Zeitgeschichte
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Gabriele d´Annunzio - Philosophie und Politik
Verfasser: Richard Schapke, im November 2003 (überarbeitete Fassung)
"Er eroberte Fiume, die Duse und das Besitztum am Gardasee, nicht einen Filmkredit. Er war ein Scharlatan, aber dieser Scharlatan schrieb Hirtengedichte, die kaum untergehen werden...Auch seine Provokationen könnte man, mit Opusnummern versehen, herausgeben. Seine Eitelkeit ist der Selbstgefälligkeit Hollywoods turmhoch überlegen, so ist es sein Geschmack, wenn er auch etwas zu disparat ist, und sein ganzer Lebensstil, der immerhin nicht nur der Arbeit, sondern auch der Ausschweifung etwas Produktives verleiht." --- Bertold Brecht
„Lieber im
Freien verrecken,
als sich im Winkel verstecken
lauernd u. lugend!
Immer zum Licht, wer auch Hohn lacht,
besser, als eigne Ohnmacht
stempeln zur Tugend!
Ist nicht geheuer die Tugend
das lass ich gelten.
Wer will die Flammen verdammen?
fiebernden Flammen entstammen
Werke und Welten.“
Rainer Maria Rilke
Vorbemerkung: Gegenstand dieses Aufsatzes sind die Philosophie und das politische Wirken des italienischen Universalgenies Gabriele d´Annunzio. Die Romane des Dichters und Schriftstellers wurden demnach hinsichtlich ihres philosophischen Gehaltes untersucht. Seine zahllosen Affären und Skandale können daher bestenfalls am Rande behandelt werden. Zitate entstammen, sofern nicht anders gekennzeichnet, d´Annunzios Schriften.
Einleitung
Gabriele d´Annunzio - Dichter, Soldat, Flieger, Demagoge, Erotomane, Philosoph der Selbstüberwindung und Propagandist des Übermenschen - Verkörperung einer zweifelnden Generation. Die herausragende Persönlichkeit Italiens vor und nach dem 1. Weltkrieg besaß als einziger italienischer Dichter dieser Zeit internationalen Ruf. Er beeinflusste eine ganze Epoche italienischer Literaturgeschichte und war eines der auffälligsten Phänomene der europäischen Jahrhundertwende. Mit seiner Herrschaft in Fiume entwickelte er die äußeren Formen und die Rituale des Faschismus. Heutzutage ist d´Annunzio in Deutschland fast ein Vergessener, einmal abgesehen von seinem Roman "Feuer". Das italienische Genie der Selbstinszenierung erweckte dennoch die Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit vor dem Weltkrieg, faszinierte Hugo von Hofmannsthal, Robert Musil und Bertold Brecht. Die problematische Überfülle des gigantischen Lebenswerkes zeigt sich auch darin, dass es bis auf den heutigen Tag keine einzige Biographie gibt, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Anlässlich seines 100. Geburtstages erweckte d´Annunzio 1963 das Interesse der italienischen Literaturwissenschaften, der 50. Todestag 1988 löste eine regelrechte Veröffentlichungswelle aus. Sein Domizil Il Vittoriale am Gardasee, im Herzen der Republik von Saló, ist heute ein regelrechter Wallfahrtsort und zieht Tausende an.
Italiens neue Hoffnung
Gabriele d´Annunzio wurde am 12. März 1863 in der kleinen Abruzzenstadt Pescara geboren, und zwar als Sohn von Francesco Paolo Rapagnetta - d´Annunzio und Luisa de Benedicti. Er war der erste Sohn nach zwei Töchtern, die besondere Aufmerksamkeit der Eltern gebührte daher ihm. D´Annunzio wuchs von einer weiblichen Verwandtschaft umgeben auf, heraus fiel der Vater als geradezu tyrannische Persönlichkeit. Der Name des Jungen sollte einstmals Programm werden: Gabriele, der biblische Erzengel, verkündet die Botschaft. Francesco Paolo Rapagnetta war bürgerlicher Herkunft, wurde adoptiert, stieg so sozial auf und konnte eine aus der Familie der Landaristokratie stammende Frau heiraten.
Durch die Verwandtschaft mütterlicherseits lernte Gabriele ein kultivierteres Milieu kennen. Pescara ist durch den Gran Sasso vom Inland getrennt, die Region ist mehr mit Venedig und dem Adriaraum verbunden. Das Abruzzenland ist eine von altertümlichen Riten, Brauchtum und Aberglauben geprägte Region - hier ist der Mythos lebendig. Auch Gabriele fühlte sich früh zur Seefahrertradition seiner Heimat hingezogen. Er wuchs im Einklang mit der Natur auf, was sich mit Entrückung, Sinnes- und Farbenfreude durch sein gesamtes Leben ziehen wird. Schon die Kindheit ist von Symbolen erfüllt, wir nennen hier nur die Schnittwunde am Finger als die "Schwiele des Schriftstellers" und das immer wiederkehrende Bild der mit Leichtigkeit fliegenden Schwalben, die den sie bewundernden Menschen doch am Boden zurücklassen. "Alles spricht zu mir, alles ist Zeichen, für mich, der es lesen kann." Der Junge war zart und sensibel, aber auch zäh und willensstark, geprägt vom stillen Leiden der Mutter und von der Machterscheinung des Vaters. Er zog den fanatischen Vaterstolz auf sich und war bestrebt, diesem auch zu entsprechen. Der Vater unterstützte die musischen Neigungen des Sohnes und brachte ihm den italienischen Nationalhelden Garibaldi sowie Napoleon Bonaparte als lateinische Genies nahe.
Nach einer ersten Schulausbildung durch häuslichen Privatunterricht wurde Gabriele d´Annunzio 1874 dem Elternhaus entrissen und in das Elite-Internat Cicognini im toskanischen Prato aufgenommen. Die Ausbildung war antiklerikal und positivistisch ausgerichtet und hatte eine weit zurückreichende Tradition. Der Internatszögling flüchtete aus dem Trennungsschmerz in das Bewusstsein, eine besondere Aufgabe zu haben. Er integrierte sich nicht, sondern isolierte sich durch seine schon früh zutage tretende außergewöhnliche Gesamterscheinung - Hang zur Extravaganz, Eigenwilligkeit und Ausbruchsversuche aus dem als Gefängnis empfundenen Internat sind hier zu erwähnen. Als ehrgeiziger und hochbegabter Schüler legte er binnen kurzem den bäuerlichen Abruzzendialekt zugunsten des Toskana-Italienischen, des Dialektes von Dante, ab.
1877 entflammte der knapp 14-Jährige in Begeisterung für die antiken römischen Dichter. Bereits jetzt trug er Redewendungen, Ausdrücke aller Art und Gedankenfragmente in Heften zusammen. Er lernte mit 16 Jahren Englisch, las Shakespeare und Baudelaire und schrieb seine ersten Gedichte. Der prägende Einfluss war zunächst der Dichter Giosué Carducci, welcher eine neue Poesie für Italien forderte. Hierbei sollte in gegen den althergebrachten Romantizismus gerichteter Weise an die lateinisch-italienische Tradition angeknüpft werden. Carducci sah sich auch als Erzieher der italienischen Jugend, eine später für d´Annunzio bedeutsame Ansicht. "Auch ich spüre in meinem Geist jenen Funken des kämpferischen Genies, der mich in allen Adern schaudern lässt und mir eine quälende Sehnsucht nach Ruhm und Kampf einflößt." Ein Jahr später hieß es schon: "Ich bin sechzehn Jahre alt, und schon spüre ich in der Seele und im Geist das erste Feuer jener Jugend erglühen, die naht: in meinem Herzen ist tief eingeprägt ein maßloser Wunsch nach Wissen und Ruhm, welcher oft über mich mit einer düsteren und quälenden Melancholie herfällt und mich zum Weinen zwingt: ich dulde kein Joch."
