Casino Ohne Deutsche LizenzOnline Casino
��Zeitgeschichte + Hintergr�nde

�

Hendrik de Man

Ein europ�ischer Nonkonformist auf der Suche nach dem Dritten Weg

�

von Robert Steuckers

Vorbemerkung: Nachstehender Aufsatz erschien erstmals im in der GRECE-Zeitschrift „Etudes et Recherches“ (Nr. 3) sowie in der Ausgabe 5-6/1985 der Schriftenreihe „Junges Forum“ und wurde uns mit freundlicher Genehmigung vom Verfasser zur Verf�gung gestellt. Wir folgen gr��tenteils der von J.J Pesteil besorgte �bertragung ins Deutsche, behielten uns allerdings bei allzu holperigen Formulierungen Eingriffe sowie geringf�gige K�rzungen vor.

�

Als am 20. Juni 1953 Hendrik de Man in der Schweiz t�dlich verungl�ckte, starb eine der interessantesten Pers�nlichkeiten des europ�ischen Sozialismus, die erhebliche Entwicklungen durchgemacht hatte, vom radikalen Marxisten bis in die N�he der „Konservativen Revolution“, die Zeit ihres Lebens gegen den Strom geschwommen war. „Gegen den Strom“ lautete denn auch der deutsche Titel seiner Autobiographie. Heute ist de Man in Deutschland nur noch wenigen bekannt, obwohl etliche seiner Schriften in Deutsch geschrieben und erschienen sind.

Geboren zu Antwerpen am 17. November 1885, ist Hendrik de Man mit 16 Jahren Sozialist geworden. Nichts pr�destinierte ihn zu dieser Wahl. Sein Vater wollte aus ihm einen Offizier machen. Seine Mutter stammte aus einer ganz nonkonformistischen Familie, b�rgerlich und reich, aber mit dem Hang zur Literatur. Diese Familie war das, was man in Flandern „vlaamsgezind“ nennt, sie verkehrte ohne Scham mit den fl�misch sprechenden Arbeitern und Bauern und zog sie gew�hnlich den Angeh�rigen ihrer eigenen Klasse vor, die sich auf die franz�sische Kultur etwas zugute hielten. Das ist das ewige Problem Belgiens, der rote Faden seiner soziopolitischen Geschichte seit 1830, als das K�nigreich dank des doppelten Segens der franz�sischen und englischen Diplomatie und gegen die Vorstellung der Heiligen Allianz von 1815 unabh�ngig wurde. Nach belgischen politischen Ma�st�ben wurde de Man eine Art Avantgardist: ein b�rgerlicher Sozialist mit doppelter Kultur, germanisch und romanisch, ein Mensch, der sich wohl f�hlt in den Partikularismen seiner Heimat und der trotzdem Zugang hat zu den hohen Sph�ren des Universalismus.

Die Art der Erziehung, die er genoss, f�hrte dazu, dass er keinen Klassend�nkel kannte. De Man war ein st�rrischer J�ngling, rebellisch aber selbstlos, und er verfolgte mit Aufmerksamkeit die gro�en Konflikte des beginnenden Jahrhunderts: die Aff�re Dreyfus in Frankreich, den Burenkrieg in S�dafrika. Mit 17 Jahren meldete er sich auf einer Versammlung streikender Hafenarbeiter zu Wort. Er wurde Mitglied der „Socialistische Jonge Wacht“, der Jungsozialisten von Antwerpen, und zerst�rte damit die Hoffnungen von Vater de Man, seinen Sohn Offizier werden zu lassen. Der belgische Patriotismus interessierte den jungen de Man �berhaupt nicht: die Familie war viersprachig, las deutsche, franz�sische, holl�ndische und englische Zeitungen und Zeitschriften. Diese europ�ische Sicht geht �ber den engen Rahmen einer erst neuen Nation hinaus, deren Eliten die Pariser Moden nach�ffen. Au�erdem schwor sein Gro�vater m�tterlicherseits - wie viele Antwerpener - nur auf die Fahne des Vereinigten K�nigreichs der Niederlande (1815-1830) und z�gerte niemals, den belgischen Staat zu kritisieren, den er als ein „franko-klerikales“ Unternehmen ansah, ohne Interesse f�r diejenigen, die wir er, sich als Erben der „Geusen“ betrachteten, d.h. der fl�mischen, wallonischen und holl�ndischen Adligen und B�rger, die im 16. Jahrhundert gegen den K�nig von Spanien revoltiert hatten, jene Menschen, die Wilhelm dem Schweiger gefolgt und die der Ursprung des modernen niederl�ndischen Staates geworden waren.

Dieser Geist stimmte nicht mit dem �berein, was man von einem Offizier erwartete: Verteidiger der etablierten Ordnung zu sein, ausschlie�lich frankophon und frankophil zu sein, vorzugsweise katholisch und ultramontan. Die Berufung des jungen de Man ist schon vorgezeichnet: er wird ein Intellektueller und wird an der Universit�t von Br�ssel studieren, einer Universit�t, deren dominierende Ideologie ein wilder Antiklerikalismus ist, an der Grenze des Fanatismus. Nichts hat sich ge�ndert unter der Sonne: in Belgien muss man Konformist sein, d.h. liberal (oder sozialistisch) und antiklerikal oder katholisch und „rechtgl�ubig“. Au�erhalb dieser ideologischen Systeme gibt es keine Seligkeit. De Man scheiterte in allen Examen. Der belgische Konformismus hat sein Genie nicht erkannt. 1905 dagegen, in der Welt der deutschen Universit�t, wird er als ein beispielhafter und besonders begabter Student angesehen. Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterland.

Ganz sicher ist zu dieser Zeit der Sozialismus des Studenten de Man heroisch und naiv, de Man lebt asketisch, versucht Hegel und Darwin den Arbeitern nahe zu bringen, sein jugendlicher Idealismus erkennt nicht sogleich die Schurkerei der Demagogen seiner eigenen Partei. Man wird dem ein Ende machen, nachdem er gegen die Strategie des Pr�sidenten der Sozialistischen Partei, den Dr. Terwagne, rebelliert hat, d.h. gegen die sozial-liberale Allianz. Gegen das, was er als eine widernat�rliche Allianz zwischen elenden Proletariern und gesicherten B�rgern ansah. Hinter dieser scheinbar widerspr�chlichen Allianz verbarg sich ein Konflikt der Weltanschauungen: die liberalen und sozialistischen Kader geh�rten zur Freimaurerei und wollten gemeinsam die klerikale Partei bek�mpfen. Die W�hler hatten die Kosten dieses philosophischen Streits zu zahlen. Diese Art Situation sollte in Belgien bis zum Jahr 1958 andauern, wo das Land und seine Regionen durch einen Schulkrieg zwischen Katholiken und Freidenkern zerrissen werden sollte.

De Man f�hrte ein bewegtes Leben als sozialistischer Aktivist. Nach einem Krawall gegen das russische Konsulat wird er 1905 von der Universit�t Gent verwiesen und beschlie�t nach Deutschland zu emigrieren. Er nimmt sogleich an einem Sozialistenkongress in Jena teil und wird Journalist bei der LEIPZIGER VOLKSZEITUNG, an der auch Rosa Luxemburg, Karl Kautsky und Leo Trotzki mitarbeiten. 1907 reist er nach London, um dort in den sozialistischen Formationen zu k�mpfen und die tiefgehenden Motivationen der britischen sozialistischen Arbeiter kennen zu lernen. Regelm��ig schickt er Berichte an die LEIPZIGER VOLKSZEITUNG. Diese Erfahrungen machen aus ihm sp�ter einen Ketzer: de Man entdeckte die Unterschiede zwischen den nationalen Arbeiterbewegungen. Diese, so wird er schreiben, k�nnen sich wohl mit marxistischer Dialektik erkl�ren lassen, aber sie k�nnen nicht weggeleugnet werden. 1910 kehrt er auf Wunsch des Sozialistenf�hrers Vandervelde nach Belgien zur�ck. Letzterer bringt ihn in die Gewerkschaftskommission. Sogleich organisiert de Man Reisen nach Deutschland und gewinnt den Ruf, Pangermanist - ein „Alldeutscher“ - zu sein. Dieser Ruf des Pangermanismus begr�ndet gleichzeitig seinen Ruf als Doktrin�r des Marxismus. Der belgische Sozialismus dieser Epoche hat Beziehungen zu allen Sozialismen, seien sie deutscher, russischer, franz�sischer, englischer oder nationaler Tradition. Mit seinem wallonischen Genossen Louis de Brouck�re gr�ndet er eine marxistische Fraktion innerhalb der Partei. Das Presseorgan dieser jungen Marxisten wird DE KLASSENSTRIJD (Der Klassenkampf). Aber diese philosophische Option, das Erbe seines Aufenthaltes in Deutschland, macht ihn nicht blind: die inneren Widerspr�che des belgischen Staates k�nnen sich ganz und gar nicht mit Hilfe der marxistischen Methode l�sen lassen. Und das ist schon der zweite Schritt in Richtung Ketzerei.

