Zeitgeschichte + Hintergründe

 

Kemal Atatürk - Begründer der modernen Türkei

Verfasser: Richard Schapke, August 2001

 

1. Vorbemerkungen

Gegenstand dieses Aufsatzes ist das Werk Kemal Atatürks, unter dessen Führung das türkische Volk sich aus den Trümmern des im Ersten Weltkrieg zusammengebrochenen Osmanischen Reiches erhob. Aus dieser Erhebung gingen ein vollkommen neuer Staat und eine neue Nation hervor, die einen radikalen Bruch mit ihrer islamischen Vergangenheit vollzogen und die - noch immer nicht beendete - Transformation hin zu einer laizistischen, europäisch geprägten Gesellschaft einleiteten. Es handelt sich bei dieser Transformation um die wohl tiefgreifendste Kulturrevolution des 20. Jahrhunderts.

Ende des 19. Jahrhunderts war das einst mächtige Osmanische Reich nur noch ein Schatten seiner selbst. Bereits im 16. Jahrhundert zeigten sich erste Stagnationserscheinungen, die gepaart mit einer wirtschaftlichen Dauerkrise spätestens mit dem Debakel vor Wien 1683 in einen Niedergang ohnegleichen einmündeten. Die zaghaften Reformen der Tanzimat-Periode fanden 1877/78 ihr Ende, als Sultan Abdul Hamid II. seine autokratische Herrschaft errichtete. Zu dieser Zeit erstreckte sich das Osmanische Reich von Albanien und Mazedonien bis nach Mesopotamien, Palästina und in den Irak. Das Land geriet unter internationale Finanzkontrolle und in wirtschaftliche Abhängigkeit von ausländischen Mächten. Im Westen strebten die christlichen Gebiete auf dem Balkan nach Unabhängigkeit, im Osten regte sich der arabische Nationalismus. Verzweifelt war die osmanische Regierung bemüht, durch administrative, wirtschaftliche, militärische und technische Reformen den endgültigen Zerfall des Reiches zu verhindern. Zu nennen ist hier nicht zuletzt die militärisch-technische Unterstützung durch das deutsche Kaiserreich, das dem Sultan in Istanbul mit Militärberatern zur Seite stand und den Bau strategischer Eisenbahnlinien förderte (Bagdadbahn). Inmitten einer Welt von Feinden sollte das Deutsche Reich dann auch von der osmanischen Regierung als einziger aufrichtiger Partner angesehen werden.

2. Militärische Karriere

Der nachmalige Begründer der modernen Türkei wurde unter dem Namen Mustafa 1881 in Saloniki im heutigen Griechenland als Sproß einer der wenigen türkischen Kleinbürgerfamilien geboren. Der Vater arbeitete sich vom kleinen Beamten zum Holzhändler empor, starb aber bereits im 7. Lebensjahr seines Sohnes. Mit 12 Jahren trat Mustafa gegen den Willen seiner Mutter Zübeyde Hanim in die Militärschule von Saloniki ein. Angesichts der von einer degenerierten Bürokratie und parasitären Steuerpächtern dominierten osmanischen Gesellschaft bot der Militärdienst die einzige Chance auf sozialen Aufstieg und Karriere. An der Militärschule erhielt Mustafa nach altem türkischem Brauch von seinem Lehrer den Zweitnamen Kemal. 1895 erfolgte die Versetzung an die Militärakademie von Monastir, 1899 die Aufnahme als Kadett durch die Infanterie-Kriegsschule in Istanbul. Der begabte Jungoffizier absolvierte 1902 einen Stabslehrgang und erhielt 1905 die Beförderung zum Hauptmann im Generalstab.

An der Kriegsschule kam Mustafa Kemal mit der Ideologie der jungtürkischen Opposition in Berührung. Die Jungtürken strebten nach dem Sturz des verhaßten Autokraten Abdul Hamid, um das dahinsiechende Reich durch rigide Modernisierung, Zentralisierung und Übernahme westlicher Regierungsformen zu retten. In reichlicher Naivität hofften sie auf Unterstützung durch die europäischen Imperialisten und darauf, daß sich unter den zahlreichen Nationalitäten des Reiches so etwas wie ein osmanischer Nationalismus entwickeln könnte. Mustafa Kemal beteiligte sich nicht zuletzt durch Herausgabe einer Untergrundzeitung an den jungtürkischen Aktivitäten, was ihm sehr bald die Verhaftung und Hausarrest einbrachte.