Im Jahre 1879 erschien mit Unterstützung des Vaters der erste Gedichtband „Primo Vere“. Die Kritik sah den lange erwarteten neuen Dichter Italiens heranwachsen. Gabriele d´Annunzio wurde als Beispiel für die junge literarische Generation gefeiert. Die Internatsleitung war allerdings alles andere als begeistert von den Gedichten, was dem Junglyriker beinahe den Hinauswurf eingebracht hätte. Den Verkauf der zweiten Auflage beförderte der Verfasser durch die fingierte Nachricht von seinem Tod bei einem Reitunfall - Öffentlichkeitswirksamkeit war ihm geradezu in die Wiege gelegt. Bereits jetzt vertrat d´Annunzio seine eigenen ökonomischen Interessen sehr entschlossen, was ihm alle zwei Monate eine Zahlung seines Verlegers einbrachte. 1881 beendete er das Internat erfolgreich und kehrte nach Pescara zurück, wo er trotz seines um 15 Jahre jüngeren Alters in den Freundeskreis des Malers Francesco Paolo Michetti aufrückte, damals der berühmteste Maler des Realismus in Italien. Kurz darauf immatrikulierte d´Annunzio sich für Literatur und Philosophie an der Universität Rom.
Rom war gerade einmal seit 10 Jahren italienische Hauptstadt - eine rasch wachsende und unruhige Metropole, die sich bemühte, die kulturell führende Rolle zu übernehmen. Die Stadt war Symbol der einstigen imperialen Größe und suchte in dieser die neue italienische Nationalidee zu finden. Das provinzielle Italien sollte durch Prestige und Ruhm des klassisch-lateinischen Rom erneuert werden. D´Annunzio nahm eine Wohnung in der Stadtmitte und zog den Aufenthalt in Zeitungsredaktionen dem Studium vor. Er erschien den beeindruckten Journalisten wie die Inkarnation des romantischen Dichterideals.
Mit der Veröffentlichung des zweiten Gedichtbandes Canto Novo (1882) führte Gabriele d´Annunzio die englische Romantik als völlig neuen Stil in Italien ein und emanzipierte sich damit von Carducci. "Ich habe die Kraft besessen zu rebellieren. Dank eines langsamen und mühsamen Prozesses von selections bin ich jetzt freier, ich, ganz ich. Ich muss nur noch die letzten Fesseln lösen und mich dann ins Wasser werfen." Weitere Gedichtbände sollten folgen.
1883 fand der Dichter Anschluss an die Gruppe "In Arte Libertas". Diese verband die römische Tradition mit einem gegen die bürgerliche Gesellschaftsordnung gerichteten revolutionären Nationalismus und einem aristokratischen Gesellschaftsideal. Man propagierte einen radikalen Ästhetizismus als Gegengewicht gegen Geldgier, Materialismus und mangelndes Kunstverständnis der Bourgeoisie. Die elitäre Kunstauffassung verzichtete auf das Verständnis der Masse und verwarf zugleich eine rein akademisch verstandene Kunstvorstellung. Motor der Gruppe war der Verleger Angelo Sommaruga, der ihr seine Zeitungen öffnete. Sommaruga scheute auch den Skandal nicht -d´Annunzio war hier genau richtig aufgehoben. Nach dem Vitalismus der Anfangszeit wandte er sich nunmehr der Dekadenz und einer geradezu wahnhaften Sinnlichkeit zu und eroberte als Skandalautor und Salonlöwe Rom buchstäblich im Sturm. Aufsehen erregte vor allem seine Heirat am 28. Juni 1883 mit Maria Hardouin di Gallese, einer Angehörigen des römischen Hochadels - die Braut war schwanger. Die Ehe stand unter keinem guten Stern, da d´Annunzio sich in zahllosen Affären erging und einem verschwenderischen Lebensstil huldigte.
Im Nov 1884 fand Gabriele d´Annunzio eine Anstellung als Redakteur der bisher zweitklassigen Tageszeitung "La Tribuna“ und löste damit seine Geldsorgen. Er blieb bis 1888 fester Mitarbeiter und fungierte unter wechselnden Pseudonymen als Kolumnist über Alltagsthemen oder als Kunstkritiker. Als Journalist kümmerte er sich auch um Kunst und Literatur aus Großbritannien und Frankreich. Hierbei zeigte d´Annunzio einen untrüglichen Instinkt für den "letzten Schrei". Er nahm kulturelle Identifikationsbilder vorweg und war zugleich der Vorbereiter modischer Trends für die junge italienische Nation. Mit der Arbeit für „La Tribuna“ erfolgte zudem der Einstieg in die italienische Flotten- und Großmachtpropaganda. In seinen Artikeln beschwor er die jahrhundertealte nautische Tradition der italienischen Seestädte; der Traum vom Mittelmeer als mare nostro hatte auch den jungen Dichter erfasst.
Philosoph der Selbstüberwindung
Da die journalistische Arbeit ihn nicht mehr erfüllte, kehrte Gabriele d´Annunzio der „Tribuna“ im August 1888 den Rücken und zog sich ins Atelier Michettis nach Francavilla zurück, um seinen ersten Roman „Lust“ zu schreiben. Das Buch wurde in 6 Monaten disziplinierter Arbeit unter gezielter Selbstmanipulation vollendet und machte seinen Verfasser über die Grenzen Italiens hinaus bekannt.
Die Hauptperson Graf Andrea Sperelli trug zweifelsohne autobiographische Züge, d´Annunzio wird immer wieder seine eigene Person in Szene setzen. Ein hemmungsloser Kult es Ich, verbunden mit einem Kult ausschweifender bis todestrunkener Schönheit, wurde betrieben. „Lust“ ist aber auch der Roman eines menschlichen Scheiterns. Im Gegensatz zum fin de siécle ist Sperelli kein lethargisch dahinvegetierender décadent in irgendeiner sozialen Nische, sondern tritt als geradezu "voluntaristisch exaltierter" Ästhet inmitten aufgeladener Lebensräume auf. "In der grauen Sintflut der heutigen Demokratie, in der leider so viel Schönes und Edles untergeht, verschwindet allmählich auch jene so besondere Klasse des alten italienischen Adels, in der sich von Generation zu Generation eine gewisse Familientradition von hochstehender Kultur, Eleganz und Kunstsinn lebendig erhalten hat." Sperelli war der letzte Spross einer intellektuellen Rasse, ganz von Kunst durchdrungen. Kunst ist dieser Gruppe noch nicht zum bloßen Dekor verkommen, und auch die eigene Person wird zum Kunstwerk stilisiert. "Man muss sein eigenes Leben schaffen, wie man ein Kunstwerk schafft. Das Leben eines denkenden Menschen muss sein eigenes Werk sein. Darin zeigt sich die wahre Überlegenheit...Man muss sich um jeden Preis die innere Freiheit bewahren - selbst noch in der Berauschtheit...Bedauern ist der nichtige Zeitvertreib eines unbeschäftigten Geistes. Man soll nie bedauern und den Geist immer mit neuen Empfindungen und neuen Vorstellungen beschäftigen. (…) Intellektuelle Menschen, die zum Kult der Schönheit erzogen worden sind, bewahren immer, selbst in der schlimmsten Verderbtheit, eine Art Ordnung. Der Begriff der Schönheit ist sozusagen die Achse ihrer Seele, um die sich alle ihre Leidenschaften drehen."