Im Juli 1914 will die Sozialistische Internationale, getreu ihren pazifistischen Grunds�tzen, den Krieg verhindern. Nach der Ermordung des franz�sischen Sozialistenf�hrers Jean Jaur�s begeben sich de Man, der Sekret�r der 2. Internationale, Kamiel Huysmans und der SPD-Vorsitzende Hermann M�ller nach Paris, um einen letzten Versuch zu machen, eine Friedensoffensive der Sozialisten �ber alle Fronten hinweg zu organisieren und zu koordinieren. Aber vergeblich: Frankreich und Deutschland mobilisieren. De Man und M�ller selbst werden von franz�sischen Gendarmen verhaftet. Weil sie deutsch sprechen, sind sie „des espions boches“, deutsche Spione. Die Dinge nehmen ihren Lauf: de Man kehrt nach Br�ssel zur�ck und M�ller nach Deutschland. Die Internationale ist tot. Die Ereignisse verh�hnen Hendrik de Mans Idealismus. Aber best�tigen sie nicht im Grunde den Eindruck, den er auf seiner Reise nach England gewonnen hatte?

Hendrik de Man wird Soldat in der belgischen Armee. Da er lesen und schreiben kann, wird er Offizier. Er liest B�cher �ber Milit�rwissenschaft und stellt fest, dass es M�glichkeiten gibt, besser Krieg zu f�hren, indem man sich nicht auf die alten Dogmen zur�ckzieht. Die professionellen Milit�rs sind anderer Ansicht, ganz einfach weil sie Angst vor der Phantasie haben, weil sie unf�hig sind, sich Situationen vorzustellen, die nicht in den Vorschriften vorgesehen sind, und weil sie keine neue Meinung tolerieren. Eine zus�tzliche praktische Erfahrung, die dazu beitr�gt, die kritische Funktionstheorie Hendrik de Mans zu formen. Sein Artilleriepeleton ist beispielhaft organisiert: seine Soldaten k�mpfen nicht nur, sondern lernen das Lesen und Schreiben, unterrichten sich selbst dank einer Bibliothek, die ihr Leutnant aufgebaut hat, und spielen diverse Musikinstrumente.

Im M�rz 1917 schickt der katholische Minister de Broqueville Vandervelde und de Man nach St. Petersburg, damit sie Bericht erstatten �ber die Ereignisse der russischen Revolution. Ihre Reise f�hrt anfangs �ber Schweden, wo sie Trotzki treffen, der eine tiefe Verachtung f�r den „Sozialbourgeois“ Vandervelde zeigt. De Man beurteilt Trotzki falsch: er glaubt, er sei nichts als ein Schw�tzer und K�nstler, ein Literat. Er erkennt in ihm nicht den k�nftigen Organisator der ersten Roten Armee. Vandervelde dachte, dass Lenin ein steriler, von einer fixen Idee Besessener sei, besessen vom Egalitarismus, bereit Spaltung �ber Spaltung wegen seines Eigensinns herbeizuf�hren. De Man hat in der Folge eingestanden, sich get�uscht zu haben: Lenin d�rfte nicht nach den Kriterien der westlichen parlamentarischen Demokratie beurteilt werden, sondern nur nach Kriterien Russlands, des Ostens. Die Sympathien der beiden belgischen Sozialisten geh�ren ohne Zweifel der Regierung Kerenski. Es ist ihre durch und durch humanistische Vergangenheit, die sie den Zynismus und den brutalen Machtwillen der Anh�nger Lenins ablehnen l�sst.

Nach der Russlandreise wird de Man in die Vereinigten Staaten geschickt. Die Kriegspropaganda steht dort auf dem H�hepunkt. De Man hat dort die Macht der �ffentlichen Meinung kennen gelernt, die Rolle der l�gnerischen Pressekampagnen, die Dummheit der Massenhysterie. De Man wird fast der Deutschfreundlichkeit angeklagt, als er, verdutzt, sehr ausweichend eine idiotische, aber typisch amerikanische Frage beantwortet: ist es wahr, dass ganze Z�ge mit belgischen Kindern in gewisse deutsche St�dte geschickt werden, damit ihnen dort Arme und Beine abgehackt werden? Vor einer Gruppe von Akademikern spricht er objektiv �ber Deutschland, �ber seine Kultur und seine Musik. Nach dieser Konferenz wird er wegen Spionage festgenommen! Auf dem Schiff, das ihn nach Europa zur�ckbrachte, h�rt er mit Freude von der Unterzeichnung des Waffenstillstandes.

Im August 1919 schifft sich de Man nach Neufundland ein. Er wird dort einen Betrieb leiten. In einer abgelegenen Bucht trifft er einen Jesuiten, der dort als absoluter Theokrat �ber seine Pfarrkinder, einige Hundert Trapper, herrscht. Der Jesuit empf�ngt den marxistischen Philosophen mit offenen Armen: er ist der erste, mit dem er seit Jahren �ber thomistische Philosophie diskutieren kann. Auf dem Gebiet der Sozialpsychologie wird diese Erfahrung in Kanada �u�erst wichtig f�r die Entwicklung von de Mans Denken. Die Trapper irischen Ursprungs sind die kulturell unterentwickeltsten Wei�en, die de Man jemals gesehen hat. Die Indianer, ihre Nachbarn, sind viel kultivierter, weil ihre Gemeinschaften, obwohl konvertiert, in einer uralten Tradition verwurzelt sind. Diese Tradition gibt ihnen Halt. Die Iren sind entwurzelt und in einen wahrhaft primitiven Zustand zur�ckgefallen. Der Verlust der nat�rlichen organischen Bindungen (hier verstanden als Bindung an das Land der Vorfahren) w�rdigt eine Population auf einen niedrigeren Rang hinab als den der Indianer, die niemals mit den Ergebnissen einer anarchischen industriellen Revolution in Ber�hrung gekommen sind. Das erscheint uns heute nat�rlich, wo die Ethnologie ungeheure Fortschritte gemacht hat, aber f�r de Man, aufgewachsen, im Fortschrittskult, war diese Perspektive gar nicht einleuchtend.

Einige Monate sp�ter wird de Man mit den Wobblies leben, Saisonarbeitern ohne Ausbildung in Alaska, um bei ihnen Lebensbedingungen kennen zu lernen wie sie auch der norwegische Schriftsteller Knut Hamsun beschrieben hat. Die Wobblies in Alaska sind zum gr��ten Teil Skandinavier. De Man hat jedoch nicht wie Hamsun das Grauen des Hungers gekannt. Nachdem er in den Vereinigten Staaten den Ruf eines gef�hrlichen Kommunisten erworben hat, kehrt er nach Belgien zur�ck.

Seine erste Aufgabe wird die Ver�ffentlichung einer Serie von 18 Artikeln �ber Deutschland. Er schreibt: „So wie viele Sozialisten aus allen L�ndern verdanke ich Deutschland die wertvollsten Elemente meiner geistigen Ausbildung. Ich kann mir auch kein �konomisch und intellektuell lebensf�higes Europa vorstellen mit einem Deutschland, das verurteilt sein w�rde, ewig arm, verachtet und erniedrigt zu bleiben.“ Doch die Leidenschaften des Krieges haben sich noch nicht gelegt. Die deutschen Besatzungsbeh�rden hatten die Verschickung von mehreren Hundert wallonischen Arbeitern in die Fabriken des Ruhrgebiets angeordnet. De Man wollte einen Sozialdemokraten, Johann Sassenbach, einladen, damit er �ber den Widerstand der SPD gegen diese Deportationspolitik berichten sollte. Patriotische Arbeiter wollten Sassenbach am Reden hindern, aber Hunderte von Metallarbeitern aus La Louvi�re (Hennegau) jagten sie fort und zerrissen eine belgische Trikolore. Sassenbach konnte reden, aber damit wurde eine Regierungskrise ausgel�st. Im M�rz 1922 erkl�rt sich de Man in einer in K�ln gehaltene Rede gegen Reparationen und gegen die drohende Ruhrbesetzung. Vandervelde gibt ihm Recht, aber will die belgischen Meinungsmacher lieber erst vorsichtig auf diese pazifistische Option vorbereiten. De Man akzeptiert und versteht den Vorwurf, den ihm Vandervelde macht, aber zieht es vor, sich von der Partei zur�ckzuziehen, weil - wie er sagt - die sozialistische und pazifistische Ethik nicht vor den kriegsl�sternen Launen der Meinungsmacher zur�ckweichen darf. De Man reicht gleichzeitig sein Entlassungsgesuch als Reserveoffizier ein. Diese Geste war in der Tat eine Herausforderung an den Zeitgeist.

De Man kehrt jetzt nach Deutschland zur�ck und l�sst sich in Elberstadt bei Darmstadt nieder. Von 1922 bis 1926 wird er Vorlesungen an der „Akademie der Arbeit“ in Frankfurt am Main halten. Dort wird er sein theoretisches Werk erarbeiten. Die beeindruckende Zahl seiner Schriften f�hrt dazu, dass viele seiner Genossen ihn f�r den gr��ten sozialistischen Theoretiker seit Marx halten. Im Herbst 1929 wird er zum Professor f�r Sozialpsychologie an der Universit�t Frankfurt ernannt. Das Fach ist im Kommen. Es ist noch nicht Examensstoff, was de Man freie Hand l�sst, seine Vorlesung so zu gestalten wie er will. De Man beobachtet aufmerksam die „Kulturbouillon“, die „Ideenwerkstatt Frankfurt“. Er wirft den Philosophen der Frankfurter Schule „ihre Unausgeglichenheit, ihre orientierungslosen Analysen“ vor. Sehr richtig schreibt er: „Sicher gab es besonders unter den Philosophen, den Wirtschaftswissenschaftlern und den Soziologen brillante K�pfe, aber alles in einem machte den Eindruck eines Pand�moniums, eines tollen Durcheinanders und eines gewaltigen Gehirnmechanismus im Leerlauf…Die Atmosph�re sagte mir nicht zu und ich f�hlte mich dort am letzten Tag beinahe so fremd wie am ersten.

Auf rein politischer Ebene h�lt de Man die Sozialdemokratie f�r unf�hig, den aufkommenden Nationalsozialismus wirksam zu bek�mpfen. Er regt zaghaft Ma�nahmen an: er organisiert mit Erfolg ein Festspiel mit 2000 Mitwirkenden und 18.000 Zuschauern. Wie de Man schreibt, bek�mpft man den Faschismus nicht mit antifaschistischen Reden, sondern durch mehr Sozialismus; diese sozialdemokratischen Festspiele sollten den nationalsozialistischen Festspielen Konkurrenz machen. Zu dieser Zeit machen sich bei de Man auch erste Einfl�sse des konservativ-revolution�ren „Tat“-Kreises um Hans Zehrer bemerkbar. Im April 1933 findet in seiner Wohnung in Frankfurt eines der letzten Treffen der Reichsbanner-F�hrer statt, einer Organisation, deren Verdienste er in seinen Schriften herausgestrichen hat. Vergeblich. Die Massen folgen nicht. Die Sozialdemokratie hat f�r sie keine Anziehungskraft mehr. De Man verl�sst jetzt das Reich. Seine B�cher werden �ffentlich verbrannt, aber im Mai 1933 wird er eingeladen, seine Vorlesungen wieder aufzunehmen! Er weigert sich und am 1. September ist er endg�ltig entlassen. K�nftig wird er in Br�ssel Vorlesungen halten, an der Universit�t, an der er so schlechte Noten bekommen hatte.

Der belgische Sozialismus war ebenso verbraucht wie die deutsche SPD, aber es gab keinen gef�hrlichen Gegner: es gab keinen belgischen Nationalsozialismus. 1932 waren wilde und spontane Streiks sorelscher bzw. luxemburgischer Pr�gung ausgebrochen. Die sozialistischen „Maisons du Peuple“ (Volksh�user) wurden von Streikenden besetzt. Die „Internationale Socialistische Anti-Oorlogsliga“ (Antikriegsliga) l�sst ihre Aktivisten mit „Drei-Pfeile-Armbinden“ aufmarschieren und st�rmt die B�ros der reaktion�ren Zeitungen. Unter ihnen ist der junge Rechtsanwalt Paul-Henri Spaak. Ungeachtet dieses jugendlichen Aufbruchs unterst�tzen die alten Kader der Partei die extremistischen Forderungen nicht und begreifen nicht, dass die deutsche Sozialdemokratie zerfallen ist, weil sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat. Die belgische sozialistische Partei geht ebenfalls an ihren inneren Widerspr�chen zugrunde: In den Spalten ihrer offiziellen Zeitung LE PEUPLE (heute wegen Lesermangels verschwunden) predigt ein gewisser Jexas, von zweifelhafter griechischer Herkunft, den „heiligen Krieg“ gegen die „deutschen und italienischen Faschismen“, w�hrend die Partei, getreu ihrer pazifistischen Tradition, weiterhin die Kredite f�r die Armee ablehnt.

Um diesen Wirrwarr zu entwirren, beauftragt Vandervelde de Man mit der Bildung einer Studiengruppe. Dort wird der ber�hmte „Plan der Arbeit“ oder „de Man-Plan“ ausgearbeitet. Dieser Plan findet international Widerhall. Er wird der Eckstein dessen, was man die planistische Ideologie genannt hat. Aber was ist der „Plan“? F�r de Man und seine Freunde ist er eine Strategie, um mit allen gesunden Kr�ften der Nation die wirtschaftliche Krise und die schrecklichen Folgen, die sie von 1929-1934 in Belgien hervorgerufen hat, zu bek�mpfen. In Wirklichkeit wollte de Man eine neue Partei schaffen, die die Rettung der Nation zum Ziel haben sollte, ungeachtet der traditionellen verkalkten politischen Gruppen und gegen die Interessen der parlamentarischen Parteien. De Man war indessen gen�gend intelligent und realistisch, um er erkennen, dass die Gr�ndung einer „Partei des Staatswohls“ in Belgien technisch undenkbar war. Da nun einmal die Belgische Arbeiter-Partei POB/BWP existierte, konnte sie ihm ebenso gut als Sprungbrett dienen. Zumal de Man sein Leben der sozialistischen Sache verschrieben hatte. Die Funktion�re folgten ihm nur m�rrisch, die harten und reinen Marxisten wie sein alter Kampfgenosse Louis de Brouck�re wenden sich endg�ltig von ihm ab. De Man will die Arbeiter, die Mittelklassen (einschlie�lich der kleinen Unternehmer) und die Bauern, die besonders von der Krise betroffen sind, in einer vereinigten Front gegen das „vagabundierende und kosmopolitische Kapital“ wirksam zusammenfassen. Dieses Ziel gef�llt den jungen F�hrern der sozialistischen Gewerkschaften. Es ist die Begeisterung der jungen Kader der Partei, welche die Gegner des Plans zuletzt das Projekt de Mans akzeptieren l�sst. Im fl�mischen Teil des Landes wird Hermann Vos, ein antiklerikaler fl�mischer Nationalist, nachdem Bedenken wegen seiner politischen Herkunft ausger�umt sind, de Man helfen, sich des nationalen Faktors bewusst zu werden. Das verleiht dem Plan zus�tzlich Dynamik. De Man wird von den Massen verehrt werden: „Du bist unser Retter“, schreien die Frauen der Arbeiter und strecken ihm ihre Kinder entgegen. Das wird selbstverst�ndlich den tiefen Neid der hochm�tigen Advokaten und der herzlosen Parteifunktion�re hervorrufen, die die Partei bis dahin leiteten.

Der Plan ist auch die Synthese aller philosophischen und politischen Ideen de Mans. Nachdem wir das belegte Leben des Chefs der belgischen Sozialisten skizziert haben, wenden wir uns im zweiten Teil des Artikels der Bedeutung seiner Theorien f�r das Verst�ndnis der politisch-intellektuellen Entwicklung der ersten H�lfte unseres Jahrhunderts zu. In einem weiteren Abschnitt werden wir die internationalen Auswirkungen der Ideen de Mans besprechen.

In seiner Arbeit „Ni gauche ni droite. L`id�ologie fasciste en France“ (1983) macht der franz�sisch-israelische Schriftsteller Zeev Sternhell de Man zum Hauptf�rderer einer Faschisierung der Gesellschaft und der sozialistischen Bewegungen. Wir lehnen uns gegen dieses Unterfangen auf, das darauf abzielt, den nicht einzuordnenden de Man in die Zweiteilung Faschismus-Antifaschismus einzuordnen. Sicher, ein Gutteil der von Sternhell ausgef�hrten Fakten ist oft richtig, aber sie sind auch losgel�st von ihrem Zusammenhang, zusammengestellt in suggestiver Art und Weise und solcher Art verquickt, dass sich dem Leser die Vision eines in der europ�ischen Gesellschaft allgegenw�rtigen Faschismus darbietet. Um diese Kritik zu st�tzen, gen�gt es ganz einfach festzustellen, dass Sternhell keine einzige niederl�ndisch abgefasste Quelle anf�hrt. Die Entwicklung de Mans entgeht ihm, weil sich im Jahre 1940 Teile der sozialistischen Partei in die Kollaboration mit den deutschen Nationalsozialisten st�rzten und sich teilweise auf die Ideen ihres ehemaligen Chefs beriefen. De Man selbst hielt Abstand, nachdem er diese Orientierung unterst�tzt hat. Diejenigen, die in der Kollaboration bleiben, trennen sich von ihm, ohne Krach, ohne Exkommunikation und indem sie es in verschiedenen in Niederl�ndisch abgefassten Artikeln und B�chern erkl�ren. Sternhell hat sie ganz einfach nicht gelesen; er ist folglich nicht imstande, die fl�mische Wirklichkeit zu begreifen und l�uft Gefahr, de Man als einen „franz�sischen“ Denker wie die anderen zu begreifen, einfach weil er einen Teil seines Werkes in Franz�sisch abgefasst hat. Im �brigen kriminalisiert Sternhell (gl�cklicherweise ohne messianisches Vokabular) mehr oder weniger jede �berlegung, die sich au�erhalb zweier oder dreier fest eingegrenzter Zonen stellt: eines entpolitisierenden Positivismus (dem Kautskyismus eigen), eines Liberalismus, der seinen nebul�sen Idealismus nicht verliert, und eines unbestimmt reformistischen Marxismus, gefangen in seiner �berholten Orthodoxie. F�r Sternhell f�hrt de Man zur Rechtfertigung des Hitlerismus. Nichts ist falscher. Wir werden versuchen, das zu beweisen.

De Man wollte �ber den Positivismus des Marxismus und der Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie hinausgehen. Auf dem Wege �ber die Sozialpsychologie wird de Man den Sozialismus neu erkl�ren. Er wird nicht von der Analyse der �u�eren Umst�nde des Menschen ausgehen, sondern von einer „Doktrin der Mobilen“, d.h. vom Problem der Motivation. Die Erfahrung des Aktivisten, des Artillerieleutnants, des Gef�hrten der Wobblies und der irisch-kanadischen Trapper wird bei dieser Umorientierung die entscheidende Rolle spielen. Um ein Schlagwort zu gebrauchen, sagen wir, dass der theoretischen Graumalerei die Frische des Lebens entgegensteht. Aber diese Frische ist schwer theoretisch zu umrei�en: wenn man die elementaren Tatsachen des Lebens in fassliche Sprache �bersetzt, gebraucht man oft (und ungl�cklicherweise) eine sehr komplizierte Sprache. Es gen�gt das Beispiel Heidegger. Die Schriften von de Man haben bisweilen die unertr�gliche kompilatorische Art des Professors. F�r de Man ist es nicht notwendig, den „verstorbenen Marx“ zu beurteilen, sondern den „lebenden Sozialismus“. Der Sozialismus muss der Versteinerung entgehen durch eine Osmose mit den neuesten Ideen, namentlich mit dem Dynamismus der sozialistischen Revolution�re: Sorel, Labriola, Lagardelle, Roberto Michels („Das eherne Gesetz der Eliten“). Einen gro�en Einfluss auf das Werk de Mans hatten die Arbeiten der modernen Sozialpsychologie (Wundt, Freud). Keyserling, Bergson und Alain haben gleichfalls seine kritische Haltung gegen�ber dem Marxismus beeinflusst.

Die Kritik de Mans l�sst sich in zwei wesentlichen Punkten kurz zusammenfassen: zun�chst die Kritik des marxistischen Determinismus und dann die Entdeckung der Werte, individuelle Reaktionen entstehen lassend. Diese Werte sind von der Psychologie entdeckt worden. Seit 1921, in seinen Schulungskursen f�r belgische sozialistische Aktivisten, macht de Man auf den Bankrott der Systeme - sowohl der liberalen wie der marxistischen - aufmerksam, die die Existenz eines „rationalen“ Individuums erfordern, das die wirtschaftliche Planung, die wohlbedachte Wohlstandsforschung, die Profitmaximierung lenken. F�r de Man ist der Tatmensch eher „irrational“ motiviert. Die Klassen sind Schicksalsgemeinschaften und nicht notwendigerweise Naturgemeinschaften. Demselben Milieu anzugeh�ren bedeutet nicht, automatisch die gleiche Psychologie, das gleiche Verhalten, die gleichen Verwandtschaften zu haben. De Man unterscheidet also ganz klar - und das ist f�r seine Zeit etwas Neues - die Psychologie von der Soziologie. Diese Ideen de Mans werden sich niederschlagen in seinem in Deutsch abgefassten Werk „Zur Psychologie des Sozialismus“ (1926). Dieses Werk beginnt mit dem Vorstellen der „Theorie der Mobilen“ als dem Hauptproblem des Sozialismus. F�r de Man trachtet die Arbeiterklasse wesentlich danach, sich eine W�rde zugestanden zu sehen. Im Gegensatz zu Kautsky bejaht de Man, dass der Wunsch, sich eine W�rde zugestanden zu sehen, der Bewusstwerdung der wirtschaftlichen Gr�nde der Proletarisierung vorhergeht. Kautsky sagt das genaue Gegenteil. F�r de Man ist gerade der rationalistische Aberglaube das Hauptmotiv f�r den Zusammenbruch des sozialdemokratischen Marxismus. Dieser Aberglaube ist besonders wahrnehmbar bei den Generalst�ben der Parteien, zusammengesetzt aus Intellektuellen und Juristen. De Man schlie�t daraus, dass die Macht der Parteiorganisation oft das Haupthindernis f�r die Verwirklichung seines Ziels wird. „Zur Psychologie des Sozialismus“ ist folglich eine Abrechnung mit der b�rokratischen Abweichung, mit dem Vulg�rmarxismus, mit dem marxistischen Rationalismus und Hedonismus. De Man schreibt, immer in „Zur Psychologie des Sozialismus“, dass aller Marxismus, im Jahre 1926, ein Vulg�rmarxismus war, mit Ausnahme desjenigen, der sich beschr�nkte auf biographische Studien und auf Textkritik. Das ist immer noch aktuell und de Man f�gte hinzu, dass diese akademischen Aufgaben ohne Einfluss auf die Geschicke w�ren. Den Vulg�rmarxismus mit Hilfe von Zitaten zu widerlegen, ist ein unn�tzes Unternehmen: Der Marx, der im Glauben der Massen lebt, wird nicht besiegt werden k�nnen durch den Marx, der nur in den Regalen der Bibliotheken steht. De Man meint von nun an, dass es notwendig ist, den Marxismus zu liquidieren: sowohl den vulg�ren (weil er falsch ist) als auch den „reinen“ (weil er kein Leben mehr hat). In seiner Argumentation findet man die Namen Spengler, Sombart, Proudhon.

Der Zusammenbruch der deutschen Sozialdemokratie r�hrt f�r de Man vom Krieg und von der russischen Revolution her. Vor diesen Ereignissen glaubten die Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie, dass sie die volle Wahrheit in Sachen Interpretation und Exegese des Denkens ihrer Lehrmeister Marx und Engels, Bebel und Kautsky bes��en. Seitdem hat es in Deutschland nicht einmal eine Handvoll von Verteidigern des reinen deutschen Marxismus gegeben, w�hrend sich in Russland der Kommunismus, die bedingungslose Herrschaft des Vulg�rmarxismus, durchsetzte. Die russische Revolution scheint die deutschen Marxisten zur �nderung ihrer Pl�ne gezwungen zu haben. Vielleicht, weil Deutschland nicht mehr das einzige Vehikel des Sozialismus war? Die angels�chsische Welt war der Schwerpunkt der Weltwirtschaft geworden. Ihre intellektuellen Traditionen standen dem Hegelo-Marxismus fremd gegen�ber. Ein Deutschland, Mittelpunkt der sozialistischen Idee, war also das, wovon die Sozialdemokraten tr�umten, und das war nicht mehr denkbar…Diese Feststellung musste eine gewisse M�digkeit hervorrufen und dies erkl�rt die Unt�tigkeit der sozialistischen Aktivit�ten im Augenblick der Macht�bernahme durch Hitler. De Man h�tte vielleicht, wenn er noch leben w�rde, die These von Sebastian Haffner gutgehei�en, der behauptet, dass die spartakistische Revolution 1918/1919 einen nationalen Einschlag hatte: aus Deutschland den Vork�mpfer des reinen Marxismus zu machen in einer Welt, die undurchdringlich geworden zu sein schien f�r eben diese Reinheit. Niekisch hat �brigens auch an diese M�glichkeit geglaubt. Haffner, Niekisch, de Man, Sorel: vier Autoren, die parallel gelesen werden m�ssen, wenn Fehlinterpretationen der politisch-intellektuellen Geschichte der ersten vier Jahrzehnte unseres Jahrhunderts vermieden werden sollen. Hoffentlich wird diese vierfache Lekt�re eines Tages zum Thema einer Doktorarbeit. Sternhell spricht von der heroischen Natur des De Man-Planes. Der Ausdruck ist zweifellos ein bisschen zu stark, aber der Plan ist trotzdem voluntaristisch. Die Sozialdemokratie alten Stils, sowohl die deutsche wie die belgische, konnte weder die Krise meistern noch den Aufstieg der autorit�ren Regimes faschistischer oder nazistischer Art bremsen. Der Reformismus ist f�r de Man nichts als Opportunismus. Er kennzeichnet eine Verb�rgerlichung der Kultur. De Man hat niemals geschrieben, dass er „Der Arbeiter“ von Ernst J�nger gelesen habe. Obgleich die Vergangenheit der beiden M�nner durchaus verschieden ist, gibt es 1932/33 eine Art �bereinstimmung. J�nger ist mehr Theoretiker und �sthet und de Man bleibt Praktiker. Ohne Zweifel steht ihm Sorel n�her.

Der Plan entspringt somit dem Willen, einen Sozialismus jenseits des Marxismus, also keinen systematisch und steril „antimarxistischen“, in die politische Wirklichkeit umzusetzen, einen Sozialismus also, der befreit w�re von allen ideologischen Schlacken, die ihm die Exegeten von Marx und Engels aufgepfropft hatten.

Sehen wir uns jetzt konkret an, was der Plan in Belgien wirklich beinhaltete. Ausgehend von der Feststellung, wie wir schon ausdr�cklich betont haben, dass der Reformismus ein totaler Misserfolg war, bedient sich de Man in dem Versuch, die Auswirkungen dieses Fiaskos auf die tats�chliche Lage der Arbeiterschaft aufzuzeigen, eines leicht verst�ndlichen Bildes: das des „nationalen Kuchens“. Der Reformismus, der heute noch sein Unwesen treibt, m�chte den Arbeitern eine gr��ere Portion Kuchen geben. Doch die Krise verringert tagt�glich den Umfang des Kuchens. Nach Auffassung de Mans muss man also einen gr��eren Kuchen backen. Dazu sind allerdings strukturelle (und demnach revolution�re) Reformen erforderlich; Reformen, die lediglich die Verteilung des bereits Bestehenden zum Ziel haben, sind nicht gefragt. Der Raum, in dem die Verwirklichung des Plans vonstatten gehen soll, kann nur die Nation sein - nicht eine verschwommene „Internationale“. Das Interesse der Allgemeinheit muss an die Stelle der Klasseninteressen treten. Damit ein solcher Plan auch verwirklicht wird, m�ssen dessen Ziele durch die Erarbeitung eines Kalenders genau festgesetzt werden. Die Verwirklichung schloss jedes Ausf�hrungstempo, das dem Zufall �berlassen w�re, selbstverst�ndlich aus: Diese Forderungen verlangten ipso facto einen starken Staat. Aus diesem Grund stempeln die Gegner de Mans ihn als verkappten Faschisten ab, wobei �bersehen wird, dass der Faschismus einen starken Staat auf gesetzgeberischem Wege fordert, w�hrend der Planismus eine m�chtige Exekutive herbeif�hren will unter Beibehaltung der Kontrollbefugnisse des Parlaments. Im �brigen zielt der Planismus vor allem auf die Verteidigung der nationalen Interessen gegen die Banken und die Gro�konzerne ab. In den Augen de Mans ist der Planismus mithin das einzige Bollwerk gegen den Aufstieg der Faschismen, weil er auf einer Auslegung, einer Analyse der Wurzeln dieser Faschismen beruht. Die Berufspolitiker der deutschen Sozialdemokratie waren nicht in der Lage gewesen, die sozialen Mechanismen in der gro�en Wirtschaftskrise zu verstehen: die Weigerung der Mittelklassen, ins Proletariat abzugleiten. Sollte er �berleben, musste der Sozialismus diese „Ablehnung der Proletarisierung“ ber�cksichtigen und Programme vorschlagen, die f�r die ganze Bev�lkerung g�ltig w�ren, d.h. f�r alle Klassen, die sich von der gro�en Krise bedroht f�hlten. In Belgien konnte sich diese Politik der Unterst�tzung nicht nur durch die Gewerkschaften erfreuen, sondern auch durch den gesamten linken Fl�gel der Partei unter Paul-Henri Spaak. Dank dieser Unterst�tzung durch die Ultralinken konnte sich der Plan als jung und dynamisch profilieren. Im Jahre 1934 strebte de Man die Schaffung einer „Front du Travail“ (Arbeitsfront) an, die sozialistische wie christdemokratische Gewerkschaftler und Arbeiter eingliedern sollte. Doch der damals klaffende ideologische Graben hinderte de Man daran, au�erhalb seiner Partei die notwendigen starken St�tzen zu finden, die f�r die Verwirklichung seiner Projekte unerl�sslich gewesen w�ren. Trotz einer modernen, zielstrebig angelegten, fachkundig betriebenen Propaganda, die auf Methoden der Massenpsychologie zur�ckgriff (daher eine gewisse Verwandtschaft mit dem Nationalsozialismus), f�hrte dieser Mangel an Unterst�tzung zum Fiasko. Um eine Regierung bilden zu k�nnen, sah sich de Man gezwungen, mit seinen politischen Gegnern zusammenzuarbeiten und sich auf Zugest�ndnisse einzulassen. Vor allem wurde das Projekt einer Verstaatlichung der Banken unter den Teppich gekehrt. Das war aber der Eckpfeiler des Plans! Dem verbitterten de Man wurde auf einmal klar, dass sein Plan niemals in einem parlamentarischen Rahmen verwirklicht werden k�nnte.

De Man hatte keine institutionellen Reformen vorgesehen, die ausgereicht h�tten, seinem wirtschaftspolitischen Planungskonzept die n�tige Basis zu verschaffen. Er wollte lediglich dem Ministerrat 5 Kommissare hinzuf�gen, um die Zust�ndigkeiten der Exekutive zu erweitern. Dem Regierungschef Paul van Zeeland war es voll gelungen, die Bombe, die der Plan darstellte, unsch�dlich zu machen. De Man, mittlerweile Vizeparteichef, war Minister, ohne etwas reformieren zu k�nnen! Spaak war �brigens auch Minister geworden - was die Ultralinken erfreute und beruhigte. Die sozialistische Partei zerstritt sich �ber Fragen, die f�r die Zukunft des Landes eigentlich belanglos waren: Unterst�tzung oder Neutralit�t gegen�ber der spanischen Republik, Neutralit�t Belgiens oder B�ndnis mit Frankreich. Schon 1935 hatte de Man in all diesen Fragen eine kompromisslose Neutralit�t empfohlen. Seine Beziehungen zu Vandervelde verschlechterten sich, weil die jeweiligen Standpunkte in diesen Fragen auseinander gingen. Nur Spaak verteidigte die belgische Neutralit�t und verwarf jeden „platonischen“ Internationalismus.

Obgleich de Man und van Zeeland in derselben Regierung sa�en und die Wirtschaftskrise durch einen technokratisch verwalteten Dirigismus �berwinden wollten, lag eine tiefe Kluft zwischen ihnen. Gegenw�rtig bezichtigen die fl�mischen Linksaktivisten, die am Rande der „Socialistischen Partij“ t�tig sind, de Man des „Technokratismus“. Nach der allgemeinen Verbreitung der Thesen von Habermas, Marcuse und Fromm ist dieser Vorwurf gang und g�be geworden, fast ebenso verbreitet wie der des „Faschismus“, nur mit modernerem Akzent. F�r diese strikt „metapolitisch“ denkende Linke leiten de Man und van Zeeland die �ra des Technokratismus in Belgien ein. Der Amerikaner James Burnham hatte vom „Regime der Manager“, von der „managerial revolution“ gesprochen, die in den USA mit dem „New Deal“ Roosevelts einsetzte. Laut Burnham werden „Manager“ die alten Macht aus�benden Eliten, die sich aus Intellektuellen und Anw�lten zusammensetzten, allm�hlich verdr�ngen, und zwar sowohl im NS-Staat wie auch im sowjetischen System oder in der liberalen Demokratie. Diese „managers“ sind weder Finanzleute noch Industrielle noch herk�mmliche Politiker. Doch hatte de Man ein europ�isches Konzept im Sinne, dessen Grundgedanke (um wie Werner Sombart zu sprechen) ein Humanismus und eine Ethik waren, die mit einem asketischen Willen und einer Mentalit�t einhergingen, die an den „Preu�ischen Sozialismus“ � la Bebel grenzten. Van Zeeland dachte seinerseits an ein amerikanisches Modell. Auf gesellschaftlich-ethischem Gebiet r�umte de Man der Kreativit�t und der Arbeit den Vorrang ein, gleichg�ltig, ob sie von den Arbeitern, den Handwerkern, den Bauern oder den kleinen Unternehmern kamen. Van Zeeland erschien die Rolle der Finanzverwalter und der Banken vorrangig. Die Perspektive de Mans bleibt also national. Die van Zeelands zeugt von einem Internationalismus, der in Washington sein Mekka hat. Zweifellos haben beide M�nner, jeder auf seine Weise, Keynes ausgelegt und dessen Gedanken in die Praxis umsetzen wollen.

Der Plan l�ste eine riesige Hoffnungswelle in der werkt�tigen Welt Belgiens aus. Es war die Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft, an der jedermann teilhaben sollte. Wie wurde er dagegen im Ausland aufgenommen?

In Holland hatten die Thesen de Mans schon 1930 eine starke Auswirkung auf die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP). In Frankreich stellte 1934 Paul Desjardins de Man die Abtei Pontigny zur Verf�gung, damit er seine Thesen darlegen k�nne. Diese internationalen Treffen von Pontigny wurden die Ausgangsbasis, von der aus die Ideen de Mans �ber ganz Europa ausstrahlen sollten. Seit 1929 sah sich der franz�sische Sozialismus einer doppelten Krise ausgesetzt: einer wirtschaftlichen und einer politischen. Den Linken gelang es nicht, aus ihren Wahlerfolgen des Jahres 1932 Kapital zu schlagen. Dazu litt die Partei zu sehr unter inneren Streitigkeiten zwischen „Neos“ (Marcel D�at), „Archeos“ und „Attentisten“, denjenigen, die sich abwartend verhielten. Unter allen diesen Tendenzen wird es die Gruppe „Konstruktive Revolution“ sein, die die Schriften de Mans in Frankreich ver�ffentlichen wird. Nach Auffassung des stellvertretenden Vorsitzenden der belgischen Arbeiterpartei war diese Gruppe weniger ideologisch vernagelt als die anderen und deswegen eher in der Lage, seine Ideen in nicht-sozialistischen Kreisen zu verbreiten.

Im September 1934 legt de Man also seine Thesen anl�sslich eines Kolloquiums in der Abtei Pontigny vor. Der Kern dieser Thesen kann in der Form eines Gegensatzes veranschaulicht werden: alte deterministische Einstellung contra Politik des Willens (Voluntarismus). In diesen 14 Thesen stellt de Man fest, dass sich der Kapitalismus zu Ende entwickelt hat und prangert das Primat des Finanzkapitals �ber das Industriekapital an. In seiner 3. These unterstreicht er, dass der marxistische Determinismus ein symmetrischer Abklatsch des kapitalistischen Determinismus ist, da beide ein Determinismus der „unsichtbaren Hand“ sind. Wie in diesem Beitrag schon mehrmals erw�hnt, war der Voluntarismus - ein bewusstes oder unbewusstes Erbe Nietzsches - in den Augen der eifrigsten Anh�nger des Plans, dazu berufen, den vom Marxismus aus dem 19. Jahrhundert �berlieferten Determinismus abzul�sen. Vielleicht stellt dieser �bergang vom Determinismus zum Voluntarismus das Hauptmerkmal der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts dar. Infolge des Zusammenbruchs der Faschismen 1945 erlebte dieser Voluntarismus eine Wiedergeburt innerhalb der linken Studentenschaft der Jahre 1967-1970. 1934 erlebten die Thesen de Mans einen wahren Triumph in Paris. Zu den fr�hesten Anh�ngern seines voluntaristischen, heroischen und mystischen Sozialismus z�hlen, neben Lefranc und D�at, M�nner wie Bertrand de Jouvenel und Thierry Maulnier. Die Ideen de Mans werden in alle franz�sischen Gruppierungen, die nach einem Dritten Weg suchen, hineinsickern. Wenn man einmal von den �berl�ufern aus der sozialistischen Gewerkschaft SFIO - wie D�at und seinen Freunden - absieht, werden planistische Ideen sp�ter von der personalistisch-christlichen Zeitschrift ESPRIT unter Emmanuel Mounier, von den j�ngeren Traditionalisten aller m�glichen Schattierungen, z.B. den Korporativsten um die Zeitschrift ORDRE NOUVEAU oder der Mannschaft der pluridisziplin�ren Zeitschrift L`HOMME NOUVEAU von Georges Roditi sowie vom kurzlebigen Wochenblatt LUTTE DES JEUNES, gegr�ndet von Bertrand de Jouvenel, erfolgreich vertreten. In dieser Konstellation fand man, ohne festen Zusammenhang, die Namen von Denis de Rougement, Alexandre Marc, Jean Lacroix, des sp�teren Ministers von de Gaulle Michel Debr�, des Sorel-Anh�ngers Pierre Andreu, Pierre Drieu la Rochelle, Robert Marjolin, Alfred Fabre-Luce u.a. Schon 1935 hatte Roditi de Gaulle gelobt. Bertrand de Jouvenel entfernte sich schlie�lich von de Man und nahm eine radikale Position ein, die kurz vor dem Krieg und w�hrend des Krieges in einen technokratischen Faschismus m�nden sollte, bis er, von seinen Illusionen und Entt�uschungen ern�chtert, in der franz�sischen Gruppe „Futuribles“ mitwirkte. Die planistischen Ideen fanden in Frankreich ein so starkes Echo, dass man nicht nur ihre Ein- und Auswirkungen auf den werdenden franz�sischen Faschismus studieren sollte (D�at entwickelte aus der neosozialistischen PSDF 1941 die faschistische Sammlungspartei RNP); ein ganzes Buch w�re notwendig, um eine vollst�ndige �bersicht der nonkonformen Geisteswelt im Frankreich der 30er Jahre zu geben. Denn die ganze nonkonforme F�hrungsschicht hat de Man studiert.

Und was geschah in Deutschland? Nach Ansicht des Franzosen A. Dauphin-Meunier k�nnte man die Thesen de Mans mit denen Rathenaus vergleichen. Ungeachtet seiner hohen Position in der Welt der Industrie, der Finanz und der Technik verurteilte Rathenau in seinen Schriften die „mechanisierte Welt“, die „eingesperrt sei im Fanatismus einer seelenlosen Wissenschaftsverg�tterung“. Doch ist in den B�chern de Mans nirgendwo von Rathenau die Rede. In „Die dreifache Revolution“ �bt Rathenau eine scharfe Kritik am Liberalismus und betrachtet gleichzeitig den Marxismus als ungeeignet, der neuen Zeit zu begegnen. F�r Rathenau - wie sp�ter f�r de Man - war ipso facto eine Reform des Staates Voraussetzung. Dauphin-Meunier gegen�ber best�tigte de Man, dass er Rathenau enorm viel verdanke. Nicht Stalins F�nfjahrespl�ne haben also den belgischen Sozialistenf�hrer angeregt, sondern die Projekte von Rathenau. In seiner Pontigny-Zeit verwarf de Man noch den „kulturellen Pessimismus“ Rathenaus. Die Mechanisierung (Amerikanisierung) beunruhigte Rathenau. De Man allerdings glaubte an die seelische Kraft des Einzelnen. Er war ein Lehrer der Energie, auf sportlichem wie auf intellektuellem Gebiet, und glaubte fest an die unterschwelligen M�glichkeiten seiner Sch�ler. Warum hat er Rathenau nie erw�hnt? Vielleicht, weil der Sozialist de Man nicht mit dem Gro�kapitalisten Rathenau in einen Topf geworden werden wollte.

Nachdem er als Finanzminister in schwierigen Jahren t�tig war, zeigte sich de Man immer entt�uschter von den Mechanismen des parlamentarischen Systems. 1936, anl�sslich der Wahlen in Br�ssel, machen alle Parteien Front, um die Rexisten von Degrelle daran zu hindern, massenweise ins Parlament zu kommen. Der Kardinal von Roey scheut sich nicht, in den Kirchen verk�nden zu lassen, dass es eine Tods�nde sei, f�r Degrelle zu stimmen! Ohne diese Einmischung h�tten zahlreiche Katholiken Degrelle ihre Stimme gegeben. Im selben Augenblick verdoppeln die fl�mischen Nationalisten und die Kommunisten die Zahl ihrer Sitze. Der alternde Vandervelde ereifert sich gegen de Man und Spaak. Seiner Ansicht nach verrieten die beiden Planisten die heilige Sache der spanischen Republikaner, indem sie einer strikten Neutralit�t in diesem Krieg das Wort redeten. Finanzielle Skandale stiften Verwirrung innerhalb der katholischen und liberalen Partei - zur gro�en Freude der Rexisten. In dieser verworrenen Zeit trifft sich de Man regelm��ig mit K�nig Leopold III. Zwischen beiden M�nnern entsteht eine echte Freundschaft. Beide f�llen eine pessimistische Diagnose �ber die Zukunft der parlamentarischen Demokratie und ihre Korruptheit. 1937 w�nscht sich Leopold III. de Man als Premierminister. Doch nach unendlichem Hin und Her wird de Man abermals Finanzminister. In Flandern findet de Man begeisterte Anh�nger unter den jungen F�hrerschaft der Partei, darunter Michel Tommelein. Mit ihm nehmen die „Jungen Sozialistischen Gardisten“ an allen fl�mischen Nationalfeiern teil, so z.B. am Guldensporendag (11. Juli), der an die Niederlage der franz�sischen Ritterschaft (1302) gegen die Handwerker von Br�gge und Ieper (Ypern) erinnert. Ein Fl�gel der Partei befindet sich somit auf bestem Wege zur Nationalisierung.

Im Jahre 1938 freut sich de Man �ber das Ergebnis des M�nchener Abkommens. F�r das Pariser Blatt L`OEUVRE schreibt er eine Reihe von Artikeln f�r den Frieden. Mit dem Einverst�ndnis des K�nigs bereist er alle europ�ischen L�nder, vor allem die des Osloer Paktes (Benelux und Skandinavien). Zu seinen aufmerksamsten Zuh�rern z�hlen der norwegische Minister Koth und der franz�sische Schriftsteller Jules Romains. Dieser r�t ihm, den frankophilen Diplomaten Otto Abetz in Berlin aufzusuchen. De Man wird jedoch weder mit Ribbentrop noch mit Hitler ein Gespr�ch gew�hrt. In Italien trifft er sich mit dem italienischen Au�enminister Ciano, der ihm erkl�rt, dass Italien nach einem g�nstigen Vorwand und den notwendigen B�ndnissen sucht, um seine Rechnung mit Frankreich endg�ltig zu begleichen. Zu diesem Zeitpunkt ist de Man zu der Ansicht gelangt, dass die Achsenm�chte eine europ�ische Friedenskonferenz nicht w�nschen.

Ende 1938 stirbt „Vater“ Vandervelde. De Man wird an die Spitze seiner Partei gew�hlt, weil er als einziger gen�gend Prestige und Energie hat, um dieses Amt zu bekleiden. Den militanten Antifaschismus der unteren F�hrungskr�fte der Partei bezeichnet de Man als „konservativ“! F�r ihn ist eine solche Einstellung die Weigerung, die anstehenden Probleme richtig zu verstehen und anzupacken. Im September 1939 wird de Man Minister ohne Gesch�ftsbereich in einer Regierung, die sich auf das Schlimmste gefasst macht. In Flandern werden seine Ideen in der hervorragenden Zeitschrift LEIDING verbreitet, die Sternhell bedauerlicherweise nicht lesen konnte. Diese Zeitschrift sprach sich f�r eine kompromisslose Neutralit�t aus und trat ein doppeltes pazifistisches Erbe an: dasjenige der Sozialistischen Internationale und dasjenige des fl�mischen Nationalismus. Letzterer hatte in den 20er Jahren die franz�sisch-belgischen Milit�rabkommen vehement angegriffen. Eines seiner beliebtesten Schlagworte war: „Kein Tropfen fl�mischen Blutes f�r Frankreich!“ Im j�ngst entbrannten Konflikt eine Auseinandersetzung zwischen Faschismus und Antifaschismus zu erblicken, w�re widersinnig: das autorit�r-milit�risch regierte Polen war mit der franz�sischen und der englischen Demokratie verb�ndet; die Vereinigten Staaten und Italien blieben neutral. Das Portugal Salazars und die T�rkei von Kemal Atat�rk hatten Abkommen geschlossen mit Frankreich und England. Die Lage konnte unm�glich in Schwarz-Wei� geschildert werden. Das schrieb de Man zur Zeit der „Drole de Guerre, des kuriosen Krieges zwischen September 1939 und Mai 1940. Von Sozialisten, so schrieb er, seien bald antifaschistische Motivationen, bald antikapitalistische Gef�hle zu vernehmen: so etwas l�sche die katastrophalen Folgen des Versailler Vertrags nicht aus! De Man bleibt bei seinem Standpunkt der Jahre 1919-1923: Kriegstreiberei sei unverantwortlich. Die Schreiberlinge, die sich ein europ�isches Gemetzel w�nschen, so wird er in LEIDING schreiben, werden selbstverst�ndlich der Mobilmachung entkommen; die laufen keine Gefahr, Witwen und Waisen zu hinterlassen.

Im Mai 1940 r�cken die deutschen Truppen in Belgien ein, um leichter auf Paris marschieren zu k�nnen. De Man begibt sich fast sofort an die Seite des K�nigs, der ihn bittet, seine Mutter, K�nigin Elisabeth, geborene Wittelsbach und Witwe von Albert I., in Schutz zu nehmen. Mittlerweile leisten die franz�sischen Truppen keinen ernsthaften Widerstand. Die belgische Armee sprengt Br�cken - sofern ihre knapp bemessenen Mittel es ihr erlauben, l�uft allerdings Gefahr, von den Stukas abgeschnitten und bombardiert zu werden. Die Stra�en des Landes sind �berf�llt mit Tausenden von Fl�chtlingen. Um ein f�rchterliches Massaker zu vermeiden, beschlie�t der K�nig die Kapitulation und bleibt im Land mit seinen Soldaten gefangen. Der franz�sische Minister Paul Reynaud und die Pariser Presse �bersch�tten den Monarchen mit Beschimpfungen, bezichtigen ihn des Verrats, um der eigenen �ffentlichkeit den Zusammenbruch der franz�sischen Armee zu verschleiern. Nach Ansicht Reynauds hatte Leopold III. zwei schlechte Berater: General van Overstraeten und - de Man. Die Bev�lkerung ihrerseits freut sich �ber das Ende des Krieges. Viele Soldaten kehren heim. Die Parlamentsmitglieder sind in Frankreich, und das Volk betrachtet sie als „D�serteurs“. Belgien bekommt eine Milit�rverwaltung unter dem General der Infanterie Alexander von Falkenhausen. Dieser hat nur eines im Sinn: Frieden und Ordnung. Alles bleibt beim Alten.

In der Vorkriegszeit hatte neutralistisches Gedankengut die Gem�ter stark beeinflusst. Ein Gro�teil der Abgeordneten hatte sich die These einer Nichteinmischung im Falle eines deutsch-franz�sischen Konflikts zu Eigen gemacht. Selbst der Kardinal von Roey lie� vernehmen, es sei „ein Verbrechen, die Nation in einen Krieg hineinzuzerren“. Auch die rechtsautorit�ren Parteien wie der nationalfl�mische VNV (Vlaams Nationaal Verbond), die wallonische Rex-Bewegung von L�on Degrelle, die royalistische „Ligue pour l`Ind�pendance“ oder gar der VERDINASO (Verbond van Dietsche Nationaal-Solidaristen) eines Joris van Severen entschieden sich f�r eine strikte Neutralit�t. Die Kommunisten, geschockt durch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom August 1939, waren etwas verwirrt, gehorchten jedoch schlie�lich wohl oder �bel den Weisungen des damals mit dem Deutschen Reich verb�ndeten Kremls. Die Sozialisten h�llten sich in Schweigen, in der Meinung, die Neutralit�t sei alles in einem das kleinere �bel. Doch wollten sie ihre moralische Solidarit�t mit den gegen den Nazismus Krieg f�hrenden Demokratien nicht verleugnen. Sowohl in Flandern als auch in Wallonien werden Manifeste f�r die Neutralit�t unterschrieben. Unter den Mitunterzeichnern findet man die Namen von Robert Poulet (1945 in absentia zum Tode verurteilt), dem Historiker Paul Colin (1943 vom Widerstand ermordet), dem Journalisten Paul Herten, dem Essayisten Pierre Daye (Rexbewegung), von L�on Moulin und Raymond de Becker. Auf der fl�mischen Seite tauchen insbesondere Victor Leemans (VNV), Frans Daels (VNV, 1945 in die Schweiz gefl�chtet) und der Dichter und Abt Cyriel Verschaeve auf. In L�ttich unterschreiben mehrere Pers�nlichkeiten ein Gegenmanifest, in dem die Solidarit�t mit Frankreich verlangt wird. Zu den Unterzeichnern geh�rte de Mans ehemaliger Weggef�hrte Louis de Brouck�re. Der Salon des Ehepaars Didier in Br�ssel organisierte regelm��ige Konferenzen, wo neutral gesinnte Pers�nlichkeiten (darunter nat�rlich de Man) das Wort ergriffen. W�hrend des Krieges hoben Edouard und Lucienne Didier die ber�hmten „Editions de la Toison d`Or“ aus der Taufe, welche u.a. die Ideen der „Konservativen Revolution“ in Belgien verbreiteten. Soviel �ber die politisch-geistige Stimmung in Br�ssel. Der deutsche Einmarsch �berraschte eine �ffentliche Meinung, die eher geglaubt hatte (wie General van Overstraeten), die Franzosen w�rden als erste in Belgien einmarschieren, um das Ruhrgebiet zu erreichen und Polen Hilfe zu leisten. Deswegen waren im Oktober 1939 zwei Drittel der belgischen Streitkr�fte im S�den des Landes konzentriert. Im Mai 1940 beging Deutschland einen schweren psychologischen Fehler.

Nach der Kapitulation Frankreichs und dem Waffenstillstand glaubt der aus dem Regierungsamt entlassene de Man feststellen zu m�ssen, dass die �ra des Liberalismus zu Ende ist und dass Hitler Europa einigen wird. Von jetzt an kann die „soziale Revolution in Deutschland“ (so nannte man sie n�mlich in Westeuropa) nicht mehr totgeschwiegen werden. De Man fordert deshalb die Mitglieder der Arbeiterpartei auf, die Tatsache des deutschen Sieges anzuerkennen, die wirtschaftliche T�tigkeit der sozialistischen Stiftungen weiterzuf�hren, die politische Rolle der Partei jedoch als endg�ltig beendet zu betrachten. Seiner Meinung nach hatte der Nationalsozialismus die Klassenschranken weitgehend abgebaut. Das Manifest de Mans hatte gleichwohl einen autorit�ren Charakter, wollte es doch alle Belgier unter der Schirmherrschaft des K�nigs versammeln. Letztendlich wollte de Man unter der deutschen Besatzung ein politisches System herbeif�hren, aus dem alle ehemaligen Parlamentarier, Minister und Politiker ausgeschlossen w�ren. Diese Umorientierung wird von der Partei nicht gutgehei�en: die Rolle der Arbeiterpartei betrachtet man dort nicht als beendet. Man wagt nicht, eine solche Perspektive in Betracht zu ziehen. Von jetzt ab wird de Man zum Au�enseiter in den eigenen Reihen. In Zukunft wird er ein „cavalier seul“ sein, wie er sp�ter die franz�sische Ausgabe seiner Autobiographie betitelt. Jedoch l�uft er nicht zum Nationalsozialismus �ber: Er hat blo� vermeiden wollen, dass M�nner der Rechten, vor allem Klerikale, sich durch kollaborationistisches �berbieten der Verwaltung des Landes bem�chtigen. Das einzige Zugest�ndnis de Mans an die hitleristische Ideologie im Manifest von 1940 war der Hinweis auf den „Schutz der Rasse“. Wenn wir hier von Zugest�ndnis sprechen, dann deshalb, weil sich im Gesamtwerk de Mans keine einzige Anspielung auf Rassismus oder Antisemitismus befindet. Jahre sp�ter schrieb er, dass er den Schritt zum Nationalsozialismus nicht vollziehen konnte, weil er dieses Regime allzu sehr kannte, hatte er doch seine Macht�bernahme miterlebt und es 1933 zu bek�mpfen versucht. „Seien wir stets auf der Seite der Menschlichkeit gegen den Krieg - sozialistische Politik und Friedenspolitik darf nicht im Dienste des Kriegf�hrenden stehen.“ Dazu kommt, dass f�r de Man der Nationalsozialismus nicht der belgischen Mentalit�t entsprach, dem Asketen de Man lag die geradezu �berschw�ngliche Begeisterung der Nationalsozialisten fern. Ein Umstand, auf den auch die herzhafte Abneigung gegen den Enthusiasten Degrelle zur�ckzuf�hren war.

Allerdings gingen etliche Jungsozialisten zur Kollaboration �ber, unter ihnen Edgar Delvo. Diese jungen M�nner glaubten an den politischen Tod der Arbeiterpartei. Das „Manifeste aux militants socialistes“, ein Aufruf de Mans an die sozialistischen Aktivisten, datiert vom 28. Juni 1940. Am 31. Juli wird ein neuer „Allgemeiner Arbeiterverband Belgiens“ (Conf�d�ration g�n�rale du Travail de Belgique, CGTB) gegr�ndet. Der 22. November ist das offizielle Geburtsdatum der „Union der Hand- und Geistesarbeiter“, die einen Versuch darstellt, alle belgischen Gewerkschaften in einer einzigen Dachorganisation zusammenzufassen. In diesem Organ sollte Delvo wichtige Funktionen innehaben. Dies war der Rahmen, in dem die den Leitideen de Mans treu gebliebenen Altkameraden, die sich f�r die Kollaboration entschlossen, t�tig werden sollten. Nach dem Krieg ver�ffentlichte Delvo drei B�cher, welche die Gr�nde f�r seine Entscheidung darlegen. In der Vorkriegszeit hatte Delvo durch seine regelm��igen Gespr�che mit Professor Victor Leemans Werner Sombart, Carl Schmitt und Hans Freyer kennen gelernt. Der erste von diesen drei deutschen Denkern hatte ihn auf die Wichtigkeit des nationalen Faktors innerhalb des Sozialismus jedes Volkes aufmerksam gemacht. Carl Schmitt hatte ihn scheinbar weniger angesprochen. Hier liegt der Unterschied zwischen dem Katholiken Leemans und dem Sozialisten Delvo. Hans Freyer war es, der geschrieben hatte, der Marxismus verm�ge nicht, Hegels konkretes und organisatorisch erf�lltes Freiheitsideal sozialistisch weiterzubilden und sinke in flache egalit�re Freiheitsideen zur�ck. Delvo stand diesem jungen, hegelianisch gepr�gten Sozialismus nahe, ganz besonders aber jenem Idealismus, den man in den deutschen Jugendbewegungen wieder findet. Selbstverst�ndlich setzte sich Delvo f�r eine echte Volkssolidarit�t ein und billigte die klassisch gewordenen Reden der Rechten wider den Gleichheitsgedanken, in dem er - nicht zu Unrecht - einen Klassenegoismus erblickte. Eine feste Freundschaft entstand zwischen Delvo und dem Leiter des VNV, Staf de Clercq. Delvo f�hlte sich angesprochen durch die geplante Schaffung einer einzigen Bewegung f�r das gesamte fl�mische Volk. Im �brigen sollte eine entsprechende Bewegung auch in Wallonien ins Leben gerufen werden. De Man allerdings w�nschte eine einzige Bewegung f�r das gesamte K�nigreich unter der Schirmherrschaft des K�nigs, w�hrend Delvo und de Clercq die Monarchie als �berfl�ssig empfanden. Der Nachfolger de Clercqs, Elias, betrachtete de Man als einen entwurzelten Weltenbummler. De Man dachte seinerseits, der v�lkische Kult der Scholle sei belanglos.

Als er zusehen musste, wie die Kollaboration immer mehr f�deralistische Pfade beschritt, statt darauf hinzuzielen, die Monarchie zu unterst�tzen oder den alten belgischen Nationalstaat aufrecht zu erhalten, beschloss de Man, sich nach Savoyen zur�ckzuziehen. Von da an orientierte sich die Kollaboration an pangermanischen Vorbildern und an der SS, indem sie auf die Schaffung von zwei Volksgauen hinarbeitete, die von zwei Volksf�hrern geleitet w�rden: dem Pangermanisten Jef van de Wiele, Leiter der Organisation Devlag (Deutsch-Fl�mische Arbeitsgemeinschaft) und dem Wallonen L�on Degrelle, dem politischen F�hrer der „L�gion Wallonie“. Diese neue Orientierung missfiel zahlreichen konservativ gesinnten Anh�ngern der Monarchie, vor allem denen, die sich vor dem Krieg in der „L�gion Nationale“ von Paul Hoornaert eingefunden hatten, einer Bewegung, die manchmal auf Maurras, ja sogar manchmal auf Mussolini schwor. Als k�nigstreue Bewegung trat sie f�r die nationale Einheit gegen den fl�mischen Separatismus ein. Ihre Gefolgschaft sollte gr��tenteils zum bewaffneten Widerstand �bergehen. So erlebte Belgien in den Jahren 1943 und 1944 einen B�rgerkrieg, in dem „k�nigstreue Faschisten“ einen erbarmungslosen Kampf gegen „Nationalsozialisten“ f�hrten, die f�deralistisch dachten und die R�ckkehr der ehemaligen „�sterreichischen Niederlande“ in den Scho� des Reiches erzwungen wollten. Ab 1941 werden die Kommunisten in den Widerstand treten, was die Lage weiter erschweren wird.

Schon im Herbst 1941 h�lt de Man sich in Savoyen auf, wo er sich dem Verfassen mehrerer historischer und autobiographischer B�cher widmet. Er nimmt Abstand vom Zeitgeschehen und schreibt den ersten Entwurf von „Au del� du Nationalisme“ (Jenseits des Nationalismus), eines Buches, das 1946 in Genf erscheint und das mit der faschistischen Versuchung endg�ltig bricht - eine Tatsache, die Sternhell h�tte unterstreichen k�nnen. War de Man entt�uscht von der Entwicklung der Lage? Bedauerte er den deutschen Einfall in die UdSSR, und ahnte er dessen unheimliche Folgen f�r das Reich? Klagte er dar�ber, dass die Kollaboration sich als „nur antikommunistisch“ gab, was de Man als unangepasst und �berholt betrachtete, war doch der Marxismus selber schon �berholt? W�hrend man die erste dieser Fragen mit „Ja“ beantworten kann, f�llt es sehr schwer, die anderen richtig zu beantworten. Sie werden ein historisches R�tsel bleiben. In seinem Werk „Jenseits des Nationalismus“ bef�rwortete de Man eine Art von supranationalem „Funktionalismus“, der an eine humanistische Einweltideologie grenzt. Er sah auch, dass Europa immer vor Washington und Moskau zur�ckwich. Dank seiner treuen Freundschaft zu Hans Oprecht, dem Pr�sidenten der schweizerischen Sozialistischen Partei, setzt sich de Man 1944 in die Schweiz ab. Mittlerweile verurteilen ihn belgische Milit�rgerichte zu 20 Jahren Haft und zur Beschlagnahmung seines gesamten Verm�gens. Eine gro�e politische Karriere erf�hrt ein trauriges Ende.

Spaak allerdings geht 1940 nach London, nachdem er vergeblich bei der deutschen Besatzungsmacht um ein Amt in der k�nftigen Verwaltung Belgiens geworben hatte. Das Schicksal trennte beide M�nner besonders tragisch: Spaak kehrte 1944 nach Br�ssel zur�ck, nachdem die britischen Armeen unter Montgomery in die Stadt einmarschiert waren. Es ist anzunehmen, dass er im Grunde seines Herzens weiterhin Affinit�ten zu de Man hatte. So zum Beispiel verlas er 1957 in Genf, im Rahmen der „Rencontres Internationales“, ein gl�nzendes Referat �ber „Europa und seine Einswerdung“, wobei er insbesondere auf den „Funktionalismus“ hinwies.

Bevor er nach Savoyen ging, war de Man in Paris Ernst J�nger begegnet. Er f�hlte sich angesprochen von den Fragmenten des Tagebuchs „G�rten und Stra�en“. Der Verfasser der „Marmorklippen“ zog ihn an, besonders wegen seines Scharfsinns und seines schlichten, sachlichen Stils. In seinen Erinnerungen schreibt de Man, er h�tte Ernst J�nger gerne entweder unter seinem Befehl als Unteroffizier oder als Vorgesetzten und Truppenf�hrer oder gar als Gegner gehabt.

W�hrend seines Aufenthaltes in der Schweiz heiratete de Man wieder und begann mit einer letzten, sehr eigenartigen Arbeit, die in Deutsch unter dem Titel „Vermassung und Kulturverfall“ erschien. Es handelt sich um ein soziologisches Buch, in dem der anthropologische Pessimismus des kulturellen Konservatismus (Spengler, Ortega y Gasset u.a.) stark mitschwingt. Delvo schreibt, in diesem Werk sei de Man unkenntlich geworden: Die Lebenskraft und der Optimismus des ehemaligen Sozialistenf�hrers seien in keiner Zeile wieder zu finden. �ber „Vermassung und Kulturverfall“ m�sste man einen ganzen Artikel schreiben, was den Rahmen dieses Portr�ts allerdings sprengen w�rde. Am 20. Juni 1953 wird der kleine Wagen de Mans von einem Zug erfasst. Hendrik de Man ist sofort tot. In Belgien k�nnen die Regierenden aufatmen: Er wird nie wieder sprechen.

�

Zur Startseite!