Zeitgeschichte + Hintergründe

 

Johann Gottlieb Fichte   (1762 - 1814)

aus Rammenau (Oberlausitz)

 

studierte zuerst Theologie, dann Philosophie

Seine ersten Schriften noch ganz im Rahmen der Aufklärung

1792                “Versuch einer Kritik aller Offenbarung”

1793                “Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die sie bisher unterdrückt haben.”

1793                “Beiträge zu einer Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution.”

1793                Professor in Jena, 1799 entlassen

ab 1794           seine Hauptwerke über “Wissenschaftslehre” wie er die Philosophie nennt

1806                “Anweisungen zum seligen Leben”

 

Politische Schriften

1810                “Der geschlossene Handelsstaat” (Staatssozialismus)

1812                “Rechtslehre”, mit Ergänzungen von 1813. Nur der Staat hat Recht auf Grundeigentum.

Ab 1806          stellte er sich in den Dienst der Erhebung gegen Napoleon.

1807                “Der Patriotismus und sein Gegenteil”: für Volksbewaffnung.

1807/1808     “Reden an die deutsche Nation” an der “Akademie der Wissenschaften” in Berlin.

 

Geschichtsphilosophie

1800                “Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters”

 

Fichtes Herkunft und Anfänge

Fichte war die “Entdeckung” eines Freiherrn von Miltitz, der die Rammenauer Kirche oft zum Gottesdienst besuchte, einmal zu spät kam und die Predigt nicht mehr hören konnte. Man verwies ihn an einen Jungen, der die Gänse hütete und für sein gutes Gedächtnis bekannt war. Dieser konnte ihm zu seinem Erstaunen die ganze Predigt haargenau wiederholen. Miltitz brachte den jungen Fichte an die Fürstenschule in Meißen, dann nach Schulpforta.

Auf der Schule wählte sich Fichte den Vers von Horaz:

                “Si fractus illabatur orbis impavidum ferient ruinae”

                “Wenn die Welt zerschlagen zusammenstürzt, werden die Ruinen den Unerschrockenen tragen.”

als Wahlspruch.

Miltitz ermöglichte ihm auch sein Studium. Als der Gönner gestorben war, schlug sich Fichte kümmerlich durch. Um eine Stelle als Hauslehrer anzutreten, wanderte er zu Fuß nach Zürich.

In Zürich wurde Fichte durch Lavater bekannt mit dem Waagemeister Hartmann Rahn, der mit einer Schwester Klopstocks verheiratet war. Rahns Tochter Johanna wurde Fichtes Braut, Rahns Haus war in Zürich ein Zentrum geistigen Lebens.

Nachdem 1791 sein Schwiegervater Rahn bankrott gemacht hatte, ging Fichte nach Warschau, um für den Sohn des Grafen Platen Hauslehrer zu werden. Nicht nur dieser Plan zerschlug sich (die Gräfin meinte, Fichtes Französisch wäre nicht gut genug), ebenso wurde Fichte der Zugang zu einem Predigeramt in Sachsen wegen seiner freireligiösen Anschauungen verweigert.

Von Warschau aus ging Fichte nach Königsberg, um Kant zu besuchen. Er hatte sich mit Kant befassen müssen, als er einem Studenten Privatstunden gab, und dieser ihn nach Kant fragte. Fichte war schnell begeistert.

Um Kant für sich zu interessieren, schrieb er 1792 in wenigen Tagen “Versuch einer Kritik aller Offenbarung”. Die Schrift erschien anonym, der Druck wurde von Kant ermöglicht, darum wurde sie irrtümlicherweise  (vielleicht auch eine Buchhändlerspekulation?) für ein erwartetes Werk Kants gehalten. Als Kant den Irrtum aufgeklärt hatte, war Fichte gleichsam über Nacht ein berühmter Mann geworden.

1793 war Fichte wieder in Zürich und heiratete Johanna Rahn. Auch die Lage ihres Vaters hatte sich gebessert. Fichte plante in Zürich als Schriftsteller zu leben. Da wurde er als Professor nach Jena berufen, obwohl seine positive Einstellung zur französischen Revolution bekannt war. Auch Goethe hatte ihn trotzdem für geeignet erklärt. Geheimrat Voigt meinte - und der Herzog dachte ähnlich -, Fichtes “demokratische Phantasterei werde sich mäßigen.

 

Der “Atheismus-Streit”

1798 veröffentlichte Fichte in seinem “Philosophischen Journal” einen Aufsatz des Schulrektors Forberg:

“Entwicklung des Begriffes der Religion”

und schrieb dazu eine Einleitung

“über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung”

Fichte beendete diese Abhandlung, wie Mauthner schreibt,

“um sich und seinem Journal den Magen warm zu halten mit den deistischen

Glaubensbekenntnissen zweier ‘vortrefflicher Dichter’ Goethe und Schiller!”

Fichtes Einleitung war gemäßigt im Gegensatz zu Forbergs Aufsatz, den Fichte zuerst zögerte, zu veröffentlichen.

 

Fichtes Einleitung:

In dieser dachte er darüber nach, ob es dem Glauben zuträglich sei, wenn die Religion und ihre Repräsentanten mit dem Prinzip von Lohn und Strafe arbeiteten. Wer einem strengen strafenden Gott das Wort rede, habe allenfalls das Verdienst, mangelhaften “Polizeyanstalten nachzuhelfen”.

Der Herzog Carl August drängte Goethe, Fichte und andere “Schäkers”, “die uns  die Universität ruinieren” zu ermahnen.

Der vorsichtige Herzog hätte die Frage gerne diplomatisch gelöst. Das wurde durch einen “Drohbrief” Fichtes verhindert. Die gute Gesellschaft Weimars und auch die anderen kleinen sächsischen Fürstentümer stellten sich gegen Fichte. Man nannte ihn einen “Ketzer einer ganz neuen Gattung”.

Auch Schiller, der 1795 Fichte vor Goethe gewarnt hatte:

“Der kann nicht gerecht gegen Sie sein. Der taugt nicht, Ihre Partei zu ergreifen”

trat nicht für Fichte ein.

Da griff der mächtige Nachbar Weimars, der Kurfürst Friedrich August von Sachsen, ein. Er konfiszierte das “Journal” und forderte “ernstliche Bestrafung” der Verfasser. Er drohte, sächsischen Studenten den Besuch der Universität Jena zu verbieten (es waren hunderte). Für Weimar, das auf die Kollegiengelder angewiesen war, eine Erpressung. Andere Regierungen schlossen sich dem an, auch Hannover.

Nur der sonst sehr christliche Friedrich Wilhelm III. Schrieb:

“Ich besorge indessen hiervon keine gemeinschädlichen Folgen, weil der Glaube an Gott durch ihn selbst so fest und unerschütterlich gegründet ist, daß alle Angriffe gegen denselben ewig so ohnmächtig bleiben werden, als sie es bisher geblieben sind.”

Fichte antwortete darauf mit seiner Schrift:

“Appellation an das Publikum”

In deren Einleitung stand:

“Eine Schrift, die man erst zu lesen bittet, bevor man sie konfisziert.”

Doch Fichtes Drohbrief wurde als amtliche Demission aufgefaßt und Fichte ohne Untersuchung entlassen.

Für Goethe war Fichtes Entlassung ein Triumph. Er sagte, der Entlassene sei zwar “einer der vorzüglichsten Köpfe, aber für sich und seine Welt verloren”, Fichte sei nun “aus einer Existenz hinausgeworfen, die er in seinem ganzen Leben nicht wieder finden” werde.

Fichte hatte darauf bestanden, daß der Geheimrat ihm persönlich die Entlassungsurkunde überreiche. Goethe konnte sich dem nicht entziehen, beseitigte dann aber alle, seine persönliche Mitwirkung beurkundenden Dokumente. Aber in einem Privatbrief vom 30. 8. 1799 bekundete er, Fichte sei der staatlichen Macht mit “töriger Anmaßung” begegnet.

Als Fichte des Atheismus beschuldigt wurde, hatte er im März 1799 der Weimarer Regierung einen “Drohbrief” geschrieben, er würde im Falle auch nur eines öffentlichen Verweises Weimar verlassen und mit anderen Professoren einen anderen Wirkungskreis suchen.

Das war nicht geflunkert. Der neue Wirkungskreis wäre Mainz gewesen, wo in der zweiten “Rheinischen Republik” eine Universität gegründet werden sollte. Gerade als Fichte dann seine Entlassung erhielt, hinderten politische und militärische Rückschläge Frankreich, diesen Plan auszuführen. Mauthner: “sonst wäre Fichte wohl der erste Rektor einer französischen rheinischen Universität geworden.

Fichte war erst viel später bereit, seinen “Republikanismus” und seinen “Atheismus” als Jugendirrtümer gelten zu lassen.

 

Goethe und Fichte

Goethe hat mitgeholfen, aus der “Drohung” Fichtes einen Strick zu drehen und diese als Kündigung anzusehen.

Im Entlassungsbrief hieß es heuchlerisch, philosophische Spekulationen wären kein Gegenstand einer Rechtsentscheidung.

In den “Annalen” schreibt Goethe von Fichte,

 

an seinen Gesinnungen sei “in höherem Betracht” nichts auszusetzen gewesen, doch Fichte hätte durch sein Verhalten keinen anderen Ausweg gelassen, als “den gelindesten”, nämlich die Entlassung.

Über Fichtes Philosophie hat Goethe sich oft lustig gemacht, besonders auch in der Baccalaureus-Szene (Faust, II. Teil)

“Original, fahre hin in deiner Pracht!”

In Goethes Ur-Xenien (1795) findet sich ein auf Fichte anspielendes Distichon:

“Wer nicht Ich ist, sagst Du, ist nur ein Nicht-Ich. Getroffen, Freund. So dachte die Welt längst und so handelte sie.”

Wilhelm Stapel:

“Da Fichte sich zuweilen nach Osmannstädt zurück zog, pflegten

Goethe, Schiller und Wieland ihn ‘das große Ich von Osmannstädt’ zu nennen.

So oft Goethe auf Fichte, auch schon vor der Atheismus-Katastrophe, zu sprechen kommt, schreibt der Verehrer Goethes, Fritz Mauthner

“fehlt es nicht an grimmigen und fast billigem Spott über Fichtes aus dem Ich erschaffene Welt.”

Mauthner:             Goethe stand “zum Atheismus und Materialismus, weil sie ihm zu farblos waren, ganz anders als Fichte oder gar als Forberg, mochte er auch dem positiven Christentum womöglich noch feindseliger sein.”

Später wandelte sich Goethes Einstellung zu Fichte wieder. Als Goethe Fichtes “Reden an die deutsche Nation” las, lobte er ihren guten Stil. Als Goethe 1810 Fichte auf der Kurpromenade von Teplitz wiedersah, lüftete er seinen Hut und sagte zu seinem Begleiter:

“Da geht der Mann, dem wir alles verdanken.”

Goethe war immer beeindruckt von Leuten, die es zu etwas gebracht hatten.

Friedrich Karl Forberg         1770 - 1848         Schulrektor, der Auslöser des Atheismusstreites

Er stand am Anfang des “Atheismus-Streites” durch seinen Aufsatz

“Entwicklung des Begriffs der Religion” 1798

Mauthner rühmt Forberg, der sogar Voltaire, d’Alembert, Diderot und Holbach überlegen sei.

“Wäre er nach dieser einen Tat nicht wieder für immer verstummt, er hätte der Stimmführer einer deutschen Revolution werden können.”

 

Aus dem Leben Forbergs

1770                in Altenburg / Sachsen geboren.

1792                Habilitation in Jena

                       Schulleiter in Saalfeld

                       Vor seinem berühmten Artikel, hatte er schon mehrere andere für das “Philosophische Journal”geschrieben. Er nahm den Verweis der Regierung geduldig hin, blieb in seinem Schulamte.

1840                Lebenserinnerungen: “Lebenslauf eines Verschollenen”

1848                starb er als “Geheimer Kirchenrat”

1821                schrieb er:

                         “Des Glaubens habe ich in keinerlei Lage des Lebens bedurft und gedenke in meinem entschiedenen Unglauben zu verharren bis ans Ende, was für mich ein totales Ende ist.”

 

Fichtes weiteres Leben

Als Fichte 1799 in Jena entlassen war, ging er nach Berlin. Friedrich Schlegel hatte ihn dazu bewogen. Als die Berliner Polizei Ermittlungen über den verdächtigen Fremdling anstellte, entschied Friedrich Wilhelm III

“ist es wahr, daß der Fichte mit dem lieben Gott in Feindseligkeiten begriffen ist, so mag das der liebe Gott selber mit ihm ausmachen. Mir tut das nichts.”

Fichte wurde 1805 Professor im damals preußischen Erlangen, 1806 durch die Franzosen vertrieben. Nach dem Zusammenbruch 1806 ging er mit dem König nach Königsberg, wo er einige Zeit an der Universität wirkte, Dort schrieb er eine Verteidigung Macchiavellis, von der die Königin Luise ein Dutzend Exemplare bestellte.

Stapel:             “eine radikale Abfertigung eines Pazifismus, der die bequeme Unterwerfung mit moralischen Phrasen rechtfertigt. Es ist die preußischste Schrift des Wahlpreußen Fichte.”

Als Napoleon nach Ostpreußen vordrang, ging Fichte über Memel nach Kopenhagen, kehrte erst nach dem Friedensschluß nach Berlin zurück.

1807                Fichtes Vorlesungen an der Berliner Akademie der Wissenschaften “Reden an die deutsche Nation” fanden unter den Augen der französischen Besatzungsmacht statt.

Ziel:                 Das gesunkene deutsche Volkstum wieder aufrichten durch Erziehung zum Geist der Gemeinschaft, zur Aufopferung

Fichte              schrieb während der “Reden” an den Minister Beyme:
“Ich weiß, daß ebenso wie Palm ein Blei mich treffen kann. Aber dies ist es nicht, was ich fürchte, und für den Zweck, den ich habe, würde ich gerne auch sterben.”

Stapel:             Spitzel saßen in den Vorträgen. Zuweilen “wurde die Stimme des Redners von den Trommeln der draußen vorüber ziehenden französischen Truppen übertönt.”

Immanuel Hermann Fichte (Fichtes Sohn):

“Mehrmals lief sogar das Gerücht in der Stadt, er sei vom Feinde ergriffen und abgeführt.”

1810                wurde Fichte zum Rektor der neugegründeten Universität in Berlin gewählt (1808 noch hatte die preußische Akademie seine Aufnahme mit 15 gegen 13 Stimmen abgelehnt).
Als seine Reformpläne am Widerstand der Kollegen scheiterten, trat er als Rektor zurück.

 

Aus den “Reden an die deutsche Nation”

Es hängt von euch ab, ob ihr das Ende sein wollt und die letzten eines nicht achtungswürdigen und bei der Nachwelt gewiß sogar über die Gebühr verachteten Geschlechtes, bei dessen Geschichte die Nachkommen - falls es in der Barbarei, die da beginnen wird, zu einer Geschichte kommen kann, - sich freuen werden, wenn es zu Ende ist, und das Schicksal preisen werden, daß es gerecht sei, - oder ob ihr der Anfang sein wollt und der Entwicklungspunkt einer neuen, über alle eure Vorstellungen herrlichen Zeit, und diejenigen, von denen  an die Nachkommenschaft die Jahre ihres Heils zähle. Bedenkt, daß ihr die letzten seid, in deren Gewalt die große Veränderung steht. Ihr habt doch noch die Deutschen als eins gesehen, oder davon vernommen, unter euch haben noch von Zeit zu Zeit Stimmen sich hören lassen, die von dieser höheren Vaterlandsliebe begeistert waren. Was nach euch kommt, wird sich an andere Vorstellungen gewöhnen, es wird fremde Formen, und einen anderen Geschäfts- und Lebensgang annehmen, und wie lange wird es dann nach dauern, daß keiner mehr lebe, der Deutsche gesehen, oder von ihnen gehört habe?

 

Deutschtum

Fichte: “Charakter haben und deutsch sein, ist ohne Zweifel gleichbedeutend

Sonderstellung des deutschen Volkes

Im Gegensatz zu Franzosen und Engländern hat Deutschland seine Ursprache behalten. Das hilft ihm, seine Eigenart und sein Gemütsleben zu bewahren.

Fichte:   “Nicht die Gewalt der Arme noch die Tüchtigkeit der Waffen, sondern die Kraft des Gemütes ist es, welche Siege erringt.”

 

Ende und Tod Fichtes

1813, als Fichte seinen Schreibtisch zusammenräumte, um in die Truppe einzutreten, machte er den letzten Eintrag in sein Tagebuch:

“Und nun alles gereinigt, - geheiligt!”

Der 62jährige trat als Landsturmmann in die Truppe ein zur - modern gesprochen - Truppenbetreuung.

Stapel:   “eine Art philosophischer Feldprediger”

Doch dazu kam es nicht. Vom August 1813 füllten sich in Berlin die Spitäler mit Verwundeten. Die Krankenpflegerin Johanna Fichte wurde vom “Lazarettfieber” (Typhus) angesteckt, übertrug die Krankheit auf ihren Mann. Sie genas, Fichte starb am 29. 1. 1814.

 

Fichte, der gefürchtete Revolutionär

Als 1824 (in der Metternichzeit) eine Neuauflage der “Reden an die deutsche Nation” in Berlin erscheinen sollte, verweigerte die preußische Zensur die Druckerlaubnis.

 

Fichtes Philosophie

Nach Mauthner “ein Spiel mit Begriffen, die einer Sprachcharakteristik nicht standhalten”. Sie ist als zeitbedingt aufzufassen. Fichte versuchte, seinen Anschauungen, die auf das Praktische, die Tat, ausgerichtet waren, eine theoretische Grundlage zu schaffen.

Die starke Tat Kants, die kritische Auflösung aller Metaphysik, drohte verloren zu gehen, weil Fichte (und nach ihm Schelling und Hegel) ... ein neues metaphysisches System auf “das Absolute” ... gründeten. (nach Mauthner)

 

Metaphysische Begriffe Fichtes:

Identität von Glauben und Erkennen im sittlichen Willen.

Fichte fühlt sich den “Altkantianern” überlegen (“Der vollständige Idealismus”, “Die Freiheit des Ich”) Dafür erntet er in Jena auch “Buh-Rufe” bei den sonst begeisterten Studenten, wenn er Kant einen “gemäßigten Idealisten” nennt.

“Das Ich setzt das Nicht-Ich”          “Das Ich setzt sich selbst”

Ein An-sich-sein der Dinge außer uns selbst (Kants “Ding-an-sich”) gibt es nicht

 

Rudolf Eucken:

“Ebenso wie die Kantische Philosophie mit

                ihrer Stärkung des Subjekts,

                ihrer Verwandlung der Kausalität in ein eigenes Erzeugnis des Denkens,

                ihrer Vorstellung der praktischen Vernunft

Fichte von der Denkweise Spinozas, im Menschen ein bloßes Glied einer strengen Kausalverkettung zu sehen, befreite, führte ein solcher Anschluß unmittelbar über Kant hinaus.

Wo das Verlangen nach Selbständigkeit der Überzeugung das Streben ausschließlich beherrscht, da wird die Kantische Beherrschung der Tätigkeit durch eine entgegengesetzte Welt zu einer unerträglichen Hemmung, nunmehr wird die praktische Vernunft zur Wurzel aller Vernunft.”

Folgerichtig daher Fichte:

“Von dem Bedürfnis des Handelns geht das Bewußtsein der wirklichen Welt aus, nicht umgekehrt vom Bewußtsein der Welt das Bedürfnis des Handelns

dieses ist das Erste, nicht Jenes.

Wir handeln nicht, weil wir erkennen, sondern wir erkennen, weil wir zum Handeln bestimmt sind.

Die praktische Vernunft ist die Wurzel aller Vernunft.”

Entgegen aller Kritik würdigt der Philosoph Rudolf Eucken (1846-1926) auch Fichtes Frühwerk (“Wissenschaftslehre”) in “Lebensanschauungen großer Denker”:

“Fichtes Gedankenarbeit ist in hervorragendem Maße persönliche Tat, Entfaltung des eigenen Wesens; an sich selbst hat er sein Wort bewährt:

‘Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist; denn ein philosophisches System ist nicht ein alter Hausrat, den man annehmen oder ablegen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist belebt durch die Seele des Menschen, der es hat.”

 

Ernst Bergmann über “Idealismus” und Kritik an Fichte

Drei Formen:

1.)                                 der erkenntnistheoretische Idealismus

                                      (Die Welt existiert nur als meine Idee.)

                Bergmann: “eine Verirrung des philosophischen Denkens, namentlich in der extremen Form, wie sie bei Fichte auftritt” in seiner “Wissenschaftslehre” (1794)

2.)                                 der metaphysische Idealismus

                                      (Das Wesen der Welt ist Idee)

                Bergmann: “bildet meist die Grundlage für den ethischen Idealismus. Er tritt besonders in Fichtes späterer Philosophie stark hervor, ist aber für unser heutiges Denken fraglich geworden.”

3.)                                 der ethische Idealismus

                                      (Verwirkliche ein Ideal!)

                Bergmann   schlägt vor, für den praktischen Idealisten den Ausdruck “Idealgläubigen” zu gebrauchen, nicht mehr “Idealist” und “Idealismus”, da zu vieldeutig.

 

Kritik an Fichtes Philosophie durch Karl Immermann (1796 - 1840)

Jurist, Dichter, Bühnenleiter

in seinen “Memorabilien”:

Fichte gehöre zu

“den denkwürdigsten Geistern, in welchen sich ein Urzwiespalt zwischen dem, wonach zu streben, und ihren Mitteln befindet.”

“In Fichte ist von Anfang an ein Krieg zwischen Charakter und Erkenntnisvermögen. Der Charakter will das Erkennen zwingen, zu sehen, was ihm beliebt, verwirrt es dadurch und treibt es in Widersprüche, die er dann aber auch rechtschaffen genug ist, geradezu einzubekennen. Fichtes ganze geistige Erscheinung hat etwas gewaltsames, aber freilich etwas heroisch-gewaltsames. Wenn es möglich wäre, mit dem Willen in das Allerheiligste der Wahrheit einzudringen, so hätte es ihm gelingen müssen, denn gewiß war nie ein Wille stärker und reiner.”

Fichtes Philosophie sei durch seinen Charakter “pertubiert” worden.

 

Ausgesprochene Gegner Fichtes sind u.a.:

Der evangelische Theologe Friedrich Schleiermacher.

Der Rationalist Friedrich Nicolai

 

Neue von Fichte eingeführte Begriffe:

System der Philosophie

vorher sprach man von “Kritik”, “Methode”, “Theorie”, “Betrachtungen”, “Ideen” usw.

Der dialektische Dreischnitt

These, Synthese, Antithese

Übernommen von Hegel, Marx und vielen anderen

völkisch

Bergmann: “völkisch, ein Wort das Fichte geschaffen hat”

Stapel:   “In einem Gutachten, das Fichte 1811 über einen Plan zu Studentenvereinen abgab, findet sich der denkwürdige Satz:

“Deutsch sein heißt schon der Wortbedeutung nach völkisch, als ein ursprüngliches, nicht als zu einem Anderen gehöriges und Nachbild eines Andern.”

Es dürfte hier zum erstenmal das Wort ‘völkisch’ erklungen sein.”

 

Fichtes religiöse Anschauungen

Kritik der christlichen Theologie,

“Was sie Gott nennen, ist mir ein Götze.” “... daß mein Atheismus lediglich darin besteht, daß ich meinen Verstand behalten möchte.”

Was Fichte ablehnt: Ein persönlicher Gott als substantielles Wesen. Für Fichte ist Gott nur in der sittlichen Weltordnung erkennbar.

Fichte über eine Darstellung der Heiligen Dreifaltigkeit im Dresdner Gesangbuch:

“ein alter Mann, ein junger Mann und eine Taube”

Religion ist nichts anderes als praktischer Glaube an eine moralische Weltordnung.

David Friedrich Strauß:

“Kant und Fichte machten Gott zu einem theoretisch unbeweisbaren und unerkennbaren Postulate der praktischen Vernunft, oder, was die Wahrheit dieser Wertung war, zu dem Allgemeinen einer moralischen Weltordnung” (Strauß: “Die christliche Glaubenslehre”, Band I, S. 63)

 

Fichte und das Christentum

Maria Grunewald in “Fichtes Deutscher Glaube” über die Schrift Fichtes:

“Anweisungen zum seligen Leben” (1806)

“Fichte fühlt sich als Christ, aber in anderem Sinne als allgemein üblich; seine Stellung wird deutlich durch seine Beurteilung des Johannes-Evangeliums. Es ist ihm das wichtigste der Evangelien, weil es am wenigsten geschichtlich ist. Denn nicht das geschichtliche Verständnis einer göttlichen Tatsache macht selig, sondern nur das metaphysische, das geistige Verstehen!”

Fichte:   “Nur mit Johannes kann der Philosoph zusammenkommen, denn dieser allein hat Achtung für die Vernunft und beruft sich auf den Beweis, den der Philosoph allein gelten läßt, den inneren ... Die anderen Verkündiger des Christentums aber bauen auf die äußere Beweisführung durch Wunder, welche, für uns wenigstens, nichts beweiset.”

                Man könnte sagen: Fichte möchte den Begriff des Christentums (für das Volk?) retten, obwohl seine religiösen Ansichten nicht nur dem offiziellen, sondern auch dem rein evangelischen Christentum widersprechen.

Seine Gottesauffassung

                ist nicht transzendent, sondern immanent.

Der zentrale Begriff des Christentums, die Erlösung

                ist für Fichte ohne Bedeutung.

Der christliche Sündenbegriff

                ist für Fichte eine Wahnidee.

Die christliche Moral von Lohn und Strafe, die alle Evangelien durchzieht

                ist für Fichte unsittlich.

                Fichte lehnt jede heteronome Moral ab, fordert autonome Moral.

Die Zehn Gebote

sind für Fichte fragwürdig, positiv sind nur Luthers Erklärungen dazu (aber sind das nicht Umdeutungen?)

Nur Ironie

hat Fichte für “jüdische Träume von einem Sohn Davids und einem Aufheber eines alten Bundes und Abschließer eines neuen.”

Das gleiche gilt für die christliche Idee der “Auferstehung der Toten”

Fichte fragt:

“Wer sind die Toten? Etwa die, die am jüngsten Tage ich ihren Gräbern liegen werden? Eine rohsinnliche Deutung.”

War Fichte nun ein Christ oder Nicht? Tatsache ist zwar, daß Fichte sich in der “Anweisung zum seligen Leben” auf das Johannes-Evangelium beruft, Tatsache ist aber auch, daß er dabei sich gezwungen sah, das Wichtigste umzudeuten.

Fichte:    “Jesus ist bei Johannes zwar ein Lamm Gottes, das der Welt Sünde wegträgt, keinesfalls aber ein solches, das sie mit seinem Blute einem erzürnten Gott abbüßt. Er trägt sie weg.”

Ob da Fichte noch das Recht hat, von Christentum zu sprechen oder sich einen Christen zu nennen? Man müßte die Christlichen Theologen fragen. Die aus der Zeit des “Atheismus-Streites” glaubten jedenfalls, in Fichte einen “Ketzer einer ganz neuen Gattung” zu erkennen.

 

Fichtes Sittenlehre

Fichtes kategorischer Imperativ:

“Handle stets nach bester Überzeugung von deiner Pflicht!

Handle nach deinem Gewissen

(oder auch, mehr an Kant erinnernd)

Handle so, daß du die Maxime deines Willens als ewiges Gesetz für dich denken kannst.”

Der Endzweck der Sittenlehre ist die Realisierung der Vernunft in einer Gemeinschaft freier Menschen.

“Beschränke deine Freiheit so, daß alle anderen neben dir auch frei sein können.”

Der Soll-Begriff

stammt von Kant, dem großen Erwecker und Lehrmeister Fichtes.

Tue, was alle können und sollen!

Tue, was nur du kannst und sollst!

Der Opfergeist

ist für Fichte verkörpert in dem Schweizer Heinrich Pestalozzi, an dem er “die Grundzüge des deutschen Gemüts” darlegt (in den “Reden an die deutsche Nation”) Seite 278

Fichte über Pestalozzi: “der letzte Retter und Heiland der Menschheit”

 

Freimaurerei

Als Fichte in Jena entlassen war, versuchte er nach Rudolstadt zu gehen, da der dortige Fürst in der gleichen Loge war wie er.

Stapel:    “Fichte war einige Jahre Freimaurer, aber als er die Logen nicht nach seinen Ideen umbilden konnte trat er aus.”

Fichte:   “Die Freimaurerei hat mich so ennuyiert und zuletzt indigniert, daß ich ihr gänzlich Abschied gegeben habe.”

Obwohl Fichte 1800 aus der Loge austrat, berufen sich Freimaurer heute noch auf ihn, oder versuchen jedenfalls seinen Ruhm für sich zu verwerten; er habe vorbildlich Vaterlandsliebe und Weltbürgersinn miteinander verbunden.

(Freimaurerlexikon von Eugen Lennhoff-Oskar Posner, 1932, Nachdruck 1980)

 

Fichte über Juden

Auf die Judenfrage speziell geht Fichte nicht ein. Nur im Zusammenhang mit anderen Beobachtungen und Themen kommt Fichte auf Juden zu sprechen.

1.)           Ende April 1791 auf der Reise nach Warschau vergleicht er den äußeren Eindruck, den polnische Militärpersonen und Juden auf ihn machen:

“Sie selbst meistens schöne, wohlgewachsene Leute, mit schwarzen Augen; ihre Züge mit einem Anflug von Orientalismus, und doch welch ein Unterschied zwischen ihnen und den Judengesichtern! Sie stammen freilich aus dem nördlichen Asien, diese aus dem südlichen; aber sollte nicht diese Gesichtsvergleichung im großen durchgeführt über die Völker - Origenes und ihre Verwandtschaft Licht geben können?”

(Reisetagebuch, nach Stapel)

2.)           Ausführlicher erkennt man Fichtes Meinung in

“Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution” 1793

Diese Stelle vollständig wiederzugeben, erscheint unter den gesetzlichen Gegebenheiten der BRD nicht ratsam.

Man findet sie im Auszug in

Theodor Fritsch, Handbuch der Judenfrage, Leipzig 1943, Seite 478,

Nachdruck von 1991, Seite 439, 440

vollständig in

Considérations destinées à rectifier les jugements du public sur la Révolution francaise, 1974 Paris, Seite 160/161

Fichte kommt darin zu sprechen auf die Möglichkeiten und Gefahren, die daraus entstehen können, daß sich Staaten im Staate bilden können

z.B.

im Militär
im Adel
in Priesterschaften

Fichte sieht eine Gefahr in diesen Staaten im Staate nur, wenn ihr Interesse ein besonderes, von dem der Allgemeinheit getrenntes ist oder sogar ein dem der anderen Mitbürger widersprechendes.

Als Beispiel dafür spricht er vom Judentum.

Einige Auszüge (Rückübersetzung aus dem Französischen, da eine deutsche Ausgabe heute nicht greifbar.)

“Inmitten fast aller Länder Europas befindet sich ein mächtiger Staat, der den anderen feindlich gesinnt ist, sich ständig mit ihnen im Krieg befindet und in einigen die Bürger schwer bedrückt. Ich spreche von den Juden.” Dieser Staat ist gefährlich “nicht weil er einen getrennten und in sich fest geeinten Staat darstellt, sondern weil er gegründet ist auf den Haß, gegen die gesamte Menschheit.”

Fichte beklagt die jüdische Überheblichkeit,

“die wir sogar unter die Artikel unseres Glaubensbekenntnisses aufgenommen haben.”

“In einem Staat, in dem der König, so absolut er auch ist, mir die von meinem Vater vererbte Kate nicht wegnehmen kann, und ich mein Recht gegenüber einem allmächtigen Minister behaupten kann, ist der nächstbeste Jude, dem der Sinn danach steht, im Stande, mich auszurauben.”

Fichte wendet sich gegen religiöse Intoleranz. Es ist ihm gleichgültig, ob die Juden an Jesus Christus oder an Gott glauben, aber man darf nicht dulden, “daß sie sich auf zwei verschiedene Morallehren berufen und einen Gott, der der Feind der (anderen) Menschen ist.”

 

Toleranz nicht nur für Juden

Fichte:   “Ich will nicht sagen, man sollte die Juden ihres Glaubens wegen nicht verfolgen, sondern ich sage, man sollte aus diesem Grunde überhaupt keinen Menschen verfolgen.”

 

Das Lexikon des Judentums von John F. Oppenheimer, 1971

verweist auf die Stelle in den

                “Considérations ... sur la Révolution Francaise”

und schreibt, Fichtes Stellung zum Judentum sei “uneinheitlich” gewesen, denn er habe den jüdischen Philosophen Salomon Maimon (1754 - 1800) hochgeschätzt, habe persönliche Beziehungen zu Dorothea Schlegel (Frau Friedrich Schlegels, älteste Tochter von Moses Mendelsohn) gehabt und sei als Rektor der Berliner Universität “für den unschuldig verfolgten jüdischen Studenten Brogi” eingetreten.

Ernst Bergmann (geb. 1881) sah Fichte als Vorläufer des Nationalsozialismus.

Fichte:    “Der Glaube des edlen Menschen an die ewige Fortdauer seiner Wirksamkeit auf dieser Erde gründet sich auf die Hoffnung der ewigen Fortdauer des Volkes aus dem er selber sich entwickelt hat und die Eigentümlichkeit desselben.”

Aber auch andere hatten sich auf Fichte berufen. Neuentdecker Fichtes war Lassalle.

Lassalle über Fichte:           “einer der gewaltigsten deutschen Geister”. Er schrieb an Karl Marx über “Fichtes politisches Vermächtnis” und nannte es einen “Trompetenstoß ins Gegenwärtige.”

(Nachkriegsausgabe der “Großen Deutschen”,

Aufsatz “Fichte” von Heinz Heimsoeth

Wilhelm Stapel über Fichtes “Der geschlossene Handelsstaat” 1810

“Das ist der erste Entwurf eines deutschen Sozialismus. Er zielt auf einen autarkisch geschlossenen Staat mit Planwirtschaft. Als Grundbegriff der Wirtschaft nimmt er nicht die Güter, nicht das Kapital, nicht die “Bedürfnisbefriedigung”, sondern die Arbeit. Fichte stellt hier einen ethisch fundierten Wirtschaftsbegriff auf.

Aus “Anweisung zum seligen Leben”:

“Wir haben Vorrat an Mute; und für einen löblichen Zweck, sei es sogar vergebens, sich angestrengt zu haben ist auch der Mühe wert.”

 

Wandlungen Fichtes

Während Fichte in Jena noch “jedes Gefühl einer schlechthinnigen Abhängigkeit” (Schleiermacher) von Gott ablehnte und noch 1800 schrieb:

“Nichts ist mir unausstehlicher, als nur an einem Anderen, für ein Anderes und durch ein Anderes zu sein”

(in “Bestimmung des Menschen”)

drückt er sich 1806 milder aus:

“Solange der Mensch noch irgend etwas selbst zu sein begehrt, kommt Gott nicht zu ihm.”

Ohne zum dogmatischen Christentum zurückzukehren berief er sich 1806 in

“Anweisung zum seligen Leben”

auch auf die gnostischen Elemente des Johannes-Evangeliums, nannte das Christentum ein “Vehikel” zu höherer Einsicht.”

Unter dem Eindruck des Zusammenbruchs Deutschlands und der französischen Besetzung wandelt sich Fichtes Kosmopolitismus zu dem Bekenntnis zum eigenen nationalen Staat.

 

Fichte an jeden Deutschen

Du sollst an Deutschlands Zukunft glauben,
an deines Volkes Aufersteh’n.
Laß diesen Glauben Dir nicht rauben,
trotz allem, allem was gescheh’n.
Und handeln sollst Du so, als hinge
von dir un deinem Tun allein
das Schicksal ab der deutschen Dinge
und die Verantwortung wär’ dein.

Wem sind nicht diese eindringlichen Verse bekannt? Doch wer kann den Namen des Dichters nennen? Verführt durch die Überschrift wird oft Joh. Gottlob Fichte genannt. Doch der wahre Verfasser ist Albert Matthäi, der 1853 (oder 1855) in Preußisch-Stargard geboren, 25 Jahre an der Zeitschrift “Jugend” in München als Redakteur gewirkt hat. Er starb 1924. Die Überschrift des Gedichts erklärt sich daraus, daß Albert Matthäi die Gedanken dafür bei Fichte gefunden hatte. In Fichtes 14. Rede an die deutsche Nation (an der Berliner Universität am 23. 10. 1808 als Abschluß der am 13. 12. 1807 begonnenen Vorlesungsreihe) stehen die zwei Sätze, die Albert Matthäi zu seinen zwei Versen verdichtete: “Ob aber jemals es uns wieder wohl gehen soll, hängt ganz allein von uns ab, und es wird sicherlich nie wieder irgendein Wohlsein an uns kommen, wenn wir nicht selbst es uns verschaffen: und insbesondere, wenn nicht jeder Einzelne unter uns in seiner Weise tut und wirket, als ob er allein sei, und als ob lediglich auf ihn das Heil der künftigen Geschlechter beruhe.”

Eine unerwartete Überraschung: Der zweite Satz stand nicht in dem Text, den Fichte der preußischen Zensurbehörde einreichte, sondern wurde erst auf deren Veranlassung von Fichte hinzugefügt. Die Zensur war damals also nicht nur ein Instrument der Geistesknechtung, sondern konnte auch, wie in unserem Falle, zu einer genialen Verbesserung des überprüften Textes führen. Ob das bei den heutigen “Bundesprüfstellen” auch möglich wäre?

Matthäis Gedicht wurde zuerst zu Neujahr 1922 als einer der im Verlag von Wilhelm Gerstung, Offenbach/Main, erschienenen “Deutschen Weinsprüche” veröffentlicht.

In der dunkelsten Zeit der Weimarer Republik verfaßte Albert Matthäi noch eine Zusatzstrophe zum Deutschland-Lied

Deutschland, Deutschland über alles
und im Unglück nun erst recht!
Nur im Unglück kann sich zeigen,
ob die Liebe wahr und echt.
Uns so soll es weiter klingen
von Geschlechte zu Geschlecht:
Deutschland, Deutschland über alles
und im Unglück nun erst recht!

Der Anfang dieser Strophe wurde auch veröffentlicht mit einer kleinen bedeutsamen Veränderung, die aber durchaus logisch in den Gedankengang paßt

                Deutschland geht uns über alles

während es am Ende der Strophe dann wieder, wie üblich, heißt,

                Deutschland, Deutschland über alles

Dem Vorbild Matthäis folgend entstand nach dem zweiten Weltkrieg eine 2. Zusatzstrophe, deren Verfasser uns leider immer noch umbekannt geblieben ist. Kennt jemand seinen Namen?

Über Länder, Grenzen, Zonen
hallt ein Ruf, ein Wille nur,
überall wo Deutsche wohnen
zu den Sternen dringt der Schwur:
Niemals werden wir uns beugen,
nie Gewalt als Recht ansehn!
Deutschland, Deutschland über alles,
und das Reich wird neu erstehn!

 

Der posthume Streit um Fichte

Vom Jahr 1935 ab erschien das von Willy Andreas und Wilhelm von Scholz herausgegebene fünfbändige Sammelwerk

“Die großen Deutschen”

Im zweiten Band stand, wie nicht anders zu erwarten, ein umfangreicher Aufsatz über Fichte, verfaßt von Wilhelm Stapel, dem Herausgeber der Hamburger Monatsschrift “Deutsches Volkstum”.

Nach dem Kriege erschien ab 1953 eine neue Ausgabe des Werkes, das im Dritten Reich einen großen Erfolg gehabt hatte. Doch in ihr war vieles verändert, schon die Herausgeber waren andere: Theodor Heuß, der damalige erste Präsident der BRD, und Hermann Heimpel, die in der ersten Ausgabe nur Mitarbeiter waren. Das wirkte sich natürlich auf den Inhalt aus. Im Zuge der Umerziehung waren viele Persönlichkeiten der Vorkriegsgeschichte

“als große Deutsche gestrichen”,

darunter unter vielen anderen

Heinrich I, Heinrich IV, Heinrich der Löwe, Hans Sachs, Arminius, Widukind, Königin Luise, Turnvater Jahn, York, Blücher, Spitzweg, Ludwig Uhland, Fritz Reuter, Theodor Storm, Paul de Lagarde, Hofprediger Stöcker, Hagenbeck, der Kampfflieger Richthofen, Ernst Moritz Arndt, Hindenburg, Ludendorff, natürlich auch Albert Leo Schlageter und Horst Wessel.

Neu aufgenommen wurden, als dem Reeducations-Zeitgeist näher stehend u.a.

Bonifatius, Elisabeth von Thüringen, Karl V, Heinrich Heine, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Reichspräsident Ebert, Karl Marx, Thomas Mann und – Theodor Heuß’ Schwiegervater Georg Friedrich Knapp

Hans W. Hagen sagt über Knapp, seine national-ökonomische Geldtheorie wäre “für Fachleute interessant.”

 

Fichte in “Die großen Deutschen”

In der Nachkriegsausgabe sucht man Fichte an der alten Stelle im zweiten Band vergeblich. Auch er war dem Zeitgeist zum Opfer gefallen. Doch in jenem ersten Jahrzehnt der BRD hatte die Reedukation noch nicht voll gegriffen. Vielleicht hatte die aufgekommenen harte Kritik die Herausgeber bewogen, einen “Ergänzungsband” zu schaffen. Hier konnten sie allzu grobe Fehlgriffe berichtigen, einige Persönlichkeiten durch die Hintertür wieder einschmuggeln. Hans W. Hagen sprach treffend von einer “Aktion überprüfter Papierkorb”.

So wurde ein neuer Fichte-Artikel eines anderen Verfassers aufgenommen, der aber gegenüber dem Stapelschen sehr matt geriet. Der Verfasser, Heinz Heimsoeth, versuchte, die Entwicklung Fichtes psychologisch zu erklären. Interessant zu lesen, aber kein Vergleich mit dem eindrucksvollen Aufsatz Stapels in der Vorkriegsausgabe.

 

Quellen zu Fichte

Ernst Bergmann, Fichte und der Nationalsozialismus, 1933, 48 Seiten
Maria Grunewald, Fichtes Deutscher Glaube, 1927, 105 Seiten
Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande 1923 (1963), 4 Bände, Band IV, Seite 56 ff.
Tilman Jens, Goethe und seine Opfer, 1909, 152 Seiten, Seite 93 ff.
J. G. Fichte, Reden an die Deutsche Nation, 1912, 288 Seiten Considérations sur la Rèvolution Francaise 1974, 280 Seiten
Wilhelm Stapel  Fichte in die “Großen Deutschen” 1935, Band 2, Seite 434 ff.

 

Das Märchen

In seinem Fichte-Aufsatz hatte Wilhelm Stapel gesagt, man könne die Jugendgeschichte Fichtes erzählen wie ein Märchen und hatte selbst angefangen: “Es war einmal ein armer Knabe, der hütete seines Vaters Gänse. Da kam ein König des Weges gefahren.”

Das sollte man einmal versuchen!

G.S.

 

Das Märchen “Vom armen Gänsehirten der ein weiser Mann wurde”

zugleich eine Rätselgeschichte

Es war einmal ein armer Hirtenjunge, der hütete seines Vaters Gänse. Da kam in einer prächtigen Kutsche der neue Graf gefahren, den der König über das Land gesetzt hatte. Er frug den Knaben nach dem Weg in das nächste Dorf und verwunderte sich über die genaue Auskunft, die er erhielt.

Im Dorf angekommen, hörte er, daß der Knabe Tann hieß, und daß es eine besondere Bewandtnis mit ihm habe. Die Leute rühmten vor allem sein vortreffliches Gedächtnis.

Als am Abend der junge Tann mit seinen Gänsen ins Dorf zurückgekommen war, ließ der Graf ihn kommen und stellte eine Probe mit ihm an. Der Graf kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als Tann ihm die Predigt des Dorfpfarrers vom letzten Sonntag mit allen Gesten und Betonungen hersagen konnte.

Der Graf sagte zu Tanns Vater, der um seinen Sohn besorgt herbeigeeilt war: “Solche Leute können wir gebrauchen” und nahm Tann mit auf sein Schloß, wo er mit den Söhnen des Grafen unterrichtet wurde.

Alles schlug bei Tann gut an. Sein Verstand und sein Wissen nahmen ständig zu. Doch als der Graf starb, begann für Tann eine schwere Zeit. Kümmerlich mußte er sich durch’s Leben schlagen.

In seinen Wanderjahren hatte Tann Kunde von der schönen Schweiz erhalten, wo es auch die schönsten Mädchen geben sollte. Er machte sich sofort zu Fuß auf den Weg und kam in eine große Stadt, die an einem noch größeren See gelegen war. Dort fand er gute Freunde und, wie er vielleicht schon geahnt hatte, eine Braut. Zu beider Leidwesen war Tann aber zu arm, um sie auch heiraten zu können. Wie sollte er eine Frau ernähren? So zog er wieder hinaus in die Welt. Er kam nach Polen, in die Stadt Warschau in eine deutsche Familie, wo er Hauslehrer werden sollte. Aber, verstehe es, wer es verstehen mag, er konnte dort nicht bleiben, weil sein französisch nicht gut genug war. So zog er wieder weiter.

Dann hörte Tann von einem weisen alten Mann, der in einer großen Stadt lebte, in der es viele kluge Lehrer gab. Den besuchte er und wurde sein bester Schüler. So wurde er selbst vieler Dinge kundig, und konnte überall guten Rat geben.

Als ein fremder Eroberer das Land schwer bedrückte, versammelten sich viele Leute um Tann, die wissen wollten, was nun zu tun wäre. Er sprach zu ihnen, erklärte Ihnen ihre Pflichten und welche Opfer sie auf sich nehmen müßten, um das Land wieder zu befreien. Sogar die schöne und kluge Königin ließ Tann kommen und war ihm von da an huldvoll zugetan; ebenfalls der mächtige Kaiser des großen Nachbarlandes, der auch von dem fremden Eroberer bedroht wurde, hatte von Tann vernommen und erkundigte sich bei der Königin nach ihm. So gab es bald niemanden im ganzen Lande, der noch nichts von Tann gehört hatte.

Als Tann so ein berühmter Mann geworden war, zog es ihn wieder in die ferne Schweiz, in die große Stadt, wo seine Braut immer noch auf ihn wartete. Im Hause seines Schwiegervaters, der ein geachteter Wagemeister war, gab es eine glanzvolle Hochzeit. Tann und seine Frau blieben ihr ganzes Leben zusammen und, obwohl Tann ein hochgeschätzter weiser Mann und Lehrer geworden war, hatten sie noch manchen Schicksalsschlag gemeinsam zu bestehen, bis der Tod sie ereilte.

Doch die Meinungen der Leute über Tann blieben immer unterschiedlich. Die meisten waren für, andere aber gegen ihn.

Noch 200 Jahre nach seinem Tode war der Streit um Tann nicht zu Ende. Die einen rühmten ihn über alle Maßen, sagten sogar er sei ein Dichter gewesen, der sich in einem sehr bekannten Gedicht an jeden seiner Landsleute gewandt habe, obwohl niemand weiß, ob Tann jemals Reime geschmiedet hatte.

Die anderen aber hörten nicht auf, ihn zu schmähen und behaupteten sogar, Tann wäre ein Vorläufer der Nazis gewesen. Das waren besonders böse Menschen, die nun Gottseidank meist schon tot sind, von denen einige aber immer noch in Gefängnissen sitzen oder sich sogar versteckt halten, ohne daß man hoffen könnte, daß sie sich jemals besserten, Es wird sogar - völlig unglaubwürdig - behauptet, sie hätten wieder Nachfolger gefunden, Neo, wie es heißt, die sich schon vielerorts gezeigt hätten. Aber das konnte Tann ja nicht ahnen.

 

Hinweise eines Rätsel-Lotsen

Der Graf: Freiherr von Miltitz
Das Dorf: Rammenau (Oberlausitz)
Die große Stadt am See: Zürich
Die Braut: Johanna Rahn
Die deutsche Familie in Warschau: von Platen
Der weise alte Mann: Kant
Die Königin: Luise
Der mächtige Kaiser: hieß genau so, wie der Besieger des Landes, das heute Iran genannt wird.
Tann:  Name nach einem Nadelbaum

Wer den getannten Tann noch nicht erkannt hat, frage den Weihnachtsmann, welche Baumart er meistens verwendet.

G.S.

 

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