Bereits hier taucht das Motiv der Selbstüberwindung, der läuternden Katharsis, auf. Bei einem Duell schwer verwundet, erlebt Sperelli eine kurzfristige Läuterung vom unsteten Lebemann zum Künstler: "Die Zeit der Genesung ist Reinigung und Wiedergeburt. Nie ist das Gefühl zu leben süßer als nach den Leiden einer Krankheit, und nie ist die menschliche Seele offener für Güte und Glauben als nach einem Blick in die Abgründe des Todes. Während der Genesung versteht der Mensch, dass seine Gedanken und Wünsche, sein Wille und sein Bewusstsein vom Leben nicht das Leben selbst sind. Etwas in ihm ist wachsamer als der Gedanke, beharrlicher als der Wunsch, stärker als der Wille, tiefer als das Bewusstsein, und das ist die Wesenheit, die Natur seines Seins. Er versteht, dass sein wirkliches Leben gleichsam ungelebt ist: die Gesamtheit unwillkürlicher, spontaner, unbewusster, instinktiver Empfindungen, das harmonische und geheimnisvolle Wirken der animalischen Lebenskraft, der unmerkliche Ablauf aller Metamorphosen und Erneuerungen."
Auf die künstlerische Schaffensphase folgt wieder der Rückfall in das unstete Leben, aber damit einhergehend auch der innere Zwiespalt: "Aber nie war er innerlich unruhiger, unsicherer, verwirrter gewesen, nie hatte er eine störendere Unzufriedenheit, ein lästigeres Unbehagen empfunden, nie hatte er gegen sich selbst grausamere Ausbrüche von Zorn und Abscheu erlebt. Manchmal, wenn er müde und einsam war, fühlte er plötzlich tief in seiner Seele Ekel aufsteigen, und er hatte nicht die Kraft, ihn zu vertreiben, sondern ließ alles mit einer stumpfen Ergebenheit geschehen wie ein Kranker, der jede Hoffnung auf Heilung aufgegeben hat und sich damit abfindet, mit seiner Krankheit zu leben, seine Leiden zu ertragen und sich ganz in sein tödliches Unglück zu versenken. Es schien ihm, der alte Aussatz befalle von neuem seine Seele, das Herz leere sich von neuem und könne sich nie mehr füllen, wie ein durchlöcherter Schlauch. Dieses Gefühl der Leere und die Gewissheit eines endgültigen Verlustes brachten ihn zuweilen in verzweifelten Zorn oder lösten eine abgrundtiefe Verachtung seiner selbst, seines Willens, seiner letzten Hoffnungen und Träume aus. Er stand an einem gefährlichen Scheideweg: Das Leben holte ihn unerbittlich ein, die Liebe zum Leben ließ sich nicht ersticken. Er stand auf der Trennlinie zwischen Rettung und Niedergang, am kritischen Punkt, an dem große Herzen ihre ganze Kraft beweisen und kleine ihre ganze Feigheit. Er ließ sich besiegen, er brachte nicht den Mut auf, sich durch einen Willensakt zu retten. Obwohl er litt, fürchtete er sich davor, mannhafter zu leiden. Obwohl der Ekel ihn quälte, fürchtete er sich vor dem Verzicht auf das, wovor ihn ekelte. Obwohl er instinktiv ganz klar wusste, dass er sich mitleidlos von allem lösen musste, was ihn am meisten anzuziehen schien, hatte er Angst, all das aufzugeben. Er ließ sich niederwerfen, er verzichtete ganz und für immer auf seinen Willen, auf seine Energie, auf seine innere Würde, er opferte für immer, was ihm an Glauben und Idealen geblieben war, stürzte sich ins Leben wie in ein großes Abenteuer...Warum war alles so schnell verflogen und verschwunden? Warum hatte er die Flamme in seinem Herzen nicht zu nähren vermocht? (…) Alles in ihm wandelte und formte sich ständig neu; er hatte nicht die geringste moralische Stärke. Sein Moralgefühl war voller Widersprüche; Ganzheit, Einfachheit und Unmittelbarkeit waren ihm fremd; die Stimme der Pflicht drang nicht mehr durch in diesen inneren Aufruhr. Die Stimme des Willens wurde von der Stimme der Instinkte übertönt, das Gewissen verfinsterte sich immer wieder wie ein Gestirn ohne eigenes Licht. So war es immer gewesen, so würde es immer sein. Warum also gegen sich kämpfen? Cui bono? Aber gerade dieser Kampf beherrschte sein Leben, gerade diese Ruhelosigkeit prägte wesentlich seine Existenz, gerade diese Qual war ein Fluch, dem er sich nie mehr würde entziehen können. Jeder Versuch der Selbstanalyse endete in noch tieferer Unsicherheit, in noch größerer Ratlosigkeit. Und weil er überhaupt nicht zur Synthese fähig war, wurde seine Analyse zu einem grausamen und selbstzerstörerischen Spiel. Nach einer Stunde des Nachdenkens über sich selbst war er verwirrt, zerstört, verzweifelt, verloren.“
Im Mittelpunkt des Romans steht aber ebenso die Stadt Rom mit ihren barocken Bauten. Der beschriebene Einrichtungsstil sollte bis beinahe 1910 den Geschmack der italienischen Oberklasse bestimmen. Durch Betonung von Vitalität und Kraft entfernte d´Annunzio sich von der Endzeitstimmung des fin de siécle. Im Gegensatz zwischen Kunst und Leben wandte der Verfasser sich dem Leben zu, das er durch seine eigenen Kunstschöpfungen gestalten wollte. Parallel erschien der Gedichtband "L´Isotteo - La Chimera", in welchem d´Annunzio sein Vertrauen in die Kraft des Wortes darlegt. Das Wort enthält die gesamte Realität, und nur durch das Wort existiert die Welt. Die menschliche Realität geht in der die Natur vereinnahmenden Kunst auf.
Am 1. November 1889 rückte Italiens literarische Hoffnung schweren Herzens zum Militär ein und meldete sich mit 26 Jahren als Freiwilliger zum 14. Kavallerieregiment in Alessandria. Er litt unter den Entbehrungen und der militärischen Disziplin, konnte jedoch bald Vergünstigungen herausschlagen. Als Erbstück des Militärdienstes sollte ihn fortan die Malaria durch den Rest seines Lebens begleiten. Nach der Entlassung verließ er seine Frau und zog mit seiner Geliebten Barbara Leoni zusammen. Der verschwenderische Lebenswandel, schriftstellerische Misserfolge und der finanzielle Kollaps der eigenen Familie ruinierten ihn, und er musste sich 1892 erneut zu Michetti absetzen. Der gesamte Haushalt wurde zwangsversteigert.
Wie „Lust“,
so entstand auch der Einflüsse Tolstojs verratende zweite Roman „Der
Unschuldige“ (1892) in Francavilla. Thema ist die persönliche
Krise des vielbegabten Ästheten Tulliu Hermil, der sich für einen
auserwählten Geist hält, faktisch jedoch nichts anderes als ein
verantwortungsloser und charakterlich niedriger Wüstling ist. D´Annunzio
beschreibt hier mit Akribie sein eigenes Innenleben. Das Leben erscheint
wie "eine ferne, verworrene, unbestimmt ungeheuerliche Vision".
Der Ausweg ist die Neugeburt aus dem Leiden, die Selbstüberwindung
zur Lösung der Krise. "Von Tag zu Tag sah ich der Zukunft
vertrauensvoller entgegen. Meine Erinnerung war wie ausgelöscht. Meine
allzu müde Seele verlernte zu leiden. In gewissen Stunden völliger
Erschöpfung löste sich alles in mir auf, dehnte sich, zerschmolz,
versank in den Urzustand und wurde unkenntlich. Nach dieser seltsamen, geistigen
Auflösung schien es mir dann, als beginne in mir ein neues Leben, als
ergriffe eine neue Kraft von mir Besitz...Jeder Vorgang in der Natur...beeinflusste
mein ganzes Wesen. Die großen Krankheiten der Seele, wie die des Körpers,
schaffen den Menschen neu; und die geistige Rekonvaleszenz ist nicht weniger
wohltuend und nicht weniger wunderbar als die physische."
"Wenn der Schmerz die Kräfte übersteigt, sucht der Mensch
unwillkürlich im Zweifel eine momentane Erleichterung des unerträglichen
Leidens; er denkt: vielleicht täusche ich mich, vielleicht ist mein
Unglück nicht so, wie es mir vorkommt, vielleicht ist dieser ganze
Schmerz unvernünftig. Und indem er so die Ruhepause verlängert,
gelingt es dem verwirrten Geiste, eine genauere Kenntnis der Wirklichkeit
zu erlangen."
"Und das Leben erschien mir in dieser Stunde wie eine ferne, verworrene,
unbestimmt ungeheuerliche Vision. Wahnwitz, Blödsinn, Armut, Blindheit,
alle Krankheiten, alle Widerwärtigkeiten; das fortwährende dunkle
Wirken unbekannter, atavistischer, tierischer Kräfte im Innersten unseres
Wesens; die höchsten, unsteten, flüchtigen Manifestationen des
Geistes, immer an die Funktion eines Organs gefesselt; die momentanen Veränderungen,
die durch eine unmerkliche Ursache, durch ein Nichts hervorgerufen werden;
der unfehlbare Anteil des Egoismus, selbst an den edelsten Handlungen; die
Nutzlosigkeit so vieler moralischer Kräfte, die auf ein ungewisses
Ziel gerichtet werden, die Flüchtigkeit der Neigungen, die man für
ewig hielt, die Gebrechlichkeit der Tugenden, die man für unerschütterlich
hielt, die Schwäche des redlichsten Willens, alle Schmach, alles Elend
erschien mir in dieser Stunde. Wie kann man leben?"
Das Buch eskaliert in einem vom Protagonisten begangenen Kindsmord am unehelichen Sohn seiner Frau und wurde nicht zuletzt wegen seines Skandalcharakters und der dargestellten Selbstzerfleischung des Verfassers zum bislang erfolgreichsten Werk. „Der Unschuldige“ begründete auch den literarischen Erfolg in Frankreich und ab 1896 in Deutschland. Hierzu der Autor: "Der Unschuldige ist aber wahrscheinlich noch nicht mein Meisterwerk. Und ich muss mein Meisterwerk schreiben, noch vor dreißig, wenn ich dann noch lebe. Wie sehr denke ich daran! Und wie bin ich verzweifelt gegenüber all diesen Widrigkeiten, die mir die Kräfte rauben und meinen Geist betrüben."
Zur gleichen Zeit wurde der Schriftsteller ein intellektueller Wortführer der antidemokratischen Rechten. Diese entstand als Reaktion auf die gescheiterte imperialistische Politik der Regierung in Ostafrika und das Erstarken der Arbeiterbewegung. Gabriele d´Annunzio konstatierte eine Krise der historischen Ideale und verurteilte den vorherrschenden Positivismus. Eine neue Wahrheit sollte kommen, ein neuer Glaube war vonnöten. Seine Werke boten ein elitäres Weltbild an und wiesen auf die aus römischen Traditionen herrührende Mission Italiens und Roms hin. Ein ethischer Schönheitskult wurde als lateinisches Kulturgut der Industrialisierung und dem Materialismus entgegengesetzt. Als Mitarbeiter der neapolitanischen Zeitung "Il Mattino" attackierte er die Demokratie als "einen Kampf eitler Egoismen". Der aristokratische Geburtsadel sollte durch einen neuen Adel des Geistes abgelöst werden, durch eine eine von sozialer Herkunft "unabhängige Kraft, die sich regiert, eine Freiheit, die sich behauptet (...). All das, was es bislang an Richtlinien und Kunstbewegungen gegeben hat, vermag nicht, den großen Zustrom neuer Ideen, Stimmungen und Gefühle zu erkennen, die auf der Schwelle der neuen Welt toben. Die Wissenschaft kann den leeren Himmel nicht wieder bevölkern, sie kann den Seelen keine Freude mehr geben...Wir wollen keine Wahrheit mehr. Gebt uns den Traum!"
Bei d´Annunzio machten sich Berührungspunkte mit Richard Wagner und Friedrich Nietzsche bemerkbar, wobei er tendenziell mehr und mehr auf Seiten des Nietzsche-Werkes stand. Er bewunderte dessen Kritik an der "evangelischen Doktrin des Mitleids". Nietzsche verkörperte die Lebenskraft, während Wagner zum Inbegriff des dekadenten Künstlers wurde. Die Funktion des Künstlers bestand darin, "den Geist der Zeit, in der er lebt, auszudrücken". Wagner war demzufolge die vollkommene Verkörperung der modernen dekadenten Zeit. D´Annunzio verwarf Wagners Leidenswilligkeit, achtete aber seine Fähigkeit, als Person und mit seiner Kunst zum mythischen Leitbild für das kulturelle und politische Verhalten einer Nation zu werden. Mit seiner Anlehnung an Wagner und Nietzsche unterschied der Dichter sich klar von Italiens professionellen Philosophen, die sich vor allem an Hegel, Marx und (später) an Spengler orientierten. Untrügliches Indiz für den neuen Einfluss waren die im Herbst 1892 im „Mattino“ veröffentlichten Essays „La bestia elettiva“ und „Il caso Wagner“. D´Annunzio konstatierte die physische und spirituelle Krisis Europas, deren äußerlicher Ausdruck der Siegeszug der Ideen von 1789 war. Der nietzscheanische Kult des Ichs stand gegen jegliche Doktrin, predigte die neue Aristokratie, die "Rasse der Edlen und Freien", die zum Kampf gegen die Moral des Bürgertums und der Massen berufen war - und zur Begründung eines neuen Zeitalters.
Propagandist des Übermenschen: Der Triumph des Todes
1894 erschien der dritte Roman "Der Triumph des Todes" unter dem Eindruck von Wagners "Tristan und Isolde", in unseren Augen das Schlüsselwerk d´Annunzios. Dem Roman vorangestellt war ein Motto aus Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“: „Wir bieten unser Ohr der Stimme des großherzigen Zarathustra dar, (…) und wir bereiten in der Kunst mit festem Glauben die Ankunft des Übermenschen, des superuomo, vor.“ Die Hauptperson Giorgio Aurispa sieht sich als besonderen Menschen, ist jedoch von Gleichgültigkeit befallen und fühlt sich "verurteilt, auf das Leben beständig zu warten". Auch hier begegnet wieder das Motiv des Selbstzweifels als Antrieb: "Es ist seltsam: nach dem niedrigsten Fall strebt die Seele immer nach etwas Hohem...Ich mache übermenschliche Anstrengungen, um die Feder zu halten. Ich habe keine Kraft, keinen Willen mehr. Meine Niedergeschlagenheit hat mich so weit verzagt gemacht, dass ich nichts weiter empfinde, als einen unerträglichen Ekel vor dem Leben. Und es ist so ein grauer, schwüler, bleierner Tag, ich möchte ihn fast tödlich nennen. Die Stunden schleichen mit unerbittlicher Langsamkeit dahin und mit jeder Minute wächst mein Elend und wird düsterer und trostloser. Es ist mir, als ruhte in meinem Innern irgendein stehendes giftiges Wasser. Ist das nun moralisches oder physisches Leiden? Ich weiß es nicht. Ich rühre mich nicht und bleibe abgestumpft unter einer Last, die mich erdrückt, ohne mich zu töten...Ich bin so traurig, dass ich das Bewusstsein verlieren möchte, auf lange Zeit, und beim Erwachen will ich mich an nichts mehr erinnern und möchte nicht mehr leben. Ich möchte wenigstens einen heftigen, physischen Schmerz empfinden, mich verwunden, mir eine tiefe Brandwunde zufügen, irgendetwas, das mir meine seelischen Schmerzen erleichtern würde. (…) Ich werde leiden, ohne dass mir ein Waffenstillstand vergönnt wird. (…) Was fehlt mir? Welchen Defekt hat mein moralischer Organismus? Welches ist die Ursache meiner Ohnmacht? Ich habe eine brennende Sehnsucht zu leben, alle meine Kräfte gleichmäßig zu entwickeln, mich als eine abgerundete und harmonische Persönlichkeit zu fühlen. Und statt dessen sterbe ich insgeheim jeden Tag ab; jeden Tag flieht mir das Leben aus zahllosen, unsichtbaren Ausgängen...Alle meine Kräfte dienen mir zu nichts anderem, als mit unendlicher Mühe einige Körnchen Staub zu schleppen, denen meine Einbildungskraft das Gewicht eines riesigen Steinblockes verleiht. Eine fortwährende Zerrissenheit beunruhigt alle meine Gedanken und legt sie brach. Was fehlt mir? Wer besitzt denn jenen Teil meines Seins, von dem ich kein Bewusstsein habe und der mir doch...notwendig ist, um weiter zu leben? Oder ist vielleicht dieser Teil meines Seins schon tot, und ich kann mich mit ihm nur wieder vereinigen, wenn ich sterbe? So ist es. Der Tod, in der Tat, lockt mich." Erneut bietet die Selbstüberwindung, die Umwertung aller Werte, den Ausweg aus dem Leiden - Ausbruch und Suche nach dem unbekannten Land und die vollständige Loslösung von allem Hergebrachten.
Dabei lehnt der Verfasser die Entwicklung der Durchschnittsexistenzen für sich ab: "Wieder fühlte er...sich von einer isolierenden Atmosphäre umweht, und verlor die klare Vorstellung von dem was vorgefallen war und was vorfallen sollte; und die wirklichen Ereignisse scheinen jede Bedeutung für ihn zu verlieren, keinen anderen Wert als einen zeitlichen zu haben, als ob er gewissermaßen ergeben und unvermeidlich über sie hinweg schreiten müsse, um zu der nahe bevorstehenden Befreiung zu gelangen, deren er in seinem Herzen schon sicher war." Die Erleuchtung kann nicht erzwungen werden, sondern man muss den „plötzlichen Funken, den unvermuteten Anprall erwarten“.
Der Rückgriff auf den noch immer weit verbreiteten katholischen Mysterienglauben ist keine Lösung. D´Annunzio schildert drastisch die Erlösungssehnsucht der an sich selbst und an der Welt leidenden Masse dar. Er registriert auch die geschäftsmäßige Teilnahmslosigkeit der Priester und die sinnlose Raserei der unästhetischen Menge. "Mit unbegreiflicher Schnelligkeit löste sich sein Geist von den in seiner Periode der mystischen Illusion, der idealen Asketik, geschaffenen Wahnvorstellungen los, er schüttelte das Joch des 'Göttlichen' von sich ab, das er an die Stelle seiner trägen Willenskraft gesetzt hatte, als er an ihrem Wiedererwachen verzweifelte. Er empfand jetzt denselben Widerwillen gegen den 'Glauben', wie er ihn in der Kirche gegen die in dem geweihten Staube kriechende, unreine Bestie empfunden hatte. (...) Alles war gemein, und alles verleugnete die Gegenwart des Herrn, den er gehofft hatte in plötzlicher Offenbarung kennen zu lernen. Aber die große Prüfung war endlich vollzogen. Er hatte seine körperliche Zugehörigkeit mit der untersten Schicht seiner Rasse erprobt, und nichts hatte sich in ihm geregt, als das Gefühl unüberwindlichen Entsetzens. Sein Wesen konnte in diesem Boden keine Wurzeln fassen; nichts konnte er gemein haben mit jener Menge...Der ideale Menschtypus war also nicht in einer fernen Zukunft, nicht am unbekannten Schluss einer Fortschreitungsperiode zu suchen; sondern er offenbarte sich nur in höher entwickelten Individuen, die sich auf dem Gipfel einer solchen Wellenbewegung befanden. Und nun wurde er gewahr, dass er, indem er versucht hatte sich selbst wieder zu finden und seine wahre Wesenheit in der unmittelbaren Berührung der Rasse, der er entstammte, wieder zu erkennen, herumgeirrt war...Der Zweck seines Experiments war verfehlt. Fremd war er der Menge, wie einem Volk von Oceaniden; fremd war er auch seinem Lande, der mütterlichen Erde, dem Vaterland, wie er auch seiner Familie, seiner Heimat, fremd war. Für immer musste er verzichten auf das müßige Suchen nach einem festen Punkt, nach einer dauernden Stütze, nach einem sicheren Halt."
Nun gilt es, den Kampf gegen die eigene tödliche Schwäche fortzusetzen: "Wenn du leben willst, so lehre jetzt den Geist Abscheu vor der Wahrheit und der Gewissheit empfinden. Verzichte auf eingehendes Prüfen. Hebe nicht die Schleier. Glaube an das, was Du siehst und an die Stimme, die Du hörst. Suche nicht außerhalb der Welt Erscheinungen, die Deine wunderbaren Sinne Dir vorspiegeln. Die Illusion bete an." Den Ausgangspunkt für die Neuorientierung bietet die hellenische Antike, "...das religiöse Gefühl der Freude am Leben; die tiefe Verehrung der ewig schöpferischen und ewig der Überfülle ihrer Kräfte frohen Mutter Natur; die Verehrung und Begeisterung für alle befruchtenden, zeugenden und zerstörenden Kräfte; die heftige und zähe Bejahung des Herrscher-Instinkts, des Instinkts des Kampfes, der Übermacht, der Oberhoheit, der führenden Gewalt: waren dieses nicht die unerschütterlichen Angeln, in denen sich die antike hellenische Welt in ihrer aufsteigenden Periode bewegte“ Der Hellene „verstand es, selbst in einer schrecklichen Handlung, selbst im Leiden noch einen stolzen Genuss zu finden. Selbst im Irrtum, selbst im Schmerz, selbst in der Qual erkannte er nichts anderes als den Triumph des Lebens." Das eigene Selbst ist als "die ewige Freude des Lebens" und als "jeden Genuss zu empfinden, nicht ausgenommen den des Schreckens, nicht ausgenommen den der Zerstörung". Alle Dinge sind im Fluss, der Kosmos ist unendlich veränderlich. Ein fortwährender Gestaltungs- und Umgestaltungsprozess. In der "ewigen Aufeinanderfolge von Zeiträumen" erfolgt ein Rückgriff auf zyklische Geschichtsmodelle, wie sie Jahre später von Spengler wieder populär gemacht werden sollten. "Der Hellene, mit seinem heftigen Willen zum Leben, der in dem größtmöglichen Reichtum an Kundgebungen zum Ausdruck kam, tat nichts anderes, als sich mit der Natur der Dinge identifizieren. Zwischen den Zielen seiner individuellen Existenz und dem kosmischen Werdegang war nicht der geringste Widerstreit."
D´Annunzio übernahm das dionysische Prinzip Nietzsches, verkörpert in Zarathustra als "Meister des goetheschen Übermenschen" (Faust). Er verwarf Schwäche, Reizbarkeit, Empfindsamkeit, Mitleid, Entsagung, Sehnsucht nach dem Glauben und nach Erlösung, "die ganze lächerliche und jammervolle Verzärtelung des müden, europäischen Geistes, alle ungeheuerlichen Blüten der christlichen Welt in dem entarteten Geschlecht". Gegenbilder waren Lebensbejahung, Schmerz als Zucht der Starken, Ablehnung des Glaubens an die Moral, Gerechtigkeit der Ungleichheit, Machtgefühl, Kampf, Herrschsucht, Sieg, Zerstörung und Schöpfung. "Die Wissenschaft vom Notwendigen soll als natürliches Endziel die Tat, die Schöpfung haben." Der „Triumph des Todes“ propagierte die Hoffnung auf die Herankunft des dem Gegenwartsmenschen überlegenen Übermenschen. Er forderte die Schaffung einer neuen Kunst, einer heroischen Kultur anstelle des elenden christlich-mystischen Treibens. Diese Kunst sollte "über so vielfältige und wirkungsvolle musikalische Darstellungsmittel verfügen, dass sie selbst dem Vergleich mit dem Orchester Wagners standhalten" kann. Sie sollte suggerieren, was sonst nur die Musik der modernen Seele mitteilen kann. "Wir wollen hören auf die Stimme des großen Zarathustra und in unserer Kunst mit unerschütterlichem Glauben die Ankunft des Übermenschen vorbereiten." Zu Nietzsches Zarathustra hieß es: "Diese Stimme verherrlichte die Macht, den Instinkt des Kampfes und der Herrschaft, das Übermaß der zeugenden und befruchtenden Kräfte, alle Tugenden des dionysischen Menschen, des Siegers, des Zerstörers, des Schöpfers.“
Das Buch entfernt sich schlussendlich vom Psychologismus des "Unschuldigen" durch eben diese Nietzsche-Adaptation. D´Annunzio nutzte Nietzsches antibürgerliche Haltung fortan für seinen eigenen Ästhetizismus und für einen radikalen Nationalismus aus. 1895 erschien "Die Jungfrauen vom Felsen", mit der antidemokratischen Wende als Gegenstand. Die Welt ist "das Abbild der Gedanken einiger erhabener Menschen", besteht nur als "Überlieferung der wenigen Auserlesenen an die vielen". Die moderne Massengesellschaft und die Zerstörung der römischen Tradition werden verworfen. Der Verfasser polemisierte gegen die Massenbewegung der "niederen Volksklasse" und gegen die Korruption der Handelsbourgeoisie. Von Freiheit und Gleichberechtigung gehe nichts weiter als ein "Sturmwind der Barbarei aus". Der antidemokratische Inhalt stellte laut d`Annunzio eine "zusammenfassende Darstellung der Gedanken- und Gefühlsströmungen, die heute ganz Europa bewegen", dar.
Die Ästhetisierung der Politik
Im September 1895 traf Gabriele d´Annunzio in Venedig mit der weltberühmten Schauspielerin Eleonora Duse zusammen. Beziehung und Zusammenarbeit der beiden Genies sollten für Italien den Beginn eines neuen Theaters bedeuten. Eleonora Duse litt unter dem Problem, dass kein einziger italienischer Autor ihr eine ihren Fähigkeiten entsprechende Vorlage bieten konnte - bis sie Gabriele d´Annunzio begegnete. Man schloss einen regelrechten Pakt, um Italien ein nationales Theater nach dem Vorbild Wagners zu geben. Das Bündnis sollte bis zur Trennung im Jahre 1903 halten. Zwischen 1900 und 1905 schrieb d´Annunzio 20.000 lyrische Verse und 12.000 Verse für die Dramen. Seine unnachahmliche Arbeitswut brachte in 40 Jahren 21 Millionen Zeilen und Verse zustande - mehr als 1000 am Tag. Damit handelt es sich bei Gabriele d´Annunzio sehr wahrscheinlich um den produktivste Lyriker und Schriftsteller der Menschheitsgeschichte. Die Beziehung zwischen dem berühmtesten Künstlerpaar der Jahrhundertwende basierte nicht auf Ausbeutung, sondern auf einer aufrichtigen Zuneigung. Als einzige Geliebte d´Annunzios endete Eleonora Duse bezeichnenderweise nicht in Wahnsinn oder Elend.
Gabriele d´Annunzio schrieb fortan mehr als ein Drama pro Jahr. Auf der Theaterbühne schuf er sich die theatralischen Mittel für seine spätere Politik. Hier wurde das vorbereitet, was dereinst in ganz Italien geschehen sollte: die kulturelle und nationale Erneuerung. Der Dramatiker entwickelte eine unzivilisierte Welt voller dionysischer Leidenschaften, rauschhaft und irrational, mit dem Übergang von tradierten Machtverhältnissen zur gewaltsamen Machtübernahme, symbolistisch mit endlosen Monologen, Wiederholungen und rhetorischen Pausen. Zugleich erfolgte mit dem Theater die Befreiung des d´annunzianischen Helden von den Niedrigkeiten des Lebens. D´Annunzio verzichtete im Gegensatz zu anderen Symbolisten jedoch nicht auf den Publikumserfolg, denn das Theater war Propagandaorgan für die Ideologie. Am Ende wurden Tausende von Statisten eingesetzt, bei diesem riesenhaften Aufwand wurde auch die moderne Industriegesellschaft genutzt und dargestellt. Die Stücke vollzogen die Verbindung zwischen Arbeiterschaft, Technologie und den heroischen Mythen des sich als Nationalsyndikalismus entwickelnden Präfaschismus.
Am 8. November 1895 sprach Gabriele d´Annunzio im Theater La Fenice zum Schluss der ersten Biennale in Venedig. Seine erste öffentliche Rede wurde ein wahrer Triumph, er erkannte seine außerordentliche rhetorische Begabung. Es handelte sich um die "Allegorie des Herbstes", die auch 1900 in den Roman "Feuer" eingebaut wird. Die Rede knüpfte an die große Zeit der Seestadt Venedig an, welche die Adria und das östliche Mittelmeer beherrschte. Folge Italien dieser großen Zeit, so würde ihm „die Morgenröte eines neuen Jahrhunderts“ leuchten. Der sich jenseits der Kategorien „Rechts“ und „Links“ sehende d´Annunzio wurde in der Folgezeit von den Konservativen unterstützt und zog 1897 für den Wahlkreis Ortona in das italienische Parlament ein. Im Wahlkampf verteidigte er mit seiner „Rede von der Hecke“ das Recht auf bäuerlichen Privatbesitz gegen die sozialistische Genossenschaftsbewegung und die radikalisierten Landarbeiter. Er bezeichnete sich als „Kandidat der Schönheit“ und trat für eine patriarchalische Neuordnung auf dem Land ein - dieses Motiv wurde bereits im „Unschuldigen“ kurz angeschnitten. Als Abgeordneter nahm d´Annunzio kaum an den Parlamentssitzungen teil, wurde jedoch durch die Verbindung eines vitalistischen Ästhetizismus und des dionysischen Lebensentwurfes mit Ablehnung des Parlamentarismus und Glauben an die Überlegenheit der lateinischen Kultur zur Symbolfigur der intellektuellen Jugend. Seine politischen Initiativen konzentrierten sich darauf, Kraft und Schönheit der italienischen Städte und ihrer Bewohner zu fördern.
Am 24. März 1900 wechselte er im Rahmen einer hitzigen Parlamentsdebatte demonstrativ zu den Sozialisten über. "Als Intellektueller gehe ich zum Leben." Diese aufsehenerregende Provokation bedeutete zugleich das Ende der „parlamentarischen Karriere“. D´Annunzio kandidierte kurz darauf vergebens mit Hilfe der Sozialisten in Florenz. Seine Agitation mutete beinahe anarchistisch an: "Von allen großen Taten eines Menschen bewundere ich am meisten jene, die das von der Masse aufgestellte Gesetz bricht, um das Gesetz des Einzelnen aufzurichten." In einem Interview mit der französischen Zeitung "Le Temps" hieß es allerdings: "Glaubt ihr, ich sei Sozialist? Ich bin immer derselbe geblieben...ich bin und bleibe Individualist...Der Sozialismus in Italien ist eine Absurdität. Bei uns gibt es nur einen politischen Weg, zerstören. Was jetzt ist, ist Moder, ist der Tod, ist gegen das Leben. Man muss Beute machen. Eines Tages werde ich auf die Straße gehen."
Ebenfalls im Jahr 1900 erschien der Roman „Das Feuer“, welcher nicht zuletzt autobiographisch die Liebesgeschichte mit Eleonora Duse schildert. Ungeachtet der Bloßstellung erklärte diese: "Ich kenne den Roman, und ich werde den Druck nicht verhindern. Mein Leiden zählt nicht, wenn es darum geht, der italienischen Literatur noch ein Meisterwerk zu schenken. Und dann...ich bin vierzig und ich liebe!" Das Werk war als erster Teil einer Trilogie vorgesehen, doch die Fortsetzungen „La vittoria dell'uomo" und „Trionfo della vita" wurden nie geschrieben. D´Annunzio erhob sich nunmehr zum direkten Erben Wagners - im Roman trug er ihn gar mit heroischem Ernst zu Grabe - und stilisiert sich zum Übermenschen: Der Erwecker! Maximilian Harden konstatierte in seiner Zeitschrift „Die Zukunft“ ganz richtig, Gabriele d´Annunzio wolle dem italienischen Volk ein Seher im Sinne Zarathustras werden. In der Tat verschmelzen der Protagonist Stelio Effrena, der Verfasser und Nietzsches Zarathustra zu einer kaum trennbaren Einheit. In der prophetischen Person des Stelio Effrena wird der Übermensch erstmals konkrete Gestalt. Erneut werden die bereits bekannten Motive variiert: Verachtung der Massenseele (des Nietzscheschen Herdentieres), Bewahrung und Erneuerung der lateinischen Kultur, Ästhetisierung des Lebens und Machtsteigerung als Ziel der Philosophie. Allerdings fehlt d´Annunzios superuomo die radikale Negativität Nietzsches - er ist befähigt, der Menschheit den Weg in eine glänzende Zukunft zu bahnen.
„Ihm war es gelungen, in sich selbst die innige Verbindung der Kunst mit dem Leben zu vollenden und im Innern seines Wesens eine unversiegbare Quelle von Harmonie zu finden. (…) Richard Wagners Werk ist auf germanischem Geist begründet und entspringt nordischem Wesen…Wenn Sie sich seine Musikdramen vorstellen an den Gestaden des Mittelmeeres…so würden Sie sie erbleichen und vergehen sehen. Da es - nach seinem eigenen Worte - dem Künstler gegeben ist, eine noch gestaltlose Welt kommender Vollendung erglänzen zu sehen und ihrer im Wunsch und in der Hoffnung prophetisch zu genießen, so verkünde ich die Herankunft einer neuen oder einer wieder erneuerten Kunst…Ich bin stolz darauf, ein Lateiner zu sein; und ich erkenne in jedem Menschen von fremdem Blut einen Barbaren. (…) Das Volk besteht aus all denen, die ein dunkles Bedürfnis empfinden, sich mit Hilfe der Dichtung aus dem täglichen Kerker zu erheben, in dem sie dienen und leiden.“
1903 setzte die Veröffentlichung der "Die Lobgesänge des Himmels, der Erde und der Helden" ein. Nach den sieben Sternen der Pleiaden waren sieben Bücher geplant. Die „Lobgesänge“ sind das Epos eines ganzen Lebens und sollten die antike und die moderne Welt in einem allumfassenden Bild vereinen. Die Masse wurde als orientierungsloses Gebilde geschildert, welches auf Führung wartet, um "aus ihrem Kummer eine einzige Wut zu machen". Die Antike wurde der Ausgangspunkt, um die Situation Italiens anzuprangern und eine neue Zukunft heraufzubeschwören. Eine moralische und politische Erneuerung der Nation sollte die Zerfallserscheinungen der modernen Zivilisation kurieren. Mit den Laudi erreichte die Prosa ihren weltweit beachteten Höhepunkt. Hierbei erfand d´Annunzio für Italien den freien Vers, obwohl die Futuristen diese Innovation später für sich beanspruchten.
Im Jahre 1908 erfolgte der Vorabdruck der Tragödie „La Nave“ in der Zeitschrift „Poesia“. D´Annunzio betrieb nunmehr in Theaterverpackung Flotten- und Großmachtpropaganda für die Wiederauferstehung italienischer Größe. Das Stück war gekennzeichnet durch Kriegsdarstellungen und Massenszenen, die Zelebrierung militärischer Technik und einen rachsüchtiger Heroismus. Es sollte die Demütigung von Adua vergessen machen, wo 1896 das italienische Ostafrika-Expeditionsheer von den Äthiopiern vernichtet wurde. Nach den Aufführungen kam es allerorts zu imperialistischen Kundgebungen. Die Anklänge an eine sich als aggressiv nationalistisch verstehende Literatur blieben nicht ohne Einfluss auf den im Entstehen begriffenen Futurismus und haben sogar eine entscheidende Bedeutung, auch wenn das von Filippo Tommaso Marinetti geleugnet wurde. D´Annunzios Heroismus ist jedoch individuell und nicht kollektiv. Sein Verhältnis zur Moderne bleibt künstlerisch geprägt, die propagierte gesellschaftliche Ordnung orientiert sich an vormodernen Modellen - der spätere Zusammenprall mit den Futuristen ist vorprogrammiert. Für Marinetti ersetzte das Reich der Maschinen die traditionelle Lebenswelt. D´Annunzio war in den Augen der Futuristen der Vergangenheit verhaftet, sein Verhältnis zur Technik galt ihnen als ästhetizistisch und symbolistisch geprägt. Sein Lebenswerk wurde schon 1908 von Marinetti zum Museumsstück erklärt. Die „Poesia“ wurde ab 1909 zum ersten „Zentralorgan“ des Futurismus, die zeitgenössische Kritik betrachtete diesen als eine Übertreibung des D´Annunzianismus. Im Sommer gleichen Jahres landete der Dichter als gewohnheitsmäßiger Verkehrsrowdy (er nannte einen grellroten Fiorentina-Sportwagen sein eigen) vor Gericht. Zu seiner Rechtfertigung erklärte er im Gerichtssaal, er wäre nicht Gabriele d´Annunzio, wenn er nicht versucht hätte, die normale Geschwindigkeit zu überschreiten.
Schon mit der Trennung von Eleonora Duse 1903 degenerierte das wüste und verschwenderische Leben Gabriele d´Annunzios endgültig zum sinnlosen öffentlichen Spektakel. Nach Jahren in der Pose eines italienischen Renaissancefürsten (neben einem üppigen Interieur 20 Hausbedienstete, 36 Hunde, 31 Pferde, 200 Tauben und 5 Katzen) zwang ihn die Schuldenlast 1910 zum Verlassen Italiens, die Habe wurde wieder einmal restlos versteigert. In der französischen Emigration verfasste er 1910 seinen letzten großen Roman „Vielleicht - Vielleicht auch nicht“.
Das Buch beginnt mit einer rasanten Autofahrt - die moderne Technik des 20. Jahrhunderts wurde erstmals direkt adaptiert. Die Hauptfigur Paolo Tarsis ist geradezu ein Geschwindigkeitsfanatiker. D´Annunzio griff den Mythos vom Fliegen auf, hierbei an Antoine de Saint-Exupéry und Ernst Jüngers Ausflüge in die Luftfahrtpropaganda erinnernd. Inspiration lieferte nicht zuletzt der Besuch auf der ersten internationalen Flugschau Italiens in Brescia (September 1909). Hier wagte der Dichter sich als Passagier in die Lüfte und entdeckte eine neue Leidenschaft für sich. „Vielleicht - Vielleicht auch nicht“ verarbeitete als einer der ersten Romane überhaupt die Fliegerei literarisch und lieferte unter Anleihe bei venezianischen Marineausdrücken wichtige Beiträge zum Fachvokabular der entstehenden italienischen Fliegerei. Der Mythos der Maschine wurde an den Gedanken des Übermenschentums gekoppelt, Otto Lilienthal erscheint als „Barbar des Nordens“ ähnlich wie einst Richard Wagner im „Feuer“.
Beim Fliegen erhebt sich der Mensch über das Schicksal und die irdischen Bindungen. Das Bild des Tatmenschen und der Mythos von Schnelligkeit, Aggressivität und Technik ersetzten die Selbstzweifel der Vorgängerwerke. Eine technisch gesteigerte Ekstase synthetisiert die industrielle Lebensform mit dem individuellen Heroismus. „Es war das Leben! Und die Zeit verstrich, und der strahlenförmige Motor dröhnte im regelmäßigen Rhythmus, und der Stern der Schraube bohrte sich in den Himmel. Es war der Sieg!“ D´Annunzio brach aus dem bürgerlichen Roman aus, indem er die Gefahr zum Bestandteil der Ordnung erhob. Die Welt stand geradezu in der Perspektive einer unaufhebbaren Gefahr; Gefahr und Leidenschaft waren bestimmend für die Welt und das Leben. Mit sprachlichen Kühnheiten lehnte der Verfasser sich deutlich an den Futurismus an.
Zugleich wirkte der italienische Propagandist des Übermenschen im Vorbereitungskomitee für die Schaffung einer Nietzsche-Gedenkstätte bei Weimar mit. Seit 1911 betrieben Harry Graf Kessler und der Architekt Henry van de Velde die Errichtung eines monumentalen Komplexes mit Feststraßen, einem Park, einem Tempel und einem Stadion. Als Zentrum des Tempels war anstelle eines christlichen Altars eine hellenisch inspirierte Nietzsche-Herme vorgesehen. Wie die Wagner-Bewegung ihr Zentrum in Bayreuth hatte, so sollte der Nietzscheanismus das seine in Weimar haben. Im Stadion selbst sollten alljährlich paneuropäische Sportwettkämpfe stattfinden; quasi die neuheidnische Gegen-Olympiade eines erwachenden neuen Europa. Neben d´Annunzio gehörten Persönlichkeiten wie der französische Protofaschist Maurice Barrés, Hugo von Hofmannsthal, Gustav Mahler, Gerhart Hauptmann oder Walther Rathenau dem Komitee an. Der Ausbruch des Weltkrieges bereitete diesen Bestrebungen zur Schaffung einer paneuropäischen Nietzsche-Bewegung ein gründliches Ende.
Ebenfalls in Frankreich arbeitete d´Annunzio an Giovanni Pastrones Film „Cabiria“ mit und kann als Miterfinder der beweglichen Kameraführung angesehen werden. Als Gemeinschaftswerk mit dem Komponisten Claude Debussy entstand das Mysterienspiel „Le Martyre“, welches man Maurice Barrés widmete. Dieser erkannte die Huldigung an, verwies aber darauf, dass er sich für einen anderen Weg entschieden habe: "Ich wäre wie ihr geworden, käme ich nicht aus einem Land mit Pflichten."
Der Dichter-Soldat
Die Mitarbeit im „Corriere della Serra“ eröffnete Gabriele d´Annunzio eine dauerhafte Propagandamöglichkeit für die Verwirklichung seines aktivistischen Menschenbildes. Der erwartete europäische Krieg sollte die zukunftsträchtige Stunde der lateinischen Rasse sein. Schon während des Tripoliskrieges zwischen Italien und der Türkei schaltete d´Annunzio sich in die nationalistische Propaganda gegen Deutschland und Österreich ein und besserte damit seinen Ruf in Italien wesentlich auf. Die in Libyen gefallenen Soldaten wurden gefeiert als "Märtyrer, die am Schleifstein Afrikas das Messer für die erhabenste Erhebung schleifen".
Die Enttäuschung über den Frieden von 1912, der Rom die Adria vorenthielt, heizte die nationalistische Stimmung im Lande nur noch mehr an. Italien glich einem Hexenkessel, in dem sich bereits die Entstehung des Faschismus abzeichnete. Die Spaltung der Arbeiterbewegung war längst vollzogen. Die so genannten Nationalsyndikalisten trennten sich von den Sozialisten. Ausgehend von Frankreich setzte sich der Gedanke durch, dass das Proletariat keine revolutionäre Kraft mehr sei. Auch Lenin bemerkte seinerzeit sehr treffend, die Führung der Arbeiterbewegung sei ein Bestandteil der Bourgeoisie geworden. Enttäuschte und radikalisierte Linke suchten nach einem neuen revolutionären Subjekt - und entdeckten die Nation. Und dieses Subjekt konnte gerade im irredentistischen Italien durch nichts so gut mobilisiert werden wie durch den Krieg.
Bei Ausbruch des 1. Weltkrieges forderten weite Kreise der italienischen Öffentlichkeit, die linken wie rechten Interventionisten, den Kriegseintritt gegen Deutschland und Österreich. Benito Mussolini verließ die Redaktion des „Avanti“ und solidarisierte sich öffentlich mit den Futuristen um Marinetti. D´Annunzio war ebenfalls begeisterter Anhänger des Interventionsgedankens und propagierte den Kampf der lateinischen Staaten gegen das germanische Barbarentum. "Die neue Welt kann nur auf den Trümmern des Germanentums entstehen." Als Kriegsberichterstatter an der Front formte er Verwüstung und Tod in einen regelrechten Kriegskult um. Die italienische Nation sollte durch das Feuer des Krieges endlich zum geeinten Volkskörper werden.
Mit dem Kriegseintritt Italiens Anfang Mai 1915 erhielt Gabriele d´Annunzio die Möglichkeit, in die Heimat zurückzukehren und sich vor Ort in die Propaganda einzuschalten. Im Rahmen einer Rede in Quarto zitierte er aus seinen Romanen, beschwor den heroischen Geist der Antike und die Wiedergeburt der Nation. Vor der tobenden Menge verkündete er, den zu erwartenden Opfergang an der Front begrüßend: "Warum Perlen vor die Säue werfen? Unsere Gegner sind Schweine, und so behandeln wir sie." Getreu seines aktivistischen Menschenbildes war er nicht mit einer Propagandistenrolle zufrieden und meldete sich am 23. Mai 1915, mit 52 Jahren und als Leutnant der Kavallerie, freiwillig zum Militär. Gegen den Widerstand der Regierung setzte er seinen Fronteinsatz bei der Marine und nicht zuletzt bei der Fliegertruppe durch: "Leichter ist es, den Wind zu bändigen, als mich. Ich bin ein Soldat. Ich wollte ein Soldat sein, aber nicht, um in Cafés oder in der Mensa zu sitzen. Es ist mein einziger Lebensinhalt, heute. