Zeitgeschichte + Hintergründe

 

Hendrik de Man

Ein europäischer Nonkonformist auf der Suche nach dem Dritten Weg

 

von Robert Steuckers

Vorbemerkung: Nachstehender Aufsatz erschien erstmals im in der GRECE-Zeitschrift „Etudes et Recherches“ (Nr. 3) sowie in der Ausgabe 5-6/1985 der Schriftenreihe „Junges Forum“ und wurde uns mit freundlicher Genehmigung vom Verfasser zur Verfügung gestellt. Wir folgen größtenteils der von J.J Pesteil besorgte Übertragung ins Deutsche, behielten uns allerdings bei allzu holperigen Formulierungen Eingriffe sowie geringfügige Kürzungen vor.

 

Als am 20. Juni 1953 Hendrik de Man in der Schweiz tödlich verunglückte, starb eine der interessantesten Persönlichkeiten des europäischen Sozialismus, die erhebliche Entwicklungen durchgemacht hatte, vom radikalen Marxisten bis in die Nähe der „Konservativen Revolution“, die Zeit ihres Lebens gegen den Strom geschwommen war. „Gegen den Strom“ lautete denn auch der deutsche Titel seiner Autobiographie. Heute ist de Man in Deutschland nur noch wenigen bekannt, obwohl etliche seiner Schriften in Deutsch geschrieben und erschienen sind.

Geboren zu Antwerpen am 17. November 1885, ist Hendrik de Man mit 16 Jahren Sozialist geworden. Nichts prädestinierte ihn zu dieser Wahl. Sein Vater wollte aus ihm einen Offizier machen. Seine Mutter stammte aus einer ganz nonkonformistischen Familie, bürgerlich und reich, aber mit dem Hang zur Literatur. Diese Familie war das, was man in Flandern „vlaamsgezind“ nennt, sie verkehrte ohne Scham mit den flämisch sprechenden Arbeitern und Bauern und zog sie gewöhnlich den Angehörigen ihrer eigenen Klasse vor, die sich auf die französische Kultur etwas zugute hielten. Das ist das ewige Problem Belgiens, der rote Faden seiner soziopolitischen Geschichte seit 1830, als das Königreich dank des doppelten Segens der französischen und englischen Diplomatie und gegen die Vorstellung der Heiligen Allianz von 1815 unabhängig wurde. Nach belgischen politischen Maßstäben wurde de Man eine Art Avantgardist: ein bürgerlicher Sozialist mit doppelter Kultur, germanisch und romanisch, ein Mensch, der sich wohl fühlt in den Partikularismen seiner Heimat und der trotzdem Zugang hat zu den hohen Sphären des Universalismus.

Die Art der Erziehung, die er genoss, führte dazu, dass er keinen Klassendünkel kannte. De Man war ein störrischer Jüngling, rebellisch aber selbstlos, und er verfolgte mit Aufmerksamkeit die großen Konflikte des beginnenden Jahrhunderts: die Affäre Dreyfus in Frankreich, den Burenkrieg in Südafrika. Mit 17 Jahren meldete er sich auf einer Versammlung streikender Hafenarbeiter zu Wort. Er wurde Mitglied der „Socialistische Jonge Wacht“, der Jungsozialisten von Antwerpen, und zerstörte damit die Hoffnungen von Vater de Man, seinen Sohn Offizier werden zu lassen. Der belgische Patriotismus interessierte den jungen de Man überhaupt nicht: die Familie war viersprachig, las deutsche, französische, holländische und englische Zeitungen und Zeitschriften. Diese europäische Sicht geht über den engen Rahmen einer erst neuen Nation hinaus, deren Eliten die Pariser Moden nachäffen. Außerdem schwor sein Großvater mütterlicherseits - wie viele Antwerpener - nur auf die Fahne des Vereinigten Königreichs der Niederlande (1815-1830) und zögerte niemals, den belgischen Staat zu kritisieren, den er als ein „franko-klerikales“ Unternehmen ansah, ohne Interesse für diejenigen, die wir er, sich als Erben der „Geusen“ betrachteten, d.h. der flämischen, wallonischen und holländischen Adligen und Bürger, die im 16. Jahrhundert gegen den König von Spanien revoltiert hatten, jene Menschen, die Wilhelm dem Schweiger gefolgt und die der Ursprung des modernen niederländischen Staates geworden waren.

Dieser Geist stimmte nicht mit dem überein, was man von einem Offizier erwartete: Verteidiger der etablierten Ordnung zu sein, ausschließlich frankophon und frankophil zu sein, vorzugsweise katholisch und ultramontan. Die Berufung des jungen de Man ist schon vorgezeichnet: er wird ein Intellektueller und wird an der Universität von Brüssel studieren, einer Universität, deren dominierende Ideologie ein wilder Antiklerikalismus ist, an der Grenze des Fanatismus. Nichts hat sich geändert unter der Sonne: in Belgien muss man Konformist sein, d.h. liberal (oder sozialistisch) und antiklerikal oder katholisch und „rechtgläubig“. Außerhalb dieser ideologischen Systeme gibt es keine Seligkeit. De Man scheiterte in allen Examen. Der belgische Konformismus hat sein Genie nicht erkannt. 1905 dagegen, in der Welt der deutschen Universität, wird er als ein beispielhafter und besonders begabter Student angesehen. Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterland.

Ganz sicher ist zu dieser Zeit der Sozialismus des Studenten de Man heroisch und naiv, de Man lebt asketisch, versucht Hegel und Darwin den Arbeitern nahe zu bringen, sein jugendlicher Idealismus erkennt nicht sogleich die Schurkerei der Demagogen seiner eigenen Partei. Man wird dem ein Ende machen, nachdem er gegen die Strategie des Präsidenten der Sozialistischen Partei, den Dr. Terwagne, rebelliert hat, d.h. gegen die sozial-liberale Allianz. Gegen das, was er als eine widernatürliche Allianz zwischen elenden Proletariern und gesicherten Bürgern ansah. Hinter dieser scheinbar widersprüchlichen Allianz verbarg sich ein Konflikt der Weltanschauungen: die liberalen und sozialistischen Kader gehörten zur Freimaurerei und wollten gemeinsam die klerikale Partei bekämpfen. Die Wähler hatten die Kosten dieses philosophischen Streits zu zahlen. Diese Art Situation sollte in Belgien bis zum Jahr 1958 andauern, wo das Land und seine Regionen durch einen Schulkrieg zwischen Katholiken und Freidenkern zerrissen werden sollte.

De Man führte ein bewegtes Leben als sozialistischer Aktivist. Nach einem Krawall gegen das russische Konsulat wird er 1905 von der Universität Gent verwiesen und beschließt nach Deutschland zu emigrieren. Er nimmt sogleich an einem Sozialistenkongress in Jena teil und wird Journalist bei der LEIPZIGER VOLKSZEITUNG, an der auch Rosa Luxemburg, Karl Kautsky und Leo Trotzki mitarbeiten. 1907 reist er nach London, um dort in den sozialistischen Formationen zu kämpfen und die tiefgehenden Motivationen der britischen sozialistischen Arbeiter kennen zu lernen. Regelmäßig schickt er Berichte an die LEIPZIGER VOLKSZEITUNG. Diese Erfahrungen machen aus ihm später einen Ketzer: de Man entdeckte die Unterschiede zwischen den nationalen Arbeiterbewegungen. Diese, so wird er schreiben, können sich wohl mit marxistischer Dialektik erklären lassen, aber sie können nicht weggeleugnet werden. 1910 kehrt er auf Wunsch des Sozialistenführers Vandervelde nach Belgien zurück. Letzterer bringt ihn in die Gewerkschaftskommission. Sogleich organisiert de Man Reisen nach Deutschland und gewinnt den Ruf, Pangermanist - ein „Alldeutscher“ - zu sein. Dieser Ruf des Pangermanismus begründet gleichzeitig seinen Ruf als Doktrinär des Marxismus. Der belgische Sozialismus dieser Epoche hat Beziehungen zu allen Sozialismen, seien sie deutscher, russischer, französischer, englischer oder nationaler Tradition. Mit seinem wallonischen Genossen Louis de Brouckère gründet er eine marxistische Fraktion innerhalb der Partei. Das Presseorgan dieser jungen Marxisten wird DE KLASSENSTRIJD (Der Klassenkampf). Aber diese philosophische Option, das Erbe seines Aufenthaltes in Deutschland, macht ihn nicht blind: die inneren Widersprüche des belgischen Staates können sich ganz und gar nicht mit Hilfe der marxistischen Methode lösen lassen. Und das ist schon der zweite Schritt in Richtung Ketzerei.