Nach einigen Monaten unter Arrest erfolgte 1905 die Versetzung in den Stab des 5. Armeekorps nach Damaskus. Hier erwarb der junge Hauptmann die ersten militärischen Erfahrungen im Kampf gegen rebellierende Drusenmilizen. Bereits 1906 begegnet Mustafa Kemal uns als Mitbegründer der Vaterlands- und Freiheitsgesellschaft, einer der ersten jungtürkischen Umsturzzellen im Osmanischen Reich. Angehörige der Verschwörergruppe waren fast ausschließlich junge Offiziere des 5. Korps. Als 1907 die Versetzung nach Saloniki zum 3. Armeekorps erfolgte, arbeitete der nunmehrige Major an untergeordneter Stelle im Komitee für Einheit und Fortschritt mit. Dieses organisierte 1908 maßgeblich die sogenannte Jungtürkische Revolution, die das Regime Abdul Hamids beseitigte. Angesichts anhaltender Feindseligkeit des Westens und innenpolitischer Schwierigkeiten mündete die Revolution in eine Militärdiktatur, die eine immer schärfere Türkisierungspolitik einschlug und gewissermaßen den modernen türkischen Nationalismus gesellschaftsfähig machte.

Mustafa Kemal beteiligte sich jedoch nicht an den politischen Händeln, sondern widmete sich dem Militärdienst. Unter anderem übersetzte er General Litzmanns Handbücher für die Gefechtsausbildung auf Zug- und Kompanieebene. Als 1909 ein reaktionärer Gegenputsch erfolgte, marschierten die Truppen aus Saloniki nach Istanbul und retteten die Lage für die jungtürkische Bewegung. Mustafa Kemal fungierte zu dieser Zeit als Stabschef des 3. Armeekorps, hatte also maßgeblichen Anteil an der Niederwerfung der Konterrevolution. Im Tripoliskrieg von 1911 organisierte er zusammen mit Enver Pascha den Widerstand gegen die Italiener in Libyen und hatte in den Balkankriegen 1912/13 weitere Frontkommandos inne. Beide Konflikte verliefen unglücklich und brachten dem Reich den Verlust der letzten afrikanischen und fast aller europäischen Besitzungen ein. In dieser angeschlagenen Verfassung trat das Osmanische Reich 1914 auf Seiten Deutschlands in den Ersten Weltkrieg ein.

Anfang 1915 wurde Mustafa Kemal auf eigenen Wunsch seines Postens als Militärattaché in Bulgarien enthoben und übernahm die neuaufgestellte 19. Division auf der Halbinsel Gallipoli. Das nun folgende Debakel einer alliierten Invasion auf der Istanbul vorgelagerten Halbinsel war nicht zuletzt den außerordentlichen militärischen Fähigkeiten des jungen Karriesoldaten und dem Opfermut seiner Soldaten zu verdanken. Mustafa Kemal wurde zum Pascha erhoben, mit Ehrungen überhäuft - und an die Front nach Ostanatolien abgeschoben, da ein siegreicher Nationalheld der Regierung suspekt war. Im August 1916 konnte Mustafa Kemal Pascha den russischen Invasoren eine empfindliche Niederlage beibringen, es folgten wechselnde Kommandos in Palästina gegen die Briten und wieder im Kaukasus gegen die Russen. Den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches leitete im September 1918 die britische Offensive in Palästina und Syrien ein, die auch Mustafa Kemals 7. Armee nicht aufhalten konnte. Immerhin gelang es ihm, nördlich Aleppo eine Riegelstellung aufzubauen.

Am 30. Oktober 1918 unterzeichnete Izzet Pascha auf Geheiß von Sultan Mehmed Vahideddin den Waffenstillstand mit den Alliierten. Das jungtürkische Komitee für Einheit und Fortschritt löste sich auf, seine Führer setzten sich auf einem deutschen Kanonenboot über das Schwarze Meer ab. Nach 8 Jahren Kriegszustand und zahlreichen Opfern lag das Osmanische Reich vollends am Boden. Die Sieger zerstückelten das osmanische Gebiet, obwohl noch kein Friedensvertrag unterzeichnet war. Großbritannien nahm sich Istanbul und die Meerengen, die gesamte Anatolische Eisenbahn und weitere Häfen sowie Palästina und den heutigen Irak, Frankreich besetzte Kilikien und Syrien und Italien den Südwesten Kleinasiens.

3. Nationaler Widerstand

Angesichts der Lage in Istanbul konnte auch Mustafa Kemal Pascha als einziger unbesiegter osmanischer Feldherr nichts tun. Mehmed Vahideddin entpuppte sich als opportunistischer Herrscher, der für den Erhalt seiner Macht und derjenigen der parasitären osmanischen Elite selbst ein alliiertes Protektorat über Istanbul hingenommen hätte. Der Sultan löste das Abgeordnetenhaus auf, demobilisierte die Streitkräfte und leitete die Verfolgung der türkischen Nationalisten ein.

Am 15. Mai 1919 landete eine griechische Armee mit alliierter Hilfe in Izmir. Endziel war die Errichtung eines Großgriechenlands, das neben Hellas und der Ägäis den Westen Kleinasiens, Istanbul und die europäische Türkei umfassen sollte. Auf Befehl des Sultans leistete die Armee keinerlei Widerstand. Aber gerade die tiefste Demütigung des türkischen Volkes sollte der Wendepunkt werden. Angesichts der griechischen Bedrohung und des würdelosen Verhaltens der Zentralregierung ging ein Aufschrei durch die Bevölkerung. Sehr bald sahen die Griechen sich einem Guerrillakrieg gegenüber, und vor allem in Anatolien regte sich der nationale Widerstand immer stärker.

Um diesen potentiellen Unruheherd auszuschalten, entsandte der Sultan ausgerechnet Mustafa Kemal Pascha nach Anatolien, um die Demobilisierung der dortigen Truppen zu überwachen und die Guerrillabanden zu entwaffnen. Der General nahm jedoch Kontakt zum Widerstand auf und bereitete die bewaffnete Verteidigung des türkischen Herzlandes gegen die griechisch-alliierte Invasion vor. Als ruchbar wurde, daß er sich auf die Seite des Widerstandes geschlagen hatte und die Einberufung eines nationalistischen Kongresses nach Sivas forderte, wurde Mustafa Kemal postwendend seines Kommandos enthoben. Am 23. Juli 1919 wurde er von einem Delegiertenkongreß der ostanatolischen Provinzen in Erzurum zum Vorsitzenden gewählt, um auch den Vorsitz des am 4. September eröffneten Kongresses von Sivas zu übernehmen. Die nationalistische "Vereinigung für die Verteidigung der Rechte Anatoliens" legte sich ein Repräsentativkomitee zu, das von Kemal geführt wurde und sich zum Motor des politischen Kampfes entwickelte. Die Delegierten verabschiedeten den schon in Erzurum angenommenen Nationalen Pakt: Territoriale Integrität und nationale Unabhängigkeit aller Gebiete mit einer türkischen Bevölkerungsmehrheit sollten gegebenenfalls mit bewaffneter Gewalt verteidigt werden.

Nicht zuletzt auf Druck der Militärs und der Nationalisten ernannte der Sultan im Oktober eine neue Regierung und gestattete Neuwahlen, die zu einer weiteren Stärkung der nationalen Bewegung führten. Die alarmierten Alliierten gingen nach der Plünderung britischer Waffenlager im April gegen die Bewegung vor, bereitwillig assistiert vom Sultan, der das Parlament für aufgelöst erklärte und die Führer der Nationalisten in Abwesenheit zum Tode verurteilen ließ. Als Antwort ließ Mustafa Kemal eine provisorische Große Nationalversammlung in Ankara zusammentreten. Diese ernannte am 4. Mai ein 11köpfiges Exekutivkomitee als faktische Gegenregierung und erklärte die Kabinettsmitglieder in Istanbul zu Volksverrätern.

Am 10. August 1920 unterzeichnete diese Zentralregierung den Vertrag den Sèvres, den übelsten Vernichtungsfrieden des Ersten Weltkrieges. Das Osmanische Reich wurde auf einen völlig vom Ausland abhängigen Satellitenstaat in Istanbul und Inneranatolien reduziert. Die Nationalisten lehnten das Diktat vehement ab - mit der Unterschrift hatte die Regierung des Sultans sich vollends unmöglich gemacht. Die Nationalversammlung erklärte sich am 20. Januar 1921 zur alleinigen Vertretung des türkischen Volkes, für dessen Siedlungsgebiet erstmals die Bezeichnung Türkiye auftauchte, und bildete eine offizielle Gegenregierung unter Fevzi Pascha.

Nun setzte der Überlebenskampf der Nationaltürken gegen die griechische Großoffensive ein. Ismet Pascha konnte die Invasoren zweimal bei Inönü besiegen, sie jedoch nicht dauerhaft aufhalten. Wichtige Hilfe brachte der am 16. März abgeschlossene Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion ein. Man betonte den gemeinsamen Kampf gegen die imperialistische Intervention des Westens, und Moskau unterstützte die türkischen Nationalisten mit Waffen und Geld. Die Entscheidung fiel am 24. August 1921: Unter dem persönlichen Kommando Mustafa Kemals brachten die Nationalisten den Griechen am Sakarya-Fluß eine entscheidende Niederlage bei. Die Nationalversammlung verlieh ihm den Ehrennahmen Gazi, was soviel wie der Siegreiche bedeutet. Im Westen wurden die Zeichen der Zeit gehört: Frankreich und Italien unterzeichneten Freundschaftsverträge mit den Siegern und zogen sich aus Kleinasien zurück. Nach einer vernichtenden Niederlage der Griechen im August 1922 bei Dumlupinar fiel am 9. September Izmir. Auch Großbritannien gab nun nach, und am 11. Oktober 1922 unterzeichneten Alliierte und Nationalisten den Waffenstillstand von Mudanya. Der Westen erkannte die türkische Souveränität über Istanbul, die Meerengen und die europäische Türkei an.

Die Alliierten erkannten jedoch weiterhin die Sultansregierung an, woraufhin Mustafa Kemal beschloß, vollendete Tatsachen zu schaffen. Am 1. November 1922 nahm die Nationalversammlung das Gesetz über die Abschaffung der Monarchie an. Das Kalifat, also die Rolle eines geistigen Oberherren der islamischen Welt, verblieb beim Haus Osman, aber die Nationalversammlung wählte fortan seinen Inhaber aus. Mehmed Vahideddin flüchtete an Bord eines britischen Kriegsschiffes und wurde durch seinen Vetter Abdul Mecid ersetzt.

Am 24. Juli 1923 unterzeichneten die Türkei und die Alliierten den Friedensvertrag von Lausanne. Die Siegermächte des Weltkrieges erkannten die vollständige und ungeteilte Souveränität der Türkei an und verzichteten auf die aus osmanischer Zeit stammenden Sonderrechte ihrer Staatsbürger.Ein rücksichtsloser Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei bereinigte die ethnische Lage: Bis 1930 wurden 1,25 Millionen Griechen aus dem Land getrieben. Als einzige Mittelmacht hatte sich die Türkei aus ihren Ruinen erhoben, den Diktatfrieden zurückgewiesen und dem Westen ihre Bedingungen aufgezwungen. Mustafa Kemal war Realpolitiker genug, um auf politische Abenteuer in Nahost (Syrien, Irak) und Zentralasien zu verzichten. Die militärischen Siege hatten in seinen Augen erst den Boden für künftige Siege bereitet, die in den Bereichen Wissenschaft und Wirtschaft zu erringen waren. Der militärische Kampf um einen türkischen Staat war beendet, doch der Hauptkampf um die türkische Zukunft sollte noch folgen.

4. Aufbau das laizistischen Staates

Bereits im Februar 1923 formulierten die Nationalisten auf einem Wirtschaftskongreß in Izmir ihre weitere Politik. Die nationale Souveränität sollte auf der wirtschaftlichen Unabhängigkeit beruhen. Ohne wirtschaftliche Unabhängigkeit waren alle politischen und militärischen Erfolge wertlos, ohne ökonomische Erfolge konnten die ehrgeizigen Ziele der erwachenden Nation nicht erreicht werden. Genannt wurden in diesem Zusammenhang Mechanisierung der Landwirtschaft, Aufbau der Industrie sowie Verbesserung der Kommunikation durch Eisenbahn und Straßenbau. Hierfür sollte die ganze türkische Nation zusammenarbeiten, deren Klassen aufeinander angewiesen waren. In einem Wirtschaftspakt schlossen sich die getrennt tagenden Vertreter von Händlern, Bauern, Handwerkern und Arbeitern zusammen.

Eine neugewählte Nationalversammlung wählte Gazi Mustafa Kemal Pascha am 11. August 1923 zum Präsidenten. Bereits zwei Tage zuvor legte der neue starke Mann sich mit der Revolutionären Volkspartei eine starke Massenbewegung zu. Die von der RVP dominierte Nationalversammlung erklärte am 13. Oktober Ankara im Herzen Anatoliens zur neuen Hauptstadt. Man brach symbolisch mit der osmanischen Vergangenheit und wandte sich der türkischen Gegenwart zu. Der neue Staat beruhte nicht auf einer Dynastie, dem Imperium oder dem islamischen Glauben, sondern auf der türkischen Nation.

Als neues Problem stand nun die Position des Kalifats im Raum, da viele Türken und Muslime in aller Welt den Kalifen als konstitutionellen Monarchen und Verteidiger des Islam betrachteten. Mustafa Kemal trieb die Entmachtung der alten Eliten dennoch weiter voran. Ende Oktober erklärte die Nationalversammlung die Türkei demonstrativ zur Republik. Zum ersten Staatspräsidenten wurde Mustafa Kemal gewählt, der seinen Kampfgefährten Ismet Pascha zum Ministerpräsidenten ernannte. In allen Landesteilen wurde der Beschluß mit 101 Salutschüssen angekündigt. Die Kritiker wandten ein, eine befürchtete Beseitigung des Kalifates werde die Türkei ihrer Vorrangstellung in der islamischen Welt berauben. Trotz deutlicher Warnungen durch den Staatspräsidenten scharten sich Klerikale und Konservative um den Kalifen, das Bindeglied zur osmanischen Vergangenheit und zur islamischen Welt.

Nach Rücksprache mit den Militärs schlug Mustafa Kemal lös. Am 3. März 1924 beschloß die Nationalversammlung auf Betreiben der RVP die Abschaffung des Kalifats und die Verbannung des Hauses Osman. Der letzte Kalif wurde sang- und klanglos mit dem Orientexpress über die Grenze abgeschoben. Es handelte sich um den ersten Schlag gegen die Kräfte der islamischen Orthodoxie, für die Allah die einzige Quelle von Recht und Ordnung war. Das gleiche göttliche Gesetz bestimmte Zivil-, Straf- und Verfassungsrecht ebenso wie die religiösen Dogmen. Die nunmehr offen antiklerikal orientierte Staatsführung legte mit einer entschlossenen Trennung von Religion und Staat nach. Alle klerikalen Ämter auf Regierungs- und Verwaltungsebene wurden abgeschafft, die islamischen Gerichtshöfe verboten und die islamischen Schulen geschlossen. Die neue Verfassung vom 20. April 1924 bestätigte die gesetzgeberische Autorität der Nationalversammlung und überantwortete die Rechtsprechung unabhängigen Gerichten, die im Namen der Nation urteilen sollten. Eine stark zentralistische Verwaltungseinteilung band Provinzen, Distrikte usw. fest an die Weisungen des Innenministeriums in Ankara.

Seit Ende 1924 regte sich Widerstand gegen die von vielen als autokratisch empfundene Herrschaft des Präsidenten. Der liberale Flügel der RVP machte als Fortschrittliche Republikanische Partei mobil, und im Februar 1925 brach ein gefährlicher Kurdenaufstand los. Anführer dieser erzreaktionären Revolte war Seyh Said, Führer des Derwischordens der Naksbendi. In dieser Situation war eine starke Hand vonnöten, und am 4. März 1925 verlieh das Gesetz zur Aufrechterhaltung der Ordnung der Regierung diktatorische Vollmachten auf zwei Jahre. Die Pressezensur wurde eingeführt, sogenannte Unabhängigkeitstribunale urteilten als Sondergerichte politische Gegner ab. Kommunisten und Fortschrittliche mußten sich Parteiverboten fügen. Mit gnadenloser Härte schlug die Armee den Kurdenaufstand nieder, Seyh Said und 46 weitere Rädelsführer wurden am 30. Juni 1925 in Diyarbakir hingerichtet. Der Gebrauch der kurdischen Sprache war fortan verboten, die indo-arischen Kurden galten fortan als verwilderte Bergtürken, die ihre Muttersprache verlernt hatten. Unter Ausnutzung der seit 1923 laufenden Verteilung staatlichen Landes an Neusiedler und Landlose wurde das Land der aufsässigen Stämme aufgeteilt. Diese Methode wandte man auch im Westen an und bediente sich aus dem Besitz der deportierten Griechen. Wichtig für die Sympathie der ländlichen Unterschicht für die RVP-Regierung war die Abschaffung des Zehnten als landwirtschaftlicher Direktsteuer.

Die Regierung zerschlug nun die reaktionären Derwischorden: Schließung der Einrichtungen, Beschlagnahme des Vermögens, Verbot aller Orden einschließlich ihrer Gebräuche und Trachten. Mustafa Kemal leitete nun die gewaltsame Transformation der Türken von der islamischen in die europäische Welt ein. Ein wichtiges Symbol für die islamische Verbundenheit war der Fez als Kopfbedeckung. Am 2. September 1925 untersagte eine Reihe von Dekreten das Tragen religiöser Kleidungsstücke durch Personen, die keine staatlich anerkannten religiösen Ämter bekleideten. Alle Staatsbediensteten wurden verpflichtet, westliche Kleidung zu tragen. Schlußendlich erklärte die Regierung am 23. November das Tragen des Fez zur kriminellen Tat. An die Verschleierung der Frau wagte selbst der Präsident nur verbal zu rühren. Am Jahresende führte die Türkei den gregorianischen Kalender und die westliche Zeitrechnung ein.

Als Todesstoß für die islamische Orthodoxie fungierte die Annahme des auf türkische Verhältnisse umgearbeiteten schweizerischen Zivilrechtes durch die Nationalversammlung am 17. Februar 1926. Polygamie und Verstoßung von Ehefrauen wurden verboten und wichen Zivilehe, Ehescheidung und formaler Gleichberechtigung von Mann und Frau. Muslimische Frauen erhielten zum Entsetzen der übrigen islamischen Welt das Recht, nichtmuslimische Männer zu heiraten. Die Ausnutzung der Religion zu politischen Zwecken galt fortan als Straftat. Es folgten Gesetzbücher für Handel, Seerecht, Strafrecht, Schuldenrecht, eine Zivil- und eine Strafprozeßordnung. Der islamische Einfluß auf das gesellschaftliche Leben konnte jedoch nur in den großen Städten und in den infrastrukturell erschlossenen Gebieten gebrochen werden, im Hinterland ist der Transformationsprozeß bis auf den heutigen Tag nicht abgeschlossen. Mustafa Kemal erklärte das islamische Recht als hauptverantwortlich für den wissenschaftlich-technischen Stillstand in der islamischen Welt.

Nachdem im Juni 1926 eine Mordverschwörung gegen den Präsidenten scheiterte, überrollte eine Terrorwelle das Land. Die Sondergerichte dezimierten die konservative und liberale Opposition durch Hinrichtungen, und bei den Wahlen zur 3. Nationalversammlung im August 1927 war die RVP als einzige Partei zugelassen. Auch 1928 trieb Ankara die Entislamisierung weiter voran. Die Nationalversammlung strich den Islam als Staatsreligion aus der Verfassung und übernahm das international übliche dezimale Zahlensystem. Am 3. November 1928 adaptierte die Türkei die durch Expertenkommissionen türkischen Erfordernissen angepaßte lateinische Schrift. Das lateinische Alphabet war in der Tat zur türkischen Sprache kompatibler als die bislang verwendeten arabischen Schriftzeichen. Zum Jahreswechsel wurde der öffentliche Gebrauch der arabischen Schrift verboten, alle Staatsbediensteten mußten bei Entlassungsandrohung das neue Alphabet erlernen. Unter persönlicher Leitung Mustafa Kemals trieb die neue Massenorganisation "Schule der Nation" die Alphabetisierung der Bevölkerung voran. Jeder türkische Staatsbürger war Zwangsmitglied und mußte Lesen und Schreiben erlernen.

5. Wirtschaftlicher Aufbau

Nachdem die Macht des Islam gebrochen und die kulturelle Transformation eingeleitet war, sollte der wirtschaftliche Aufbau der Türkei in Angriff genommen werden. Im Juni 1929 verabschiedete die Nationalversammlung ein Schutzzollpaket, um den Aufbau einheimischer Industrien einzuleiten. In dieser Lage brach im Oktober die Weltwirtschaftskrise los. Die Türkei war zwar kaum in den Weltmarkt integriert, wurde jedoch vom Verfall der Agrarpreise schwer getroffen. Infolge der reichlichen Agrarproduktion blieb der türkischen Bevölkerung Hunger erspart, aber das Land hing von mit dem Export von Rohmaterialen finanzierten Industrieimporten ab. Im Dezember 1929 ergriff Ankara erste Gegenmaßnahmen. Devisengschäfte und Auslandseinkäufe wurden beschränkt, der gesamte Außenhandel unter Regierungskontrolle gestellt. Durch Abwertung des türkischen Pfundes verschob man die Handelsbilanz zu Gunsten der Türkei.

Der Regierung war klar, daß so keine wirtschaftliche Entwicklung vorangetrieben werden konnte. Die Krise bewirkt die Einsicht, daß Imperialismus und Kapitalismus, verbunden mit dem Westen, das Übel der gesmten Welt waren. Als Alternative bot sich die von der Krise wenig berührte Sowjetunion mit ihrer staatssozialistischen Planwirtschaft an. Nachdem noch im November ein Handelsabkommen angekündigt wurde, nahm am 11. Dezember eine staatliche Gesellschaft für den Handel mit der Sowjetunion die Arbeit auf. Nur wenige Tage später erneuerten Ankara und Moskau per Protokoll ihren Freundschaftsvertrag und leiteten intensive diplomatische Kontakte bis hin zu regelmäßigen Außenministerkonferenzen ein. Neben die sowjetischen Wirtschaftskontakte trat ein Handelsvertrag mit dem Deutschen Reich, das 1930 mit 15 % an den türkischen Importen beteiligt war.

Da dem Präsidenten fiskalische und ökonomische Mißwirtschaft von Regierung und Verwaltung sowie der Mangel an freier Kritik in der von der RVP kontrollierten Nationalversammlung ein Dorn im Auge waren, genehmigte er am 12. August 1930 die Begründung der Freien Republikanischen Partei als Oppositionspartei. Die FRP trat für erweiterte persönliche Freiheiten, Steuersenkungen und Verwaltungsreformen ein. Das Ergebnis des wohlgemeinten Planes einer "loyalen Opposition" waren schwere Unruhen, denen sich ein neuer Kurdenaufstand hinzugesellte. Während der Kurdenaufstand mit persischer Hilfe erstickt wurde, löste sich die FRP im November nach Wahlmanipulationen durch die Regierung selbst auf. Das Innenministerium nutzte die Gelegenheit und verbot die gleichfalls zugelassene Volksrepublikanische Partei sowie die Arbeiter- und Bauernpartei. Im Rahmen des restriktiven innenpolitischen Kurses wurde übrigens im Februar 1931 auch der Film "Im Westen nichts Neues" auf persönliche Initiative des Dardanellen-Verteidigers Mustafa Kemal verboten.

Am 20. April 1931 verkündete der Staats- und Parteichef die sechs fundamentalen und unabänderlichen Prinzipien der RVP: " Die RVP ist republikanisch, nationalistisch, populistisch, etatistisch, säkularistisch und revolutionär." Private Arbeit und Initiative wurden grundsätzlich anerkannt, aber neuer Hauptgrundsatz war der Etatismus. Der Staat sollte sich aktiv in Angelegenheiten engagieren, welche die allgemeinen und vitalen Interessen der türkischen Gesamtnation berührten. Vor allem im wirtschaftlichen Bereich hatte die Regierung Land und Nation so schnell wie möglich zu Wohlstand zu führen. Die RVP erteilte kollektivierter Landwirtschaft, Staatsmonopolen oder Verdrängung des Privatunternehmertums jedoch eine klare Absage.

Nicht zuletzt mit Finanz- und Expertenhilfe der Sowjetunion konnte am 9. Januar 1934 der 1. Fünfjahresplan der Türkei anlaufen. Der FJP sah die gleichzeitige Entwicklung von Konsumgüterindustrien (Textilien, Glas, Papier, Keramik) und Grundstoffindustrien (Eisen, Stahl und Petrochemie) vor. Als wichtigste Projekte sind das mit sowjetischer Hilfe errichtete Textilkombinat von Kayseri und das gemeinsam mit britischen Investoren erbaute Stahlwerk von Karabük zu nennen. Hinzu kamen weitere Textilfabriken in Eregli, Nazilli, Malatya und Bursa, Papier- und Zelluloseproduktion in Izmir, Kunstseideerzeugung in Gemlik, Glaswerke in Pasabahce, Porzellenfabrikation in Kütahya und ein Zementwerk in Sivas. An schwerindustriellen Projekten sind neben Kayseri die Anthrazitwerke von Zonguldak zu nennen. Der Plan krankte an erheblichen Planungsmängeln, zahlreiche Betriebe produzierten ineffektiv minderwertige Ware zu überhöhten Preisen. Eine Förderung des Privatunternehmertums unterblieb vollkommen. Dennoch konnte die Türkei am Vorabend des Zweiten Weltkrieges auf beachtliche industrielle Wachstumsraten verweisen. Nur die Sowjetunion und Japan wiesen höhere Zuwachsraten auf.

6. Die letzten Jahre

Neben dem wirtschaftlichen Aufbau widmete der Staatschef sich auch weiterhin der Kulturpolitik. Im Juli 1932 entstand per Präsidialdekret die Türkische Linguistische Gesellschaft. Mit geradezu militärischer Präzision und Planung wurde die türkische Sprache von arabischen und persischen Lehnworten gereinigt. Innerhalb von nicht einmal 15 Jahren erfolgte eine vollständige Reformierung und Umstrukturierung des Türkischen - die Verfassung und die Reden des Präsidenten mußten übersetzt werden, da die Schüler der 40er Jahre sie bereits nicht mehr verstanden.

Im gleichen Jahr, 1932, legte ein Historikerkongreß eine türkische Rassentheorie vor: Der Präsident und die Geschichtsschreiber definierten die Türken als ein weißes Volk arischer Herkunft, das ursprünglich in Zentralasien beheimatet war, der Wiege menschlicher Zivilisation. Die Türken wanderten in mehreren Wellen nach Osten und Westen, türkische Herrenschichten begründeten die Hochkulturen in China, Indien und Nahost. Sumerer, Trojaner und vor allem die Hethiter wurden als Vorfahren des modernen Türkentums gesehen. Anatolien war demzufolge schon in der Antike türkisches Siedlungsland. Bei derartigen Theorien handelt es sich natürlich größtenteils um blühenden Unsinn, aber man braucht nur einen Blick auf die Rosenbergschen Rassentheorien zu werfen, um festzustellen, daß Hirngespinste dieses Kalibers kein auf die Türkei beschränktes Problem waren. Die türkische Rassenlehre sollte das Heimatgefühl, die Identifikation der Türken mit ihrer Heimat vergrößern und diente keinesfalls chauvinistischem Wahn oder darwinistischen Ausrottungsphantasien.

Am 28. Juni 1934 wurde die türkische Bevölkerung verpflichtet, zum Jahreswechsel einen Familiennamen anzunehmen. Alle nichtmilitärischen Ränge und Titel der osmanischen Zeit galten als abgeschafft. Die Nationalversammlung verlieh Gazi Mustafa Kemal Pascha den Familiennamen Atatürk, der Vater der Türken. Neben dem Ehrentitel Gazi strich der Präsident auch seinen arabischen Geburtsnamen Mustafa und nannte sich fortan Kemal Atatürk. Ministerpräsident Ismet Pascha nahm den Namen Ismet Inönü an, nach dem Ort seiner Siege über die Griechen. Ebenfalls 1934 führte die Türkei das Frauenwahlrecht ein, und bei den Wahlen von 1935 wurden 17 Frauen in die Nationalversammlung gewählt.

Das neue Arbeitsrecht vom Juli 1936 führte erstmals Mindeststandards hinsichtlich Arbeitsschutz, Entlohnung, Arbeitszeiten und Behandlung ein. Diese wurden von staatlichen Inspekteuren überwacht. Streitigkeiten kamen vor von der Regierung ernannte Vermittlungsausschüsse. Das Vereinigungsrecht vom Sommer 1938 untersagte die Bildung von Vereinigungen auf Klassenbasis, also von Gewerkschaften.

Mitte der 30er Jahre kam es auch zu einer gewissen Annäherung der Türkei an das Dritte Reich. Die RVP hatte bereits zwischen 1925 und 1927 Beziehungen zu völkischen und nationalsozialistischen Gruppen in Deutschland unterhalten. Im Jahr 1936 intensivierten sich die diplomatischen Kontakte und gegenseitigen Besuche sprunghaft. Ankara zeigte sich vor allem an einer Zusammenarbeit im Marinesektor interessiert, umgekehrt hungerte das aufrüstende Deutschland nach den bedeutenden türkischen Chrom- und Kupfervorkommen. Deutschland konnte bis zum Vorabend des Zweiten Weltkrieges seinen Anteil an den türkischen Importen auf 47 % steigern, was vor allem in Großbritannien für Unruhe sorgte. Den Zugang zu den türkischen Rohstoffen sicherte ein am 25. Juli 1938 abgeschlossenes Handelsabkommen.

Diese vorübergehenden Annäherungstendenzen an Deutschland waren jedoch nur bedingt im Sinne des Staatspräsidenten. Bereits Anfang 1938 stellte sich eine schwere Erkrankung Kemal Atatürks ein, dessen entbehrungsreicher und phasenweise recht exzessiver Lebenswandel nun seinen Tribut forderte. Am 5. September verfaßte der Staatspräsident sein Testament, nachdem er bereits 1937 sein auf 100 Millionen Reichsmark geschätztes Vermögen der türkischen Nation vermacht hatte. Die Rede zur Parlamentseröffnung am 1. November 1938 wurde bereits vertretend durch den Ministerpräsidenten Bayar gehalten. Kemal Atatürk, der Begründer der modernen Türkei, starb am 10. November 1938 im Alter von knapp 57 Jahren. "Das türkische Vaterland hat seinen großen Erbauer, die türkische Nation ihren mächtigen Führer und die Menschheit einen großen Sohn verloren."

Nach Rücksprache mit Celal Bayar und Generalstabschef Marschall Fevzi Cakmak vereidigte die Nationalversammlung am 11. November 1938 den langjährigen Weggefährten Ismet Inönü als neuen Staatspräsidenten. Atatürks Sarg wurde im Dolmabahce-Palast in Istanbul aufgebahrt. Drei Tage und drei Nächte lang strömten Hunderttausende an ihm vorbei, um dem toten Staatsgründer die letzte Ehre zu erweisen. Nachdem der Sarkophag zunächst eine vorläufige Ruhestätte im Völkerkundlichen Museum in Ankara fand, wurde er 1953 in das Mausoleum von Rasat Tepe überführt.

 

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