintergründe

 

Tod im Juni - die SA und die NS-Machtergreifung

 

Teil 2: Die braune Revolution

Verfasser: Richard Schapke, im April 2005

 

Die Regierung der nationalen Konzentration

Die NS-Bewegung befand sich im Zustand der Desorganisation und wurde von Parteirevolten erschüttert, als Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde. Das „Kabinett der nationalen Konzentration“ hatte den Charakter einer Kompromisslösung zwischen den Machtgruppen aus Wirtschaft und Politik. Neben Reichskanzler Hitler befanden sich zunächst nur zwei Nationalsozialisten, Vertreter des rechten Parteiflügels, im Kabinett: Reichsinnenminister Wilhelm Frick und Göring als Minister ohne Geschäftsbereich (und kommissarischer preußischer Innenminister). Die letzteren waren es auch, die Hitler das Konzept eines reinen Präsidialkabinetts ausredeten. Die Parteilinke wurde übergangen, wenn man einmal von der späteren Berufung des wankelmütigen Joseph Goebbels zum Propagandaminister absieht. Übergangen wurde auch SA-Stabschef Ernst Röhm, nach dem Sturz Gregor Strassers die unbestrittene Nummer Zwei der Bewegung. Als deutschnationale Frontmänner sind Vizekanzler Papen und Hugenberg, der Minister für Wirtschaft und Landwirtschaft, zu nennen. Angesichts der heterogenen Zusammensetzung der Regierung und der NS-Bewegung war der Ausbruch von Fraktionskämpfen um die elementaren Interessengegensätze innerhalb von Wirtschaft, Regierung und Parteien spätestens nach Sicherung der Macht unausweichlich.

Bei der „Machtergreifung“ war kein verbindliches innen- wie wirtschaftspolitisches Konzept vorhanden, zudem hatte Hitler die Reichsorganisationsleitung zerschlagen – um die Kontrolle der Partei rivalisierten nun Robert Ley als Stabschef der ROL und Rudolf Heß als Chef der Politischen Zentralkommission. Die Führungsverhältnisse wurden noch weiter kompliziert, da Hitler eine Handvoll Spitzenfunktionäre zu „Reichsleitern“ mit unklaren Kompetenzen berief. In dieser Situation machten die Parteigliederungen und Gauleiter, was sie wollten. Auch die SA hatte kein Konzept, ihre Unterführer strebten zunächst nach Vergrößerung ihrer Einheiten zwecks Ausweitung ihrer Machtbasis. Die Gelegenheit hierzu war günstig, da der Vollzug der Machtsicherung eine Hauptaufgabe der SA wurde. Vor allem nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 setzte der Großangriff der radikalisierten Basis und der unkontrollierten Unterführer auf Länder- und Kommunalregierungen sowie auf sämtliche Organisationen und Institutionen des öffentlichen Lebens ein – die braune Revolution hatte begonnen.

Göring stellte am 22. März seine preußische Hilfspolizei aus SA, SS und Stahlhelm auf und säuberte die reguläre Polizei, republiktreue Polizeipräsidenten wurden zumeist durch SA-Führer ersetzt. Röhm avancierte zum Ministerialkommissar für die Hilfspolizei und konnte einen Stellvertreter im preußischen Innenministerium unterbringen. In Preußen, den gleichgeschalteten Ländern und auf kommunaler Ebene entstand ein Netz von SA-Sonderkommissaren, die sich in eine Mittlerrolle zwischen Partei und Verwaltung hineinzudrängen suchten. Beauftragte Röhms vertraten bei Ländern, Kreisen und Bezirken die Interessen der SA. Die Gewaltexzesse gegen politische Gegner erfolgten mit Billigung des Stabschefs. Auch gegen die Einrichtung von Konzentrationslagern hatte er nichts einzuwenden und deckte sogar die Morde der aufsteigenden SS. Die Parteiarmee operierte gegen Marxismus und Reaktion, es wurde also nicht nur gegen die Linke vorgegangen. Angriffsziele waren ebenso Kapitalisten, Banken, Börsen, Industrie- und Handelskammern, Kaufhäuser, Großgrundbesitzer bzw. örtliche Reizfiguren, wobei es zu engem Zusammenwirken mit der NSBO kam. Bereits fünf Tage nach der Reichstagswahl untersagte Hitler im Interesse der hinter dem Kabinett stehenden Wirtschaftskreise alle eigenmächtigen Aktionen des „Nationalsozialismus von unten“ gegen Wirtschaftsunternehmen – doch dieser Befehl wurde wie viele andere konsequent ignoriert.

Das Selbstbewusstsein der SA-Kommandeure war verständlich: Bald kommandierte der Berliner SA-Chef Karl Ernst 250.000 Mann – zweieinhalb mal so viele wie die Reichswehr an Soldaten zählte! Zwischen Januar und Sommer 1933 wuchs die Parteiarmee von 300.000 auf 700.000 Mann an, durch den Massenzulauf und die Übernahme des Stahlhelms steigerte sich das Wachstum immer weiter. Folgen waren ideologische Aufweichung und in vielen Einheiten eine antikapitalistische Radikalisierung. Der Anteil der Parteimitglieder ging dramatisch zurück: 1934 lag ihr Anteil nur noch bei 25 %. Entgegen der Satzung wurden Tausende ohne Parteibuch aufgenommen, darunter auch viele ehemalige Aktivisten des kommunistischen „Kampfbundes gegen den Faschismus“ und des Reichsbanners. Der Anteil linker Parteimitglieder scheint den wenigen vorliegenden Untersuchungen zufolge jedoch nur bei 1-2 % gelegen zu haben. Allerdings war die SA ebenso wie die NSBO für unorganisierte Kommunisten aus dem Umfeld von Kampfbund und Revolutionärer Gewerkschaftsopposition sowie für andere Linke attraktiv, was für das Ruhrgebiet, Bayern und Berlin als belegt angesehen werden kann. Röhm und seine Unterführer bauten die SA ohne Rücksichten aus, um das Massenheer dann als politisches Druckmittel gegen PO und Verwaltung einzusetzen. Die Neuzugänge wie die Alten Kämpfer hofften natürlich auf die Besserung ihrer oftmals katastrophalen sozialen Situation. Vorher konnte man die Braunhemden darauf vertrösten, Hitler würde es nach Machtergreifung schon richten; mit der prokapitalistischen Politik nach der Regierungsübernahme entfiel diese Hoffnung. Das Führerkorps wurde von der Radikalisierung erfasst: Es war natürlich bestrebt, sich die Gunst der radikalisierten Basis zu erhalten und strebte soziale Verbesserungen an. Somit war die Kollision mit der eigentlich hierfür zuständigen PO, der Verwaltung und der Wirtschaft vorprogrammiert.


Der Konflikt mit der PO beginnt

Hitler und die Reichsregierung, teilweise auch die Länderregierungen, hatten jegliche Kontrolle über die Gauleiter und Parteigliederungen verloren, das Ergebnis war der von der Parteiführung ungewollte Großangriff der Bewegung auf Wirtschaftsverbände, Kommunalverwaltungen, öffentlichen Dienst, Gewerkschaften, Sozialversicherungssysteme, Landesregierungen usw. Höhne nennt die Bewegung sehr treffend eine „amorphe Masse von unterschiedlichsten Interessen- und Personengruppen, die nur mit äußerster Mühe von einer schwachen Reichsleitung gesteuert wurde.“ In Deutschland herrschten chaotische Zustände, da sich die chronischen Machtkämpfe innerhalb der Bewegung nun auf höherer Ebene fortsetzen konnten. Beispielsweise standen die Länder-Ministerpräsidenten oftmals in erbittertem Konflikt mit den Reichsstatthaltern und Gauleitern, dazwischen operierten noch Massenorganisationen wie NSBO, Arbeitsfront oder SA. Gerade der Radikalismus der SA und der ohnehin in der PO als verkappt marxistisch angesehenen NSBO provozierte – aus verschiedenen Gründen – den Widerstand der in die lokalen, kommunalen und regionalen Verwaltungen aufrückenden PO-Kader. Teile der PO und die jetzt in die Partei hineinströmenden Märzgefallenen aus Funktionseliten und Verwaltung entwickelten sehr bald Bündnistendenzen, um die Konkurrenz der zu kurz gekommenen Parteilinken loszuwerden und den Druck der Unterschichten einzudämmen. Der mittlerweile zum preußischen Ministerpräsidenten aufgestiegene Göring und Reichsinnenminister Frick strebten zudem eher nach einer „aufgeklärten Diktatur“ im Einvernehmen mit den alten Funktionseliten. Hier war ihnen das Netzwerk der SA-Kommissare im Wege - der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan.

Röhm ignorierte die Proteste und kritisierte, regelrecht von Hass beseelt, die Korruption und Versorgungsmentalität der Parteifunktionäre und Gauleiter sowie die autoritäre Führung von Partei und Staat. Anlässlich des berüchtigten Judenboykottes vom 1. April 1933 sprach der SA-Chef sich gegen das Rassenprinzip aus und verlangte „lediglich“ die Ausweisung der seit 1918 zugewanderten Ostjuden. Die übrigen Juden sollten im öffentlichen Leben einer Quotenregelung unterworfen werden, von der Frontkämpfer auszunehmen waren. Verwundete und Träger von Auszeichnungen sollten gleichberechtigt sein. In Röhms Konzeption fungierte die SA als Verkörperung der Revolution und als ihre Garantin, als Aufsichts- und Koordinationsgremium zwischen Partei und Staat. In seinen Augen konnte nur die SA in einer solchen Mittlerrolle das Funktionieren des Neuen Staates garantieren. Er sah die Fehlentwicklungen, übte Kritik an Hitlers Paktieren mit Industriekapitänen, Reichswehr und Beamtentum. Die NS-Bewegung habe lediglich die Führungspositionen des Staates besetzen können, während sich bewegungsfremde Elemente in die anderen Ebenen hineingedrängt hatten. Einerseits bekräftigte Röhm das Führerprinzip und dessen Durchsetzung durch die SA, aber andererseits gibt es die Worte: „Besonders deshalb, weil sie in sich den Ausdruck der wahrsten Volksgemeinschaft verkörpert, sich frei von Persönlichkeitsfragen gehalten hat und halten wird.“ Der Stabschef war sich offensichtlich nicht ganz sicher, was Vorrang hatte: Das Führerprinzip oder die Revolution; eine Frage, welche Otto Strasser schon 1930 beantwortet hatte. Die SA-Führung erkannte die Autorität von Staat und Regierung in Reich und Ländern sowie der Reichsstatthalter an. Durch die Umsetzung ihrer Beschlüsse sollten SA und SS den „bestimmenden freien Willen“ Hitlers sichern. „Sie gewährleisten: Sicherung und Reinhaltung der Revolution, Erziehung des Volkes zur Volksgemeinschaft, sofortigen und restlosen Vollzug der erlassenen Gesetze.“ Shlomo Aronson weist nicht zu Unrecht auf die Ähnlichkeiten der Röhmschen Konzeption mit den militanten Roten Garden der maoistischen Kulturrevolution hin. Die SA musste so zwangsläufig in Konflikt mit Verwaltung, Wirtschaft, PO, Gauleitern und Regierungen geraten; nicht zuletzt deshalb, weil die Kommissare keine eindeutigen Befugnisse hatten.

Röhm strebte verzweifelt nach staatlicher Finanzierung der SA, denn die reichlich fließenden Industriespenden gibt es nur in der Phantasie einiger Historiker. Bis Sommer 1933 kamen nur 860.084 Reichsmark und 61 Pfennig herein (zu mehr als 50 % von der IG Farben). Im Mai 1933 konnte der Stabschef immerhin eine gewisse Kofinanzierung der finanziell stets Not leidenden SA durch das Reichsinnenministerium durchsetzen – sie sollte bis Januar 1934 21 Millionen Reichsmark erhalten. Spätestens im Sommer 1933 trat der IG Farben-Manager Heinrich Gattineau dem Beraterstab der Obersten SA-Führung als Wirtschaftsberater bei. Chef des wirtschaftlichen Beraterstabes war Erich Lübbert, ein vom Stahlhelm kommender Strasser-Konfident und Manager der Bau- und Verkehrsindustrie. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Röhm zu den Hauptfürsprechern des Benzinvertrages mit der IG Farben vom Dezember 1933 gehörte.


Die Zweite Revolution

Am 30. Mai 1933 ergingen mehrere Verfügungen Röhms: „Der Feste sind genug gefeiert“. SA und SS sollten sich wieder deutlicher von der Dauerfolge der braunen Selbstbeweihräucherung absetzen und sich den ihnen ausschließlich vorbehaltenen Aufgaben widmen. „Es gibt solche, die die Siege erfechten, das sind die Soldaten, und solche, die Siege feiern und sich feiern lassen, das sind die Anderen.“ Die Sonderkommissare wurden darauf festgelegt, die Interessen der SA zu wahren, ebenso die SA-Polizeipräsidenten und die Hilfspolizei. Zwar schloss Röhm mit einem flammenden Bekenntnis zu Hitler als OSAF, aber den Erlass begleitete ein vertrauliches Begleitschreiben an die Unterführer. Nach großen Revolutionen trete nach der ersten Welle eine Phase der Stagnation ein. Die SA als kämpfende Truppe der Revolution müsse diese Stagnation überwinden. Die Rolle einer reinen Propagandatruppe wurde klar zurückgewiesen, man müsse dem soldatischen Prinzip wieder zum Durchbruch verhelfen. „Noch in diesem Jahr“ würden der SA „besondere“ Aufgaben bevorstehen. Hitler sollte zu jeder Zeit über die Garde der Revolution verfügen können, und das Führerkorps hatte für die Bereitschaft zu sorgen. Zugleich ging ein Brief an Reichsschatzmeister Schwarz und ROL-Stabschef Ley ab. Röhm warnte davor, sich Täuschungen hinzugeben. Die Stimmung der SA-Basis sei „ernst und verbittert“ angesichts des Aufstiegs von PO und SS in Verwaltung bzw. Polizei. Viele Braunhemden hatten das Gefühl, nach dem von ihnen erkämpften Sieg zur Seite geschoben zu werden. Vor allem die Gauleiter hätten jedes Augenmaß für die Stimmung an der Basis verloren. Wie viele Exponenten der „systemimmanenten Opposition“ war Röhm dem verhängnisvollen Irrglauben verfallen, Hitler stehe lediglich unter dem Einfluss schlechter Ratgeber.

Der Stabschef meldete sich ferner in der Juni-Ausgabe der NS-Monatshefte mit dem Aufsatz „SA und deutsche Revolution“ zu Wort. „Im neuen Deutschland“ stünden die „disziplinierten braunen Sturmbataillone der deutschen Revolution“ Seite an Seite mit der bewaffneten Macht, aber „nicht als ein Teil von ihr“. Die Reichswehr habe ihre Aufgaben, nämlich „Verteidigung der Grenzen des Reiches, soweit ihre geringe Zahl und völlig unzureichende Bewaffnung sie dazu befähigt“. Die Polizei wiederum solle „die Rechtsbrecher niederhalten“. Neben Polizei und Reichswehr stünden als dritter Machtfaktor mit „besonderen Aufgaben“ die SA und SS – die Rangfolge der drei Pfeiler des Regimes blieb völlig offen. Man bedürfe der SA und der SS bedürfe man bei dem „gewaltigen Werke der deutschen Erneuerung“. Es folgte die offene Kampfansage an die Realität des „Dritten Reiches“. SA und SS wurden zum Grundpfeiler des „kommenden“ (!) nationalsozialistischen Staates erklärt. „Ein gewaltiger Sieg ist errungen – nicht der Sieg schlechthin. Nicht der Tatsachenverlauf vom 30. Januar bis 31. März 1933 stellt Sinn und Wesen der deutschen nationalsozialistischen Revolution dar. Wer nur Weggenosse sein wollte bei flammenden Fackelzügen und imposanten Aufmärschen, bei rasselnden Trommeln und dröhnenden Pauken, bei schmetternden Fanfaren und unter wehenden Standarten und Fahnen und nun glaubt, die deutsche Revolution mitgemacht zu haben, der gehe heim; er verwechselt die „nationale Erhebung“ mit der deutschen Revolution. Darum sei jenen, die, Parteigenossen oder gleichgeschaltet, sich hurtig und beflissen in die Sessel des neuen Deutschlands gesetzt haben oder von früher darin sitzen geblieben sind, und die nun meinen, es sei doch alles in schönster Ordnung und mit der Revolution müsse nun endlich einmal Ruhe sein, ganz kalt und leidenschaftslos gesagt: Dieses Ziel ist noch lange nicht erreicht und solange das wirkliche nationalsozialistische Deutschland noch der Erfüllung harrt, hört der erbitterte, leidenschaftliche Kampf der SA und SS nicht auf. Deshalb werden SA und SS nicht dulden, dass die deutsche Revolution einschläft oder auf halbem Wege von den Nichtkämpfern verraten wird. Nicht um ihretwillen, sondern um Deutschlands Willen. Denn die braune Armee ist das letzte Bollwerk der Nation, das letzte Bollwerk gegen den Bolschewismus. Wenn die Spießerseelen meinen, dass die nationale Revolution schon zu lange dauert, so pflichten wir ihnen hierin ausnahmsweise gern bei: Es ist in der Tat hohe Zeit, dass die nationale Revolution aufhört und dass daraus die nationalsozialistische Revolution wird! Ob es ihnen passt oder nicht – wir werden unseren Kampf weiterführen. Wenn sie endlich begreifen, um was es geht: mit ihnen! Wenn sie nicht wollen: ohne sie! Und wenn es sein muss: Gegen sie!

Des Stabschefs Problem bestand darin, dass sein Revolutionsbegriff unter einem Mangel an politischen Inhalten litt. Die „deutsche Revolution“ war für ihn die Fortsetzung des SA-Aktionismus, des Anrennens der Kämpfer, der politischen Soldaten, gegen die bürgerliche Gesellschaft. Für Röhm kam dem Soldaten der Vorrang vor dem Politiker zu - der politische Soldat sollte Staat und Gesellschaft führen. In jedem Falle machte Ernst Röhm durch seinen öffentlichen Ausbruch klar, dass man sich in ihm täuschte. In der Tat lag ihm die Rolle eines passiven Befehlsempfängers noch nie, schon in Weltkrieg und Wehrverbandsszene zeichnete er sich durch einen ausgeprägten Widerspruchsgeist aus.

Heinz Höhne: „Die Helfer Hitlers entdeckten jedoch bald, dass dies mitnichten die nationalsozialistische Revolution war, die sie in langen Jahren des Kampfes erträumt hatten. Das hier war eine nationale Revolution, will sagen: die Revolution einer Koalition von Nazis und Konservativen, woran auch das Verschwinden der konservativen Parteien nichts änderte. Das hieß konkret: kein Ende des „jüdischen“ Kapitalismus, kein Umsturz der bürgerlichen Ordnung, kein nationaler Sozialismus. (...) Rasch kam die Parole auf, die nationale Revolution sei zu wenig, ihr müsse endlich eine zweite, eine richtige Revolution folgen: die des Nationalsozialismus. Erst waren es ein paar arbeitslose Altnazis, die so dachten, dann kamen andere hinzu, die unzufrieden waren: die Führer der NSBO, die sich in den Betrieben bei ihrer antikapitalistischen Arbeit behindert fühlten, die Ideologen des Kampfbundes des gewerblichen Mittelstandes, die sich in ihrem Kreuzzug gegen Großindustrie und Genossenschaftswesen hintergangen fühlten, dazu „sozialistische“ SA-Führer und der ganze diffuse Haufen aus dem alten Lager von Gregor und Otto Strasser, der sich die Herrschaft ihrer Partei so nicht vorgestellt hatte. Die zweite Revolution – das Schlagwort zündete bei allen, die nie aufgehört hatten, den Staat, in welcher Form auch immer, zu bekämpfen. Ein wunderlicher Anblick: die braunen Habenichtse machten mobil gegen einen Staat, dessen Schlüsselstellungen die glücklicheren und schnelleren Parteigenossen soeben erst besetzt hatten.“ Die Herkunft des Begriffes der Zweiten Revolution ist unklar, Gossweiler vermutet, er sei von Strasseristen in Umlauf gesetzt und von der SA und NSBO aufgegriffen worden. Möglich ist übrigens auch die Herkunft aus der Betriebszellenorganisation, die schon im April 1933 angesichts staatlichen Eingreifens zugunsten reaktionärer Betriebsführer die Parole ausgab: „Die Revolution ist tot! Es lebe die Revolution!“ Heinrich Bennecke, immerhin damals Leiter des SA-Hochschulamtes, formuliert: „Aus der SA kam der Ruf nach einer zweiten Revolution nicht etwa, weil die SA-Führer sich intensiver mit den Parteigrundsätzen beschäftigt hatten, sondern weil für Hunderttausende noch arbeitsloser SA-Männer tatsächlich schwerwiegende soziale Probleme zu lösen waren.

Die Antwort besteht in einer Kampagne der Parteirechten, eröffnet durch den Abdruck einer Hitler-Rede im „Völkischen Beobachter“: „Die Ideen unseres Programms verpflichten uns nicht, wie Narren zu handeln und alles umzuwerfen, sondern klug und vorsichtig unsere Gedankenwelt zu verwirklichen.“ Am 6. Juli 1933 wies Hitler alle Reichsstatthalter und höheren SA-Führer in der Reichskanzlei an, die Revolution in eine Evolution zu transformieren. Der Erringung der äußeren Macht müsse die innere Erziehung der Menschen folgen. man müsse sich hüten, rein formale Entscheidungen überstürzt zu fällen und sie als endgültige Lösungen anzusehen. „Die Revolution ist kein permanenter Zustand, sie darf sich nicht zu einem Dauerzustand ausbilden. Man muss den freigewordenen Strom der Revolution in das sichere Bett der Evolution hinüberleiten. Die Erziehung der Menschen ist dabei das wichtigste.“ Das NS-Parteiprogramm verpflichte nicht zu Radikalismus, sondern dazu, „klug und vorsichtig unsere Gedankengänge zu verwirklichen“. An die Parteistellen erging Anweisung, sich aus den Verwaltungs- und Regierungsangelegenheiten herauszuhalten. „Alle Macht liegt bei der Reichsgewalt.“ Die Autorität komme ausschließlich aus dem durch das Reich verkörperten Volk und nicht aus irgendwelchen Organisationen – der eigentliche Totenschein der NSDAP, ausgestellt durch ihren „Führer“. In einer zweiten Reichsstatthalterkonferenz präzisierte Hitler: Es gab kein revolutionäres, nationalsozialistisches Ziel in Deutschland mehr. Die Partei hatte sehr bald nur noch auf kommunaler Ebene mitzureden, die Landesregierungen und die Reichsregierung funktionierten ohne sie. Hitler bekämpfte jeden Versuch der Bewegung, Eigenständigkeit zu wahren: Senatsgedanke, Gauleitertagungen, Organisation der Alten Kämpfer – allesamt verboten.

Frick erklärte sämtliche Bestrebungen nach einer Zweiten Revolution am 11. Juli per Rundschreiben zur Sabotage, auch Heß stellte sich deutlich gegen radikale Bestrebungen. Die NSBO wurde Zielscheibe heftiger Attacken durch den wieder einmal seine innere Überzeugung verratenden Goebbels, und der NS-Gewerkschaft wurde durch Ley jegliches Recht auf wirtschaftliche oder sozialpolitische Aufgaben abgesprochen. Mitte Juli erging sich der Propagandaminister in Drohungen gegen die „getarnten bolschewistischen Elemente“, die von einer Zweiten Revolution sprachen „in einem Zeitpunkt, in dem das Volk und die Nation sich eben anschicken, die Ergebnisse unserer Revolution für das nächste Jahrhundert zu sichern und auszubauen“. Aber auch weiterhin gingen bei den Länderinnenministerien und bei Frick Berichte über Übergriffe der SA ein. Röhm steuerte Ende Juli mit einem Verbot eigenmächtiger Aktionen und unwürdigen Verhaltens gegen, das von der immer mehr anschwellenden und kaum noch kontrollierbaren Massenorganisation ignoriert wurde. Der Stabschef versuchte, die Unzufriedenheit mit Massenaufmärschen zu kanalisieren. Dennoch steigerte er die Unruhe noch weiter, da er ein Gefangener seines politischen Ehrgeizes war. Eine Kluft tat sich auf zwischen SA und Partei, aber das Führerkorps war ohnehin an dauernde Auseinandersetzungen mit der P-Null gewöhnt. Höhne: „Die Masse der Parteifunktionäre aber galt dem antidemokratischen Verständnis der SA-Führer als ebenso korrupt und egoistisch wie alle anderen Politiker der Republik; kein echter SA-Führer traute den PO-Männern. Und man hatte ja auch einigen Anlass, sie zu beargwöhnen: Schon hatte die Partei Abstriche von ihrem „sozialistischen“ Programm gemacht, hatte sich Hitler auf die Allianz mit den konservativen Mächten eingestellt.

Bei dem Konflikt zwischen Partei und SA handelte es sich auch um ein Generationsproblem. In der NSDAP dominierte nach wie vor die Kriegsgeneration, während in der SA das Gros der Aktivisten unter 25 war. In Berlin waren 70 % der SA-Männer jünger als 26 und fast 90 % jünger als 30 Jahre. Mehr als 40 % der SA-Leute entstammten der Arbeiterklasse, beinahe 10 Prozentpunkte mehr als in der Partei. Ein Drittel wuchs in Armut auf, ein Sechstel als Halbwaisen, zwei Drittel verloren in der Weltwirtschaftskrise Arbeitsplatz oder Geschäft. Die Brennpunkte des Konfliktes wurden vor allem Preußen und Bayern, wo Ministerpräsident Ludwig Siebert und Innenminister Adolf Wagner, Gauleiter Münchens, bald gegen Röhm und den Einfluss der SA zu Felde zogen. Bis Herbst stoppten sie den Angriff der SA-Kommissare auf die bayrische Verwaltung. Als Partner boten sich Reichsführer-SS Heinrich Himmler, Kurt Daluege und SD-Chef Reinhard Heydrich an, die nach und nach die Polizei der Länder unter ihre Kontrolle brachten. Da die SA ebenfalls nach dem Zugriff auf die Polizei strebte, entstand hier ein neuer Konfliktherd.


Das Regime in der Krise

Entgegen der weit verbreiteten Legende kann kaum von einem raschen Wirtschaftswunder nach der Machtergreifung gesprochen werden. Zur Jahreswende 1933/34 waren nach wie vor 4 Millionen Arbeitslose registriert, ein großer Teil des Zahlenrückganges war zudem auf statistische Manipulationen zurückzuführen. Die Löhne lagen nach wie vor auf dem Niveau des Tiefstjahres 1932, weiterhin bestanden Versorgungs- und Ernährungsmängel bei den ländlichen wie städtischen Unterschichten. Die zusätzlichen Sozialleistungsangebote von DAF, KdF und NSV befanden sich erst im Aufbau. Hinzu kam eine die Öffentlichkeit verunsichernde Devisenkrise (Inflationstrauma!). Die Exporte schrumpften dramatisch, die Konsumgüterindustrie musste infolge geringer Inlandskaufkraft zu Kurzarbeit und Entlassungen greifen, infolge der Devisenknappheit auftretender Rohstoffmangel drosselte die Exportproduktion. Die Vertrauensrätewahlen waren ein Desaster für die NSBO, die unter Zusammenrechnung von Gegenstimmen und Wahlenthaltungen nur von 25 % der Arbeitnehmer gewählt wurde. Außer der nackten Gewalt konnte das Hitler-Regime bislang kaum eine integrierende Wirkung auf die Industriearbeiterschaft ausüben. Das im Einvernehmen mit der Schwerindustrie ausgearbeitete „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ bevorteilte einseitig die Unternehmer und sorgte für weitere Frustration nicht nur bei den Arbeiternehmern, sondern auch bei der Parteilinken. Gerade in der NSBO herrschte noch starker ein starker Einfluss links-nationalsozialistischer Einstellungen vor. Spätestens seit Januar 1934 stand die Organisation unter Überwachung durch die Gestapo II E 1 („Wirtschaftspolitik, Werkssabotage, Zersetzungserscheinungen in der NSBO, Agrarpolitik“). Mehrere erhalten gebliebene Berichte der Gestapo bzw. der Politischen Polizei warnten vor dem Heranwachsen einer „marxistischen“ Funktionärsschicht in der NSBO. Die NS-Gewerkschaft gerate „teilweise nach und nach in ein staatsgefährdendes Fahrwasser“ und verdiene besondere Aufmerksamkeit. Die großen Zeiten der NSBO waren zu diesem Zeitpunkt bereits vorbei, denn schon am 12. September 1933 kam ihr Leiter Reinhold Muchow bei einem bis heute nicht aufgeklärten „Schießunfall“ ums Leben – der erste einer ganzen Reihe dubioser „Unglücksfälle“ in der Geschichte des Dritten Reiches.

Infolge der Organisationsstruktur der Bewegung standen die vor allem von der Arbeitslosigkeit betroffenen Jungarbeitnehmer in den Reihen der SA. In Gleiwitz waren 100 % der SA-Angehörigen arbeitslos! Die Moral der NS-Basis (vor allem in SA, NSBO, DAF und HJ) war am Boden. Hier braute sich ein gefährliches sozialrevolutionäres Potenzial zusammen, das, verstärkt durch die Überläufer aus ehemaligen linken Organisationen, durch kommunistische und sozialistische Untergrundtätigkeit weiter angeheizt wurde. Der Druck von unten radikalisierte auch die SA-Führer, die den Unmut in Bahnen lenken mussten, um nicht selbst die Kontrolle zu verlieren. Im Dezember 1933 erhielt der Kommunist Ernst Torgler nach seinem Freispruch im Reichstagsbrandprozess hohen Besuch: Berlins SA-Chef Karl Ernst erschien in seiner Zelle, um mit einer Flasche Sekt auf die gute Nachricht anzustoßen. Ernst: „Sie wollen den Sozialismus, und wir wollen ihn auch.

Mitte Dezember deutete sich eine gewisse Umorientierung des Propagandaministeriums an. Im Berliner Sportpalast sprach Goebbels über „Jugend für deutschen Sozialismus: „Der Sozialismus ist nicht etwa eine überwundene Angelegenheit, kein Aushängeschild und kein Paradepferd, das wir ritten, als wir um die Macht kämpften, um dann von diesem Paradepferd herabzusteigen, da wir in die Macht hineingekommen sind. Der Sozialismus ist eine Überzeugung, die einen ganzen Menschen ausfüllt und die gar nichts mehr mit bürgerlichen Vorurteilen zu tun hat. Das Bürgertum witterte schon ganz richtig, wenn es gerade an dieser Stelle unserer Anschauung besondere Kritik anlegte. Denn da sind wir anders, da sind wir härter, und da liegt auch das Unterpfand unseres Sieges, und da liegt auch, auf die Jetztzeit übertragen, das Unterpfand unserer Beständigkeit." Allerdings verfolgte Goebbels nach wie vor einen zwiespältigen Kurs – zur gleichen Zeit intrigierte er gegen DAF-Chef Ley, den er gewerkschaftlicher und klassenkämpferischer Tendenzen verdächtigte.

Höhne: „Die SA-Parolen blieben auch nicht ohne Widerhall in Bevölkerungsschichten, die vom Hitler-Regime enttäuscht waren. Tausende von Kleinhändlern, bei Wahlen stets treue Anhänger der Partei, artikulierten Missmut und Enttäuschung, weil sie sich von der Regierung in ihrem Kampf gegen Großindustrie und Warenhäuser verraten fühlten, unzählige Bauern begehrten gegen die von Berlin verordnete Zwangsbewirtschaftung auf, und Millionen von Arbeitern fühlten sich in ihrem Vorurteil bestätigt, Nazi-Herrschaft bedeute nichts anderes als Herrschaft des Großkapitals.

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