Im Juli 1914 will die Sozialistische Internationale, getreu ihren pazifistischen Grundsätzen, den Krieg verhindern. Nach der Ermordung des französischen Sozialistenführers Jean Jaurés begeben sich de Man, der Sekretär der 2. Internationale, Kamiel Huysmans und der SPD-Vorsitzende Hermann Müller nach Paris, um einen letzten Versuch zu machen, eine Friedensoffensive der Sozialisten über alle Fronten hinweg zu organisieren und zu koordinieren. Aber vergeblich: Frankreich und Deutschland mobilisieren. De Man und Müller selbst werden von französischen Gendarmen verhaftet. Weil sie deutsch sprechen, sind sie „des espions boches“, deutsche Spione. Die Dinge nehmen ihren Lauf: de Man kehrt nach Brüssel zurück und Müller nach Deutschland. Die Internationale ist tot. Die Ereignisse verhöhnen Hendrik de Mans Idealismus. Aber bestätigen sie nicht im Grunde den Eindruck, den er auf seiner Reise nach England gewonnen hatte?

Hendrik de Man wird Soldat in der belgischen Armee. Da er lesen und schreiben kann, wird er Offizier. Er liest Bücher über Militärwissenschaft und stellt fest, dass es Möglichkeiten gibt, besser Krieg zu führen, indem man sich nicht auf die alten Dogmen zurückzieht. Die professionellen Militärs sind anderer Ansicht, ganz einfach weil sie Angst vor der Phantasie haben, weil sie unfähig sind, sich Situationen vorzustellen, die nicht in den Vorschriften vorgesehen sind, und weil sie keine neue Meinung tolerieren. Eine zusätzliche praktische Erfahrung, die dazu beiträgt, die kritische Funktionstheorie Hendrik de Mans zu formen. Sein Artilleriepeleton ist beispielhaft organisiert: seine Soldaten kämpfen nicht nur, sondern lernen das Lesen und Schreiben, unterrichten sich selbst dank einer Bibliothek, die ihr Leutnant aufgebaut hat, und spielen diverse Musikinstrumente.

Im März 1917 schickt der katholische Minister de Broqueville Vandervelde und de Man nach St. Petersburg, damit sie Bericht erstatten über die Ereignisse der russischen Revolution. Ihre Reise führt anfangs über Schweden, wo sie Trotzki treffen, der eine tiefe Verachtung für den „Sozialbourgeois“ Vandervelde zeigt. De Man beurteilt Trotzki falsch: er glaubt, er sei nichts als ein Schwätzer und Künstler, ein Literat. Er erkennt in ihm nicht den künftigen Organisator der ersten Roten Armee. Vandervelde dachte, dass Lenin ein steriler, von einer fixen Idee Besessener sei, besessen vom Egalitarismus, bereit Spaltung über Spaltung wegen seines Eigensinns herbeizuführen. De Man hat in der Folge eingestanden, sich getäuscht zu haben: Lenin dürfte nicht nach den Kriterien der westlichen parlamentarischen Demokratie beurteilt werden, sondern nur nach Kriterien Russlands, des Ostens. Die Sympathien der beiden belgischen Sozialisten gehören ohne Zweifel der Regierung Kerenski. Es ist ihre durch und durch humanistische Vergangenheit, die sie den Zynismus und den brutalen Machtwillen der Anhänger Lenins ablehnen lässt.

Nach der Russlandreise wird de Man in die Vereinigten Staaten geschickt. Die Kriegspropaganda steht dort auf dem Höhepunkt. De Man hat dort die Macht der öffentlichen Meinung kennen gelernt, die Rolle der lügnerischen Pressekampagnen, die Dummheit der Massenhysterie. De Man wird fast der Deutschfreundlichkeit angeklagt, als er, verdutzt, sehr ausweichend eine idiotische, aber typisch amerikanische Frage beantwortet: ist es wahr, dass ganze Züge mit belgischen Kindern in gewisse deutsche Städte geschickt werden, damit ihnen dort Arme und Beine abgehackt werden? Vor einer Gruppe von Akademikern spricht er objektiv über Deutschland, über seine Kultur und seine Musik. Nach dieser Konferenz wird er wegen Spionage festgenommen! Auf dem Schiff, das ihn nach Europa zurückbrachte, hört er mit Freude von der Unterzeichnung des Waffenstillstandes.

Im August 1919 schifft sich de Man nach Neufundland ein. Er wird dort einen Betrieb leiten. In einer abgelegenen Bucht trifft er einen Jesuiten, der dort als absoluter Theokrat über seine Pfarrkinder, einige Hundert Trapper, herrscht. Der Jesuit empfängt den marxistischen Philosophen mit offenen Armen: er ist der erste, mit dem er seit Jahren über thomistische Philosophie diskutieren kann. Auf dem Gebiet der Sozialpsychologie wird diese Erfahrung in Kanada äußerst wichtig für die Entwicklung von de Mans Denken. Die Trapper irischen Ursprungs sind die kulturell unterentwickeltsten Weißen, die de Man jemals gesehen hat. Die Indianer, ihre Nachbarn, sind viel kultivierter, weil ihre Gemeinschaften, obwohl konvertiert, in einer uralten Tradition verwurzelt sind. Diese Tradition gibt ihnen Halt. Die Iren sind entwurzelt und in einen wahrhaft primitiven Zustand zurückgefallen. Der Verlust der natürlichen organischen Bindungen (hier verstanden als Bindung an das Land der Vorfahren) würdigt eine Population auf einen niedrigeren Rang hinab als den der Indianer, die niemals mit den Ergebnissen einer anarchischen industriellen Revolution in Berührung gekommen sind. Das erscheint uns heute natürlich, wo die Ethnologie ungeheure Fortschritte gemacht hat, aber für de Man, aufgewachsen, im Fortschrittskult, war diese Perspektive gar nicht einleuchtend.

Einige Monate später wird de Man mit den Wobblies leben, Saisonarbeitern ohne Ausbildung in Alaska, um bei ihnen Lebensbedingungen kennen zu lernen wie sie auch der norwegische Schriftsteller Knut Hamsun beschrieben hat. Die Wobblies in Alaska sind zum größten Teil Skandinavier. De Man hat jedoch nicht wie Hamsun das Grauen des Hungers gekannt. Nachdem er in den Vereinigten Staaten den Ruf eines gefährlichen Kommunisten erworben hat, kehrt er nach Belgien zurück.

Seine erste Aufgabe wird die Veröffentlichung einer Serie von 18 Artikeln über Deutschland. Er schreibt: „So wie viele Sozialisten aus allen Ländern verdanke ich Deutschland die wertvollsten Elemente meiner geistigen Ausbildung. Ich kann mir auch kein ökonomisch und intellektuell lebensfähiges Europa vorstellen mit einem Deutschland, das verurteilt sein würde, ewig arm, verachtet und erniedrigt zu bleiben.“ Doch die Leidenschaften des Krieges haben sich noch nicht gelegt. Die deutschen Besatzungsbehörden hatten die Verschickung von mehreren Hundert wallonischen Arbeitern in die Fabriken des Ruhrgebiets angeordnet. De Man wollte einen Sozialdemokraten, Johann Sassenbach, einladen, damit er über den Widerstand der SPD gegen diese Deportationspolitik berichten sollte. Patriotische Arbeiter wollten Sassenbach am Reden hindern, aber Hunderte von Metallarbeitern aus La Louvière (Hennegau) jagten sie fort und zerrissen eine belgische Trikolore. Sassenbach konnte reden, aber damit wurde eine Regierungskrise ausgelöst. Im März 1922 erklärt sich de Man in einer in Köln gehaltene Rede gegen Reparationen und gegen die drohende Ruhrbesetzung. Vandervelde gibt ihm Recht, aber will die belgischen Meinungsmacher lieber erst vorsichtig auf diese pazifistische Option vorbereiten. De Man akzeptiert und versteht den Vorwurf, den ihm Vandervelde macht, aber zieht es vor, sich von der Partei zurückzuziehen, weil - wie er sagt - die sozialistische und pazifistische Ethik nicht vor den kriegslüsternen Launen der Meinungsmacher zurückweichen darf. De Man reicht gleichzeitig sein Entlassungsgesuch als Reserveoffizier ein. Diese Geste war in der Tat eine Herausforderung an den Zeitgeist.

De Man kehrt jetzt nach Deutschland zurück und lässt sich in Elberstadt bei Darmstadt nieder. Von 1922 bis 1926 wird er Vorlesungen an der „Akademie der Arbeit“ in Frankfurt am Main halten. Dort wird er sein theoretisches Werk erarbeiten. Die beeindruckende Zahl seiner Schriften führt dazu, dass viele seiner Genossen ihn für den größten sozialistischen Theoretiker seit Marx halten. Im Herbst 1929 wird er zum Professor für Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt ernannt. Das Fach ist im Kommen. Es ist noch nicht Examensstoff, was de Man freie Hand lässt, seine Vorlesung so zu gestalten wie er will. De Man beobachtet aufmerksam die „Kulturbouillon“, die „Ideenwerkstatt Frankfurt“. Er wirft den Philosophen der Frankfurter Schule „ihre Unausgeglichenheit, ihre orientierungslosen Analysen“ vor. Sehr richtig schreibt er: „Sicher gab es besonders unter den Philosophen, den Wirtschaftswissenschaftlern und den Soziologen brillante Köpfe, aber alles in einem machte den Eindruck eines Pandämoniums, eines tollen Durcheinanders und eines gewaltigen Gehirnmechanismus im Leerlauf…Die Atmosphäre sagte mir nicht zu und ich fühlte mich dort am letzten Tag beinahe so fremd wie am ersten.

Auf rein politischer Ebene hält de Man die Sozialdemokratie für unfähig, den aufkommenden Nationalsozialismus wirksam zu bekämpfen. Er regt zaghaft Maßnahmen an: er organisiert mit Erfolg ein Festspiel mit 2000 Mitwirkenden und 18.000 Zuschauern. Wie de Man schreibt, bekämpft man den Faschismus nicht mit antifaschistischen Reden, sondern durch mehr Sozialismus; diese sozialdemokratischen Festspiele sollten den nationalsozialistischen Festspielen Konkurrenz machen. Zu dieser Zeit machen sich bei de Man auch erste Einflüsse des konservativ-revolutionären „Tat“-Kreises um Hans Zehrer bemerkbar. Im April 1933 findet in seiner Wohnung in Frankfurt eines der letzten Treffen der Reichsbanner-Führer statt, einer Organisation, deren Verdienste er in seinen Schriften herausgestrichen hat. Vergeblich. Die Massen folgen nicht. Die Sozialdemokratie hat für sie keine Anziehungskraft mehr. De Man verlässt jetzt das Reich. Seine Bücher werden öffentlich verbrannt, aber im Mai 1933 wird er eingeladen, seine Vorlesungen wieder aufzunehmen! Er weigert sich und am 1. September ist er endgültig entlassen. Künftig wird er in Brüssel Vorlesungen halten, an der Universität, an der er so schlechte Noten bekommen hatte.

Der belgische Sozialismus war ebenso verbraucht wie die deutsche SPD, aber es gab keinen gefährlichen Gegner: es gab keinen belgischen Nationalsozialismus. 1932 waren wilde und spontane Streiks sorelscher bzw. luxemburgischer Prägung ausgebrochen. Die sozialistischen „Maisons du Peuple“ (Volkshäuser) wurden von Streikenden besetzt. Die „Internationale Socialistische Anti-Oorlogsliga“ (Antikriegsliga) lässt ihre Aktivisten mit „Drei-Pfeile-Armbinden“ aufmarschieren und stürmt die Büros der reaktionären Zeitungen. Unter ihnen ist der junge Rechtsanwalt Paul-Henri Spaak. Ungeachtet dieses jugendlichen Aufbruchs unterstützen die alten Kader der Partei die extremistischen Forderungen nicht und begreifen nicht, dass die deutsche Sozialdemokratie zerfallen ist, weil sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat. Die belgische sozialistische Partei geht ebenfalls an ihren inneren Widersprüchen zugrunde: In den Spalten ihrer offiziellen Zeitung LE PEUPLE (heute wegen Lesermangels verschwunden) predigt ein gewisser Jexas, von zweifelhafter griechischer Herkunft, den „heiligen Krieg“ gegen die „deutschen und italienischen Faschismen“, während die Partei, getreu ihrer pazifistischen Tradition, weiterhin die Kredite für die Armee ablehnt.

Um diesen Wirrwarr zu entwirren, beauftragt Vandervelde de Man mit der Bildung einer Studiengruppe. Dort wird der berühmte „Plan der Arbeit“ oder „de Man-Plan“ ausgearbeitet. Dieser Plan findet international Widerhall. Er wird der Eckstein dessen, was man die planistische Ideologie genannt hat. Aber was ist der „Plan“? Für de Man und seine Freunde ist er eine Strategie, um mit allen gesunden Kräften der Nation die wirtschaftliche Krise und die schrecklichen Folgen, die sie von 1929-1934 in Belgien hervorgerufen hat, zu bekämpfen. In Wirklichkeit wollte de Man eine neue Partei schaffen, die die Rettung der Nation zum Ziel haben sollte, ungeachtet der traditionellen verkalkten politischen Gruppen und gegen die Interessen der parlamentarischen Parteien. De Man war indessen genügend intelligent und realistisch, um er erkennen, dass die Gründung einer „Partei des Staatswohls“ in Belgien technisch undenkbar war. Da nun einmal die Belgische Arbeiter-Partei POB/BWP existierte, konnte sie ihm ebenso gut als Sprungbrett dienen. Zumal de Man sein Leben der sozialistischen Sache verschrieben hatte. Die Funktionäre folgten ihm nur mürrisch, die harten und reinen Marxisten wie sein alter Kampfgenosse Louis de Brouckère wenden sich endgültig von ihm ab. De Man will die Arbeiter, die Mittelklassen (einschließlich der kleinen Unternehmer) und die Bauern, die besonders von der Krise betroffen sind, in einer vereinigten Front gegen das „vagabundierende und kosmopolitische Kapital“ wirksam zusammenfassen. Dieses Ziel gefällt den jungen Führern der sozialistischen Gewerkschaften. Es ist die Begeisterung der jungen Kader der Partei, welche die Gegner des Plans zuletzt das Projekt de Mans akzeptieren lässt. Im flämischen Teil des Landes wird Hermann Vos, ein antiklerikaler flämischer Nationalist, nachdem Bedenken wegen seiner politischen Herkunft ausgeräumt sind, de Man helfen, sich des nationalen Faktors bewusst zu werden. Das verleiht dem Plan zusätzlich Dynamik. De Man wird von den Massen verehrt werden: „Du bist unser Retter“, schreien die Frauen der Arbeiter und strecken ihm ihre Kinder entgegen. Das wird selbstverständlich den tiefen Neid der hochmütigen Advokaten und der herzlosen Parteifunktionäre hervorrufen, die die Partei bis dahin leiteten.

Der Plan ist auch die Synthese aller philosophischen und politischen Ideen de Mans. Nachdem wir das belegte Leben des Chefs der belgischen Sozialisten skizziert haben, wenden wir uns im zweiten Teil des Artikels der Bedeutung seiner Theorien für das Verständnis der politisch-intellektuellen Entwicklung der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts zu. In einem weiteren Abschnitt werden wir die internationalen Auswirkungen der Ideen de Mans besprechen.

In seiner Arbeit „Ni gauche ni droite. L`idéologie fasciste en France“ (1983) macht der französisch-israelische Schriftsteller Zeev Sternhell de Man zum Hauptförderer einer Faschisierung der Gesellschaft und der sozialistischen Bewegungen. Wir lehnen uns gegen dieses Unterfangen auf, das darauf abzielt, den nicht einzuordnenden de Man in die Zweiteilung Faschismus-Antifaschismus einzuordnen. Sicher, ein Gutteil der von Sternhell ausgeführten Fakten ist oft richtig, aber sie sind auch losgelöst von ihrem Zusammenhang, zusammengestellt in suggestiver Art und Weise und solcher Art verquickt, dass sich dem Leser die Vision eines in der europäischen Gesellschaft allgegenwärtigen Faschismus darbietet. Um diese Kritik zu stützen, genügt es ganz einfach festzustellen, dass Sternhell keine einzige niederländisch abgefasste Quelle anführt. Die Entwicklung de Mans entgeht ihm, weil sich im Jahre 1940 Teile der sozialistischen Partei in die Kollaboration mit den deutschen Nationalsozialisten stürzten und sich teilweise auf die Ideen ihres ehemaligen Chefs beriefen. De Man selbst hielt Abstand, nachdem er diese Orientierung unterstützt hat. Diejenigen, die in der Kollaboration bleiben, trennen sich von ihm, ohne Krach, ohne Exkommunikation und indem sie es in verschiedenen in Niederländisch abgefassten Artikeln und Büchern erklären. Sternhell hat sie ganz einfach nicht gelesen; er ist folglich nicht imstande, die flämische Wirklichkeit zu begreifen und läuft Gefahr, de Man als einen „französischen“ Denker wie die anderen zu begreifen, einfach weil er einen Teil seines Werkes in Französisch abgefasst hat. Im Übrigen kriminalisiert Sternhell (glücklicherweise ohne messianisches Vokabular) mehr oder weniger jede Überlegung, die sich außerhalb zweier oder dreier fest eingegrenzter Zonen stellt: eines entpolitisierenden Positivismus (dem Kautskyismus eigen), eines Liberalismus, der seinen nebulösen Idealismus nicht verliert, und eines unbestimmt reformistischen Marxismus, gefangen in seiner überholten Orthodoxie. Für Sternhell führt de Man zur Rechtfertigung des Hitlerismus. Nichts ist falscher. Wir werden versuchen, das zu beweisen.

De Man wollte über den Positivismus des Marxismus und der Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie hinausgehen. Auf dem Wege über die Sozialpsychologie wird de Man den Sozialismus neu erklären. Er wird nicht von der Analyse der äußeren Umstände des Menschen ausgehen, sondern von einer „Doktrin der Mobilen“, d.h. vom Problem der Motivation. Die Erfahrung des Aktivisten, des Artillerieleutnants, des Gefährten der Wobblies und der irisch-kanadischen Trapper wird bei dieser Umorientierung die entscheidende Rolle spielen. Um ein Schlagwort zu gebrauchen, sagen wir, dass der theoretischen Graumalerei die Frische des Lebens entgegensteht. Aber diese Frische ist schwer theoretisch zu umreißen: wenn man die elementaren Tatsachen des Lebens in fassliche Sprache übersetzt, gebraucht man oft (und unglücklicherweise) eine sehr komplizierte Sprache. Es genügt das Beispiel Heidegger. Die Schriften von de Man haben bisweilen die unerträgliche kompilatorische Art des Professors. Für de Man ist es nicht notwendig, den „verstorbenen Marx“ zu beurteilen, sondern den „lebenden Sozialismus“. Der Sozialismus muss der Versteinerung entgehen durch eine Osmose mit den neuesten Ideen, namentlich mit dem Dynamismus der sozialistischen Revolutionäre: Sorel, Labriola, Lagardelle, Roberto Michels („Das eherne Gesetz der Eliten“). Einen großen Einfluss auf das Werk de Mans hatten die Arbeiten der modernen Sozialpsychologie (Wundt, Freud). Keyserling, Bergson und Alain haben gleichfalls seine kritische Haltung gegenüber dem Marxismus beeinflusst.

Die Kritik de Mans lässt sich in zwei wesentlichen Punkten kurz zusammenfassen: zunächst die Kritik des marxistischen Determinismus und dann die Entdeckung der Werte, individuelle Reaktionen entstehen lassend. Diese Werte sind von der Psychologie entdeckt worden. Seit 1921, in seinen Schulungskursen für belgische sozialistische Aktivisten, macht de Man auf den Bankrott der Systeme - sowohl der liberalen wie der marxistischen - aufmerksam, die die Existenz eines „rationalen“ Individuums erfordern, das die wirtschaftliche Planung, die wohlbedachte Wohlstandsforschung, die Profitmaximierung lenken. Für de Man ist der Tatmensch eher „irrational“ motiviert. Die Klassen sind Schicksalsgemeinschaften und nicht notwendigerweise Naturgemeinschaften. Demselben Milieu anzugehören bedeutet nicht, automatisch die gleiche Psychologie, das gleiche Verhalten, die gleichen Verwandtschaften zu haben. De Man unterscheidet also ganz klar - und das ist für seine Zeit etwas Neues - die Psychologie von der Soziologie. Diese Ideen de Mans werden sich niederschlagen in seinem in Deutsch abgefassten Werk „Zur Psychologie des Sozialismus“ (1926). Dieses Werk beginnt mit dem Vorstellen der „Theorie der Mobilen“ als dem Hauptproblem des Sozialismus. Für de Man trachtet die Arbeiterklasse wesentlich danach, sich eine Würde zugestanden zu sehen. Im Gegensatz zu Kautsky bejaht de Man, dass der Wunsch, sich eine Würde zugestanden zu sehen, der Bewusstwerdung der wirtschaftlichen Gründe der Proletarisierung vorhergeht. Kautsky sagt das genaue Gegenteil. Für de Man ist gerade der rationalistische Aberglaube das Hauptmotiv für den Zusammenbruch des sozialdemokratischen Marxismus. Dieser Aberglaube ist besonders wahrnehmbar bei den Generalstäben der Parteien, zusammengesetzt aus Intellektuellen und Juristen. De Man schließt daraus, dass die Macht der Parteiorganisation oft das Haupthindernis für die Verwirklichung seines Ziels wird. „Zur Psychologie des Sozialismus“ ist folglich eine Abrechnung mit der bürokratischen Abweichung, mit dem Vulgärmarxismus, mit dem marxistischen Rationalismus und Hedonismus. De Man schreibt, immer in „Zur Psychologie des Sozialismus“, dass aller Marxismus, im Jahre 1926, ein Vulgärmarxismus war, mit Ausnahme desjenigen, der sich beschränkte auf biographische Studien und auf Textkritik. Das ist immer noch aktuell und de Man fügte hinzu, dass diese akademischen Aufgaben ohne Einfluss auf die Geschicke wären. Den Vulgärmarxismus mit Hilfe von Zitaten zu widerlegen, ist ein unnützes Unternehmen: Der Marx, der im Glauben der Massen lebt, wird nicht besiegt werden können durch den Marx, der nur in den Regalen der Bibliotheken steht. De Man meint von nun an, dass es notwendig ist, den Marxismus zu liquidieren: sowohl den vulgären (weil er falsch ist) als auch den „reinen“ (weil er kein Leben mehr hat). In seiner Argumentation findet man die Namen Spengler, Sombart, Proudhon.

Der Zusammenbruch der deutschen Sozialdemokratie rührt für de Man vom Krieg und von der russischen Revolution her. Vor diesen Ereignissen glaubten die Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie, dass sie die volle Wahrheit in Sachen Interpretation und Exegese des Denkens ihrer Lehrmeister Marx und Engels, Bebel und Kautsky besäßen. Seitdem hat es in Deutschland nicht einmal eine Handvoll von Verteidigern des reinen deutschen Marxismus gegeben, während sich in Russland der Kommunismus, die bedingungslose Herrschaft des Vulgärmarxismus, durchsetzte. Die russische Revolution scheint die deutschen Marxisten zur Änderung ihrer Pläne gezwungen zu haben. Vielleicht, weil Deutschland nicht mehr das einzige Vehikel des Sozialismus war? Die angelsächsische Welt war der Schwerpunkt der Weltwirtschaft geworden. Ihre intellektuellen Traditionen standen dem Hegelo-Marxismus fremd gegenüber. Ein Deutschland, Mittelpunkt der sozialistischen Idee, war also das, wovon die Sozialdemokraten träumten, und das war nicht mehr denkbar…Diese Feststellung musste eine gewisse Müdigkeit hervorrufen und dies erklärt die Untätigkeit der sozialistischen Aktivitäten im Augenblick der Machtübernahme durch Hitler. De Man hätte vielleicht, wenn er noch leben würde, die These von Sebastian Haffner gutgeheißen, der behauptet, dass die spartakistische Revolution 1918/1919 einen nationalen Einschlag hatte: aus Deutschland den Vorkämpfer des reinen Marxismus zu machen in einer Welt, die undurchdringlich geworden zu sein schien für eben diese Reinheit. Niekisch hat übrigens auch an diese Möglichkeit geglaubt. Haffner, Niekisch, de Man, Sorel: vier Autoren, die parallel gelesen werden müssen, wenn Fehlinterpretationen der politisch-intellektuellen Geschichte der ersten vier Jahrzehnte unseres Jahrhunderts vermieden werden sollen. Hoffentlich wird diese vierfache Lektüre eines Tages zum Thema einer Doktorarbeit. Sternhell spricht von der heroischen Natur des De Man-Planes. Der Ausdruck ist zweifellos ein bisschen zu stark, aber der Plan ist trotzdem voluntaristisch. Die Sozialdemokratie alten Stils, sowohl die deutsche wie die belgische, konnte weder die Krise meistern noch den Aufstieg der autoritären Regimes faschistischer oder nazistischer Art bremsen. Der Reformismus ist für de Man nichts als Opportunismus. Er kennzeichnet eine Verbürgerlichung der Kultur. De Man hat niemals geschrieben, dass er „Der Arbeiter“ von Ernst Jünger gelesen habe. Obgleich die Vergangenheit der beiden Männer durchaus verschieden ist, gibt es 1932/33 eine Art Übereinstimmung. Jünger ist mehr Theoretiker und Ästhet und de Man bleibt Praktiker. Ohne Zweifel steht ihm Sorel näher.

Der Plan entspringt somit dem Willen, einen Sozialismus jenseits des Marxismus, also keinen systematisch und steril „antimarxistischen“, in die politische Wirklichkeit umzusetzen, einen Sozialismus also, der befreit wäre von allen ideologischen Schlacken, die ihm die Exegeten von Marx und Engels aufgepfropft hatten.

Sehen wir uns jetzt konkret an, was der Plan in Belgien wirklich beinhaltete. Ausgehend von der Feststellung, wie wir schon ausdrücklich betont haben, dass der Reformismus ein totaler Misserfolg war, bedient sich de Man in dem Versuch, die Auswirkungen dieses Fiaskos auf die tatsächliche Lage der Arbeiterschaft aufzuzeigen, eines leicht verständlichen Bildes: das des „nationalen Kuchens“. Der Reformismus, der heute noch sein Unwesen treibt, möchte den Arbeitern eine größere Portion Kuchen geben. Doch die Krise verringert tagtäglich den Umfang des Kuchens. Nach Auffassung de Mans muss man also einen größeren Kuchen backen. Dazu sind allerdings strukturelle (und demnach revolutionäre) Reformen erforderlich; Reformen, die lediglich die Verteilung des bereits Bestehenden zum Ziel haben, sind nicht gefragt. Der Raum, in dem die Verwirklichung des Plans vonstatten gehen soll, kann nur die Nation sein - nicht eine verschwommene „Internationale“. Das Interesse der Allgemeinheit muss an die Stelle der Klasseninteressen treten. Damit ein solcher Plan auch verwirklicht wird, müssen dessen Ziele durch die Erarbeitung eines Kalenders genau festgesetzt werden. Die Verwirklichung schloss jedes Ausführungstempo, das dem Zufall überlassen wäre, selbstverständlich aus: Diese Forderungen verlangten ipso facto einen starken Staat. Aus diesem Grund stempeln die Gegner de Mans ihn als verkappten Faschisten ab, wobei übersehen wird, dass der Faschismus einen starken Staat auf gesetzgeberischem Wege fordert, während der Planismus eine mächtige Exekutive herbeiführen will unter Beibehaltung der Kontrollbefugnisse des Parlaments. Im Übrigen zielt der Planismus vor allem auf die Verteidigung der nationalen Interessen gegen die Banken und die Großkonzerne ab. In den Augen de Mans ist der Planismus mithin das einzige Bollwerk gegen den Aufstieg der Faschismen, weil er auf einer Auslegung, einer Analyse der Wurzeln dieser Faschismen beruht. Die Berufspolitiker der deutschen Sozialdemokratie waren nicht in der Lage gewesen, die sozialen Mechanismen in der großen Wirtschaftskrise zu verstehen: die Weigerung der Mittelklassen, ins Proletariat abzugleiten. Sollte er überleben, musste der Sozialismus diese „Ablehnung der Proletarisierung“ berücksichtigen und Programme vorschlagen, die für die ganze Bevölkerung gültig wären, d.h. für alle Klassen, die sich von der großen Krise bedroht fühlten. In Belgien konnte sich diese Politik der Unterstützung nicht nur durch die Gewerkschaften erfreuen, sondern auch durch den gesamten linken Flügel der Partei unter Paul-Henri Spaak. Dank dieser Unterstützung durch die Ultralinken konnte sich der Plan als jung und dynamisch profilieren. Im Jahre 1934 strebte de Man die Schaffung einer „Front du Travail“ (Arbeitsfront) an, die sozialistische wie christdemokratische Gewerkschaftler und Arbeiter eingliedern sollte. Doch der damals klaffende ideologische Graben hinderte de Man daran, außerhalb seiner Partei die notwendigen starken Stützen zu finden, die für die Verwirklichung seiner Projekte unerlässlich gewesen wären. Trotz einer modernen, zielstrebig angelegten, fachkundig betriebenen Propaganda, die auf Methoden der Massenpsychologie zurückgriff (daher eine gewisse Verwandtschaft mit dem Nationalsozialismus), führte dieser Mangel an Unterstützung zum Fiasko. Um eine Regierung bilden zu können, sah sich de Man gezwungen, mit seinen politischen Gegnern zusammenzuarbeiten und sich auf Zugeständnisse einzulassen. Vor allem wurde das Projekt einer Verstaatlichung der Banken unter den Teppich gekehrt. Das war aber der Eckpfeiler des Plans! Dem verbitterten de Man wurde auf einmal klar, dass sein Plan niemals in einem parlamentarischen Rahmen verwirklicht werden könnte.

De Man hatte keine institutionellen Reformen vorgesehen, die ausgereicht hätten, seinem wirtschaftspolitischen Planungskonzept die nötige Basis zu verschaffen. Er wollte lediglich dem Ministerrat 5 Kommissare hinzufügen, um die Zuständigkeiten der Exekutive zu erweitern. Dem Regierungschef Paul van Zeeland war es voll gelungen, die Bombe, die der Plan darstellte, unschädlich zu machen. De Man, mittlerweile Vizeparteichef, war Minister, ohne etwas reformieren zu können! Spaak war übrigens auch Minister geworden - was die Ultralinken erfreute und beruhigte. Die sozialistische Partei zerstritt sich über Fragen, die für die Zukunft des Landes eigentlich belanglos waren: Unterstützung oder Neutralität gegenüber der spanischen Republik, Neutralität Belgiens oder Bündnis mit Frankreich. Schon 1935 hatte de Man in all diesen Fragen eine kompromisslose Neutralität empfohlen. Seine Beziehungen zu Vandervelde verschlechterten sich, weil die jeweiligen Standpunkte in diesen Fragen auseinander gingen. Nur Spaak verteidigte die belgische Neutralität und verwarf jeden „platonischen“ Internationalismus.

Obgleich de Man und van Zeeland in derselben Regierung saßen und die Wirtschaftskrise durch einen technokratisch verwalteten Dirigismus überwinden wollten, lag eine tiefe Kluft zwischen ihnen. Gegenwärtig bezichtigen die flämischen Linksaktivisten, die am Rande der „Socialistischen Partij“ tätig sind, de Man des „Technokratismus“. Nach der allgemeinen Verbreitung der Thesen von Habermas, Marcuse und Fromm ist dieser Vorwurf gang und gäbe geworden, fast ebenso verbreitet wie der des „Faschismus“, nur mit modernerem Akzent. Für diese strikt „metapolitisch“ denkende Linke leiten de Man und van Zeeland die Ära des Technokratismus in Belgien ein. Der Amerikaner James Burnham hatte vom „Regime der Manager“, von der „managerial revolution“ gesprochen, die in den USA mit dem „New Deal“ Roosevelts einsetzte. Laut Burnham werden „Manager“ die alten Macht ausübenden Eliten, die sich aus Intellektuellen und Anwälten zusammensetzten, allmählich verdrängen, und zwar sowohl im NS-Staat wie auch im sowjetischen System oder in der liberalen Demokratie. Diese „managers“ sind weder Finanzleute noch Industrielle noch herkömmliche Politiker. Doch hatte de Man ein europäisches Konzept im Sinne, dessen Grundgedanke (um wie Werner Sombart zu sprechen) ein Humanismus und eine Ethik waren, die mit einem asketischen Willen und einer Mentalität einhergingen, die an den „Preußischen Sozialismus“ à la Bebel grenzten. Van Zeeland dachte seinerseits an ein amerikanisches Modell. Auf gesellschaftlich-ethischem Gebiet räumte de Man der Kreativität und der Arbeit den Vorrang ein, gleichgültig, ob sie von den Arbeitern, den Handwerkern, den Bauern oder den kleinen Unternehmern kamen. Van Zeeland erschien die Rolle der Finanzverwalter und der Banken vorrangig. Die Perspektive de Mans bleibt also national. Die van Zeelands zeugt von einem Internationalismus, der in Washington sein Mekka hat. Zweifellos haben beide Männer, jeder auf seine Weise, Keynes ausgelegt und dessen Gedanken in die Praxis umsetzen wollen.

Der Plan löste eine riesige Hoffnungswelle in der werktätigen Welt Belgiens aus. Es war die Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft, an der jedermann teilhaben sollte. Wie wurde er dagegen im Ausland aufgenommen?

In Holland hatten die Thesen de Mans schon 1930 eine starke Auswirkung auf die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP). In Frankreich stellte 1934 Paul Desjardins de Man die Abtei Pontigny zur Verfügung, damit er seine Thesen darlegen könne. Diese internationalen Treffen von Pontigny wurden die Ausgangsbasis, von der aus die Ideen de Mans über ganz Europa ausstrahlen sollten. Seit 1929 sah sich der französische Sozialismus einer doppelten Krise ausgesetzt: einer wirtschaftlichen und einer politischen. Den Linken gelang es nicht, aus ihren Wahlerfolgen des Jahres 1932 Kapital zu schlagen. Dazu litt die Partei zu sehr unter inneren Streitigkeiten zwischen „Neos“ (Marcel Déat), „Archeos“ und „Attentisten“, denjenigen, die sich abwartend verhielten. Unter allen diesen Tendenzen wird es die Gruppe „Konstruktive Revolution“ sein, die die Schriften de Mans in Frankreich veröffentlichen wird. Nach Auffassung des stellvertretenden Vorsitzenden der belgischen Arbeiterpartei war diese Gruppe weniger ideologisch vernagelt als die anderen und deswegen eher in der Lage, seine Ideen in nicht-sozialistischen Kreisen zu verbreiten.

Im September 1934 legt de Man also seine Thesen anlässlich eines Kolloquiums in der Abtei Pontigny vor. Der Kern dieser Thesen kann in der Form eines Gegensatzes veranschaulicht werden: alte deterministische Einstellung contra Politik des Willens (Voluntarismus). In diesen 14 Thesen stellt de Man fest, dass sich der Kapitalismus zu Ende entwickelt hat und prangert das Primat des Finanzkapitals über das Industriekapital an. In seiner 3. These unterstreicht er, dass der marxistische Determinismus ein symmetrischer Abklatsch des kapitalistischen Determinismus ist, da beide ein Determinismus der „unsichtbaren Hand“ sind. Wie in diesem Beitrag schon mehrmals erwähnt, war der Voluntarismus - ein bewusstes oder unbewusstes Erbe Nietzsches - in den Augen der eifrigsten Anhänger des Plans, dazu berufen, den vom Marxismus aus dem 19. Jahrhundert überlieferten Determinismus abzulösen. Vielleicht stellt dieser Übergang vom Determinismus zum Voluntarismus das Hauptmerkmal der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts dar. Infolge des Zusammenbruchs der Faschismen 1945 erlebte dieser Voluntarismus eine Wiedergeburt innerhalb der linken Studentenschaft der Jahre 1967-1970. 1934 erlebten die Thesen de Mans einen wahren Triumph in Paris. Zu den frühesten Anhängern seines voluntaristischen, heroischen und mystischen Sozialismus zählen, neben Lefranc und Déat, Männer wie Bertrand de Jouvenel und Thierry Maulnier. Die Ideen de Mans werden in alle französischen Gruppierungen, die nach einem Dritten Weg suchen, hineinsickern. Wenn man einmal von den Überläufern aus der sozialistischen Gewerkschaft SFIO - wie Déat und seinen Freunden - absieht, werden planistische Ideen später von der personalistisch-christlichen Zeitschrift ESPRIT unter Emmanuel Mounier, von den jüngeren Traditionalisten aller möglichen Schattierungen, z.B. den Korporativsten um die Zeitschrift ORDRE NOUVEAU oder der Mannschaft der pluridisziplinären Zeitschrift L`HOMME NOUVEAU von Georges Roditi sowie vom kurzlebigen Wochenblatt LUTTE DES JEUNES, gegründet von Bertrand de Jouvenel, erfolgreich vertreten. In dieser Konstellation fand man, ohne festen Zusammenhang, die Namen von Denis de Rougement, Alexandre Marc, Jean Lacroix, des späteren Ministers von de Gaulle Michel Debré, des Sorel-Anhängers Pierre Andreu, Pierre Drieu la Rochelle, Robert Marjolin, Alfred Fabre-Luce u.a. Schon 1935 hatte Roditi de Gaulle gelobt. Bertrand de Jouvenel entfernte sich schließlich von de Man und nahm eine radikale Position ein, die kurz vor dem Krieg und während des Krieges in einen technokratischen Faschismus münden sollte, bis er, von seinen Illusionen und Enttäuschungen ernüchtert, in der französischen Gruppe „Futuribles“ mitwirkte. Die planistischen Ideen fanden in Frankreich ein so starkes Echo, dass man nicht nur ihre Ein- und Auswirkungen auf den werdenden französischen Faschismus studieren sollte (Déat entwickelte aus der neosozialistischen PSDF 1941 die faschistische Sammlungspartei RNP); ein ganzes Buch wäre notwendig, um eine vollständige Übersicht der nonkonformen Geisteswelt im Frankreich der 30er Jahre zu geben. Denn die ganze nonkonforme Führungsschicht hat de Man studiert.

Und was geschah in Deutschland? Nach Ansicht des Franzosen A. Dauphin-Meunier könnte man die Thesen de Mans mit denen Rathenaus vergleichen. Ungeachtet seiner hohen Position in der Welt der Industrie, der Finanz und der Technik verurteilte Rathenau in seinen Schriften die „mechanisierte Welt“, die „eingesperrt sei im Fanatismus einer seelenlosen Wissenschaftsvergötterung“. Doch ist in den Büchern de Mans nirgendwo von Rathenau die Rede. In „Die dreifache Revolution“ übt Rathenau eine scharfe Kritik am Liberalismus und betrachtet gleichzeitig den Marxismus als ungeeignet, der neuen Zeit zu begegnen. Für Rathenau - wie später für de Man - war ipso facto eine Reform des Staates Voraussetzung. Dauphin-Meunier gegenüber bestätigte de Man, dass er Rathenau enorm viel verdanke. Nicht Stalins Fünfjahrespläne haben also den belgischen Sozialistenführer angeregt, sondern die Projekte von Rathenau. In seiner Pontigny-Zeit verwarf de Man noch den „kulturellen Pessimismus“ Rathenaus. Die Mechanisierung (Amerikanisierung) beunruhigte Rathenau. De Man allerdings glaubte an die seelische Kraft des Einzelnen. Er war ein Lehrer der Energie, auf sportlichem wie auf intellektuellem Gebiet, und glaubte fest an die unterschwelligen Möglichkeiten seiner Schüler. Warum hat er Rathenau nie erwähnt? Vielleicht, weil der Sozialist de Man nicht mit dem Großkapitalisten Rathenau in einen Topf geworden werden wollte.

Nachdem er als Finanzminister in schwierigen Jahren tätig war, zeigte sich de Man immer enttäuschter von den Mechanismen des parlamentarischen Systems. 1936, anlässlich der Wahlen in Brüssel, machen alle Parteien Front, um die Rexisten von Degrelle daran zu hindern, massenweise ins Parlament zu kommen. Der Kardinal von Roey scheut sich nicht, in den Kirchen verkünden zu lassen, dass es eine Todsünde sei, für Degrelle zu stimmen! Ohne diese Einmischung hätten zahlreiche Katholiken Degrelle ihre Stimme gegeben. Im selben Augenblick verdoppeln die flämischen Nationalisten und die Kommunisten die Zahl ihrer Sitze. Der alternde Vandervelde ereifert sich gegen de Man und Spaak. Seiner Ansicht nach verrieten die beiden Planisten die heilige Sache der spanischen Republikaner, indem sie einer strikten Neutralität in diesem Krieg das Wort redeten. Finanzielle Skandale stiften Verwirrung innerhalb der katholischen und liberalen Partei - zur großen Freude der Rexisten. In dieser verworrenen Zeit trifft sich de Man regelmäßig mit König Leopold III. Zwischen beiden Männern entsteht eine echte Freundschaft. Beide fällen eine pessimistische Diagnose über die Zukunft der parlamentarischen Demokratie und ihre Korruptheit. 1937 wünscht sich Leopold III. de Man als Premierminister. Doch nach unendlichem Hin und Her wird de Man abermals Finanzminister. In Flandern findet de Man begeisterte Anhänger unter den jungen Führerschaft der Partei, darunter Michel Tommelein. Mit ihm nehmen die „Jungen Sozialistischen Gardisten“ an allen flämischen Nationalfeiern teil, so z.B. am Guldensporendag (11. Juli), der an die Niederlage der französischen Ritterschaft (1302) gegen die Handwerker von Brügge und Ieper (Ypern) erinnert. Ein Flügel der Partei befindet sich somit auf bestem Wege zur Nationalisierung.

Im Jahre 1938 freut sich de Man über das Ergebnis des Münchener Abkommens. Für das Pariser Blatt L`OEUVRE schreibt er eine Reihe von Artikeln für den Frieden. Mit dem Einverständnis des Königs bereist er alle europäischen Länder, vor allem die des Osloer Paktes (Benelux und Skandinavien). Zu seinen aufmerksamsten Zuhörern zählen der norwegische Minister Koth und der französische Schriftsteller Jules Romains. Dieser rät ihm, den frankophilen Diplomaten Otto Abetz in Berlin aufzusuchen. De Man wird jedoch weder mit Ribbentrop noch mit Hitler ein Gespräch gewährt. In Italien trifft er sich mit dem italienischen Außenminister Ciano, der ihm erklärt, dass Italien nach einem günstigen Vorwand und den notwendigen Bündnissen sucht, um seine Rechnung mit Frankreich endgültig zu begleichen. Zu diesem Zeitpunkt ist de Man zu der Ansicht gelangt, dass die Achsenmächte eine europäische Friedenskonferenz nicht wünschen.

Ende 1938 stirbt „Vater“ Vandervelde. De Man wird an die Spitze seiner Partei gewählt, weil er als einziger genügend Prestige und Energie hat, um dieses Amt zu bekleiden. Den militanten Antifaschismus der unteren Führungskräfte der Partei bezeichnet de Man als „konservativ“! Für ihn ist eine solche Einstellung die Weigerung, die anstehenden Probleme richtig zu verstehen und anzupacken. Im September 1939 wird de Man Minister ohne Geschäftsbereich in einer Regierung, die sich auf das Schlimmste gefasst macht. In Flandern werden seine Ideen in der hervorragenden Zeitschrift LEIDING verbreitet, die Sternhell bedauerlicherweise nicht lesen konnte. Diese Zeitschrift sprach sich für eine kompromisslose Neutralität aus und trat ein doppeltes pazifistisches Erbe an: dasjenige der Sozialistischen Internationale und dasjenige des flämischen Nationalismus. Letzterer hatte in den 20er Jahren die französisch-belgischen Militärabkommen vehement angegriffen. Eines seiner beliebtesten Schlagworte war: „Kein Tropfen flämischen Blutes für Frankreich!“ Im jüngst entbrannten Konflikt eine Auseinandersetzung zwischen Faschismus und Antifaschismus zu erblicken, wäre widersinnig: das autoritär-militärisch regierte Polen war mit der französischen und der englischen Demokratie verbündet; die Vereinigten Staaten und Italien blieben neutral. Das Portugal Salazars und die Türkei von Kemal Atatürk hatten Abkommen geschlossen mit Frankreich und England. Die Lage konnte unmöglich in Schwarz-Weiß geschildert werden. Das schrieb de Man zur Zeit der „Drole de Guerre, des kuriosen Krieges zwischen September 1939 und Mai 1940. Von Sozialisten, so schrieb er, seien bald antifaschistische Motivationen, bald antikapitalistische Gefühle zu vernehmen: so etwas lösche die katastrophalen Folgen des Versailler Vertrags nicht aus! De Man bleibt bei seinem Standpunkt der Jahre 1919-1923: Kriegstreiberei sei unverantwortlich. Die Schreiberlinge, die sich ein europäisches Gemetzel wünschen, so wird er in LEIDING schreiben, werden selbstverständlich der Mobilmachung entkommen; die laufen keine Gefahr, Witwen und Waisen zu hinterlassen.

Im Mai 1940 rücken die deutschen Truppen in Belgien ein, um leichter auf Paris marschieren zu können. De Man begibt sich fast sofort an die Seite des Königs, der ihn bittet, seine Mutter, Königin Elisabeth, geborene Wittelsbach und Witwe von Albert I., in Schutz zu nehmen. Mittlerweile leisten die französischen Truppen keinen ernsthaften Widerstand. Die belgische Armee sprengt Brücken - sofern ihre knapp bemessenen Mittel es ihr erlauben, läuft allerdings Gefahr, von den Stukas abgeschnitten und bombardiert zu werden. Die Straßen des Landes sind überfüllt mit Tausenden von Flüchtlingen. Um ein fürchterliches Massaker zu vermeiden, beschließt der König die Kapitulation und bleibt im Land mit seinen Soldaten gefangen. Der französische Minister Paul Reynaud und die Pariser Presse überschütten den Monarchen mit Beschimpfungen, bezichtigen ihn des Verrats, um der eigenen Öffentlichkeit den Zusammenbruch der französischen Armee zu verschleiern. Nach Ansicht Reynauds hatte Leopold III. zwei schlechte Berater: General van Overstraeten und - de Man. Die Bevölkerung ihrerseits freut sich über das Ende des Krieges. Viele Soldaten kehren heim. Die Parlamentsmitglieder sind in Frankreich, und das Volk betrachtet sie als „Déserteurs“. Belgien bekommt eine Militärverwaltung unter dem General der Infanterie Alexander von Falkenhausen. Dieser hat nur eines im Sinn: Frieden und Ordnung. Alles bleibt beim Alten.

In der Vorkriegszeit hatte neutralistisches Gedankengut die Gemüter stark beeinflusst. Ein Großteil der Abgeordneten hatte sich die These einer Nichteinmischung im Falle eines deutsch-französischen Konflikts zu Eigen gemacht. Selbst der Kardinal von Roey ließ vernehmen, es sei „ein Verbrechen, die Nation in einen Krieg hineinzuzerren“. Auch die rechtsautoritären Parteien wie der nationalflämische VNV (Vlaams Nationaal Verbond), die wallonische Rex-Bewegung von Léon Degrelle, die royalistische „Ligue pour l`Indépendance“ oder gar der VERDINASO (Verbond van Dietsche Nationaal-Solidaristen) eines Joris van Severen entschieden sich für eine strikte Neutralität. Die Kommunisten, geschockt durch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom August 1939, waren etwas verwirrt, gehorchten jedoch schließlich wohl oder übel den Weisungen des damals mit dem Deutschen Reich verbündeten Kremls. Die Sozialisten hüllten sich in Schweigen, in der Meinung, die Neutralität sei alles in einem das kleinere Übel. Doch wollten sie ihre moralische Solidarität mit den gegen den Nazismus Krieg führenden Demokratien nicht verleugnen. Sowohl in Flandern als auch in Wallonien werden Manifeste für die Neutralität unterschrieben. Unter den Mitunterzeichnern findet man die Namen von Robert Poulet (1945 in absentia zum Tode verurteilt), dem Historiker Paul Colin (1943 vom Widerstand ermordet), dem Journalisten Paul Herten, dem Essayisten Pierre Daye (Rexbewegung), von Léon Moulin und Raymond de Becker. Auf der flämischen Seite tauchen insbesondere Victor Leemans (VNV), Frans Daels (VNV, 1945 in die Schweiz geflüchtet) und der Dichter und Abt Cyriel Verschaeve auf. In Lüttich unterschreiben mehrere Persönlichkeiten ein Gegenmanifest, in dem die Solidarität mit Frankreich verlangt wird. Zu den Unterzeichnern gehörte de Mans ehemaliger Weggefährte Louis de Brouckère. Der Salon des Ehepaars Didier in Brüssel organisierte regelmäßige Konferenzen, wo neutral gesinnte Persönlichkeiten (darunter natürlich de Man) das Wort ergriffen. Während des Krieges hoben Edouard und Lucienne Didier die berühmten „Editions de la Toison d`Or“ aus der Taufe, welche u.a. die Ideen der „Konservativen Revolution“ in Belgien verbreiteten. Soviel über die politisch-geistige Stimmung in Brüssel. Der deutsche Einmarsch überraschte eine öffentliche Meinung, die eher geglaubt hatte (wie General van Overstraeten), die Franzosen würden als erste in Belgien einmarschieren, um das Ruhrgebiet zu erreichen und Polen Hilfe zu leisten. Deswegen waren im Oktober 1939 zwei Drittel der belgischen Streitkräfte im Süden des Landes konzentriert. Im Mai 1940 beging Deutschland einen schweren psychologischen Fehler.

Nach der Kapitulation Frankreichs und dem Waffenstillstand glaubt der aus dem Regierungsamt entlassene de Man feststellen zu müssen, dass die Ära des Liberalismus zu Ende ist und dass Hitler Europa einigen wird. Von jetzt an kann die „soziale Revolution in Deutschland“ (so nannte man sie nämlich in Westeuropa) nicht mehr totgeschwiegen werden. De Man fordert deshalb die Mitglieder der Arbeiterpartei auf, die Tatsache des deutschen Sieges anzuerkennen, die wirtschaftliche Tätigkeit der sozialistischen Stiftungen weiterzuführen, die politische Rolle der Partei jedoch als endgültig beendet zu betrachten. Seiner Meinung nach hatte der Nationalsozialismus die Klassenschranken weitgehend abgebaut. Das Manifest de Mans hatte gleichwohl einen autoritären Charakter, wollte es doch alle Belgier unter der Schirmherrschaft des Königs versammeln. Letztendlich wollte de Man unter der deutschen Besatzung ein politisches System herbeiführen, aus dem alle ehemaligen Parlamentarier, Minister und Politiker ausgeschlossen wären. Diese Umorientierung wird von der Partei nicht gutgeheißen: die Rolle der Arbeiterpartei betrachtet man dort nicht als beendet. Man wagt nicht, eine solche Perspektive in Betracht zu ziehen. Von jetzt ab wird de Man zum Außenseiter in den eigenen Reihen. In Zukunft wird er ein „cavalier seul“ sein, wie er später die französische Ausgabe seiner Autobiographie betitelt. Jedoch läuft er nicht zum Nationalsozialismus über: Er hat bloß vermeiden wollen, dass Männer der Rechten, vor allem Klerikale, sich durch kollaborationistisches Überbieten der Verwaltung des Landes bemächtigen. Das einzige Zugeständnis de Mans an die hitleristische Ideologie im Manifest von 1940 war der Hinweis auf den „Schutz der Rasse“. Wenn wir hier von Zugeständnis sprechen, dann deshalb, weil sich im Gesamtwerk de Mans keine einzige Anspielung auf Rassismus oder Antisemitismus befindet. Jahre später schrieb er, dass er den Schritt zum Nationalsozialismus nicht vollziehen konnte, weil er dieses Regime allzu sehr kannte, hatte er doch seine Machtübernahme miterlebt und es 1933 zu bekämpfen versucht. „Seien wir stets auf der Seite der Menschlichkeit gegen den Krieg - sozialistische Politik und Friedenspolitik darf nicht im Dienste des Kriegführenden stehen.“ Dazu kommt, dass für de Man der Nationalsozialismus nicht der belgischen Mentalität entsprach, dem Asketen de Man lag die geradezu überschwängliche Begeisterung der Nationalsozialisten fern. Ein Umstand, auf den auch die herzhafte Abneigung gegen den Enthusiasten Degrelle zurückzuführen war.

Allerdings gingen etliche Jungsozialisten zur Kollaboration über, unter ihnen Edgar Delvo. Diese jungen Männer glaubten an den politischen Tod der Arbeiterpartei. Das „Manifeste aux militants socialistes“, ein Aufruf de Mans an die sozialistischen Aktivisten, datiert vom 28. Juni 1940. Am 31. Juli wird ein neuer „Allgemeiner Arbeiterverband Belgiens“ (Confédération générale du Travail de Belgique, CGTB) gegründet. Der 22. November ist das offizielle Geburtsdatum der „Union der Hand- und Geistesarbeiter“, die einen Versuch darstellt, alle belgischen Gewerkschaften in einer einzigen Dachorganisation zusammenzufassen. In diesem Organ sollte Delvo wichtige Funktionen innehaben. Dies war der Rahmen, in dem die den Leitideen de Mans treu gebliebenen Altkameraden, die sich für die Kollaboration entschlossen, tätig werden sollten. Nach dem Krieg veröffentlichte Delvo drei Bücher, welche die Gründe für seine Entscheidung darlegen. In der Vorkriegszeit hatte Delvo durch seine regelmäßigen Gespräche mit Professor Victor Leemans Werner Sombart, Carl Schmitt und Hans Freyer kennen gelernt. Der erste von diesen drei deutschen Denkern hatte ihn auf die Wichtigkeit des nationalen Faktors innerhalb des Sozialismus jedes Volkes aufmerksam gemacht. Carl Schmitt hatte ihn scheinbar weniger angesprochen. Hier liegt der Unterschied zwischen dem Katholiken Leemans und dem Sozialisten Delvo. Hans Freyer war es, der geschrieben hatte, der Marxismus vermöge nicht, Hegels konkretes und organisatorisch erfülltes Freiheitsideal sozialistisch weiterzubilden und sinke in flache egalitäre Freiheitsideen zurück. Delvo stand diesem jungen, hegelianisch geprägten Sozialismus nahe, ganz besonders aber jenem Idealismus, den man in den deutschen Jugendbewegungen wieder findet. Selbstverständlich setzte sich Delvo für eine echte Volkssolidarität ein und billigte die klassisch gewordenen Reden der Rechten wider den Gleichheitsgedanken, in dem er - nicht zu Unrecht - einen Klassenegoismus erblickte. Eine feste Freundschaft entstand zwischen Delvo und dem Leiter des VNV, Staf de Clercq. Delvo fühlte sich angesprochen durch die geplante Schaffung einer einzigen Bewegung für das gesamte flämische Volk. Im Übrigen sollte eine entsprechende Bewegung auch in Wallonien ins Leben gerufen werden. De Man allerdings wünschte eine einzige Bewegung für das gesamte Königreich unter der Schirmherrschaft des Königs, während Delvo und de Clercq die Monarchie als überflüssig empfanden. Der Nachfolger de Clercqs, Elias, betrachtete de Man als einen entwurzelten Weltenbummler. De Man dachte seinerseits, der völkische Kult der Scholle sei belanglos.

Als er zusehen musste, wie die Kollaboration immer mehr föderalistische Pfade beschritt, statt darauf hinzuzielen, die Monarchie zu unterstützen oder den alten belgischen Nationalstaat aufrecht zu erhalten, beschloss de Man, sich nach Savoyen zurückzuziehen. Von da an orientierte sich die Kollaboration an pangermanischen Vorbildern und an der SS, indem sie auf die Schaffung von zwei Volksgauen hinarbeitete, die von zwei Volksführern geleitet würden: dem Pangermanisten Jef van de Wiele, Leiter der Organisation Devlag (Deutsch-Flämische Arbeitsgemeinschaft) und dem Wallonen Léon Degrelle, dem politischen Führer der „Légion Wallonie“. Diese neue Orientierung missfiel zahlreichen konservativ gesinnten Anhängern der Monarchie, vor allem denen, die sich vor dem Krieg in der „Légion Nationale“ von Paul Hoornaert eingefunden hatten, einer Bewegung, die manchmal auf Maurras, ja sogar manchmal auf Mussolini schwor. Als königstreue Bewegung trat sie für die nationale Einheit gegen den flämischen Separatismus ein. Ihre Gefolgschaft sollte größtenteils zum bewaffneten Widerstand übergehen. So erlebte Belgien in den Jahren 1943 und 1944 einen Bürgerkrieg, in dem „königstreue Faschisten“ einen erbarmungslosen Kampf gegen „Nationalsozialisten“ führten, die föderalistisch dachten und die Rückkehr der ehemaligen „Österreichischen Niederlande“ in den Schoß des Reiches erzwungen wollten. Ab 1941 werden die Kommunisten in den Widerstand treten, was die Lage weiter erschweren wird.

Schon im Herbst 1941 hält de Man sich in Savoyen auf, wo er sich dem Verfassen mehrerer historischer und autobiographischer Bücher widmet. Er nimmt Abstand vom Zeitgeschehen und schreibt den ersten Entwurf von „Au delà du Nationalisme“ (Jenseits des Nationalismus), eines Buches, das 1946 in Genf erscheint und das mit der faschistischen Versuchung endgültig bricht - eine Tatsache, die Sternhell hätte unterstreichen können. War de Man enttäuscht von der Entwicklung der Lage? Bedauerte er den deutschen Einfall in die UdSSR, und ahnte er dessen unheimliche Folgen für das Reich? Klagte er darüber, dass die Kollaboration sich als „nur antikommunistisch“ gab, was de Man als unangepasst und überholt betrachtete, war doch der Marxismus selber schon überholt? Während man die erste dieser Fragen mit „Ja“ beantworten kann, fällt es sehr schwer, die anderen richtig zu beantworten. Sie werden ein historisches Rätsel bleiben. In seinem Werk „Jenseits des Nationalismus“ befürwortete de Man eine Art von supranationalem „Funktionalismus“, der an eine humanistische Einweltideologie grenzt. Er sah auch, dass Europa immer vor Washington und Moskau zurückwich. Dank seiner treuen Freundschaft zu Hans Oprecht, dem Präsidenten der schweizerischen Sozialistischen Partei, setzt sich de Man 1944 in die Schweiz ab. Mittlerweile verurteilen ihn belgische Militärgerichte zu 20 Jahren Haft und zur Beschlagnahmung seines gesamten Vermögens. Eine große politische Karriere erfährt ein trauriges Ende.

Spaak allerdings geht 1940 nach London, nachdem er vergeblich bei der deutschen Besatzungsmacht um ein Amt in der künftigen Verwaltung Belgiens geworben hatte. Das Schicksal trennte beide Männer besonders tragisch: Spaak kehrte 1944 nach Brüssel zurück, nachdem die britischen Armeen unter Montgomery in die Stadt einmarschiert waren. Es ist anzunehmen, dass er im Grunde seines Herzens weiterhin Affinitäten zu de Man hatte. So zum Beispiel verlas er 1957 in Genf, im Rahmen der „Rencontres Internationales“, ein glänzendes Referat über „Europa und seine Einswerdung“, wobei er insbesondere auf den „Funktionalismus“ hinwies.

Bevor er nach Savoyen ging, war de Man in Paris Ernst Jünger begegnet. Er fühlte sich angesprochen von den Fragmenten des Tagebuchs „Gärten und Straßen“. Der Verfasser der „Marmorklippen“ zog ihn an, besonders wegen seines Scharfsinns und seines schlichten, sachlichen Stils. In seinen Erinnerungen schreibt de Man, er hätte Ernst Jünger gerne entweder unter seinem Befehl als Unteroffizier oder als Vorgesetzten und Truppenführer oder gar als Gegner gehabt.

Während seines Aufenthaltes in der Schweiz heiratete de Man wieder und begann mit einer letzten, sehr eigenartigen Arbeit, die in Deutsch unter dem Titel „Vermassung und Kulturverfall“ erschien. Es handelt sich um ein soziologisches Buch, in dem der anthropologische Pessimismus des kulturellen Konservatismus (Spengler, Ortega y Gasset u.a.) stark mitschwingt. Delvo schreibt, in diesem Werk sei de Man unkenntlich geworden: Die Lebenskraft und der Optimismus des ehemaligen Sozialistenführers seien in keiner Zeile wieder zu finden. Über „Vermassung und Kulturverfall“ müsste man einen ganzen Artikel schreiben, was den Rahmen dieses Porträts allerdings sprengen würde. Am 20. Juni 1953 wird der kleine Wagen de Mans von einem Zug erfasst. Hendrik de Man ist sofort tot. In Belgien können die Regierenden aufatmen: Er wird nie wieder sprechen.

 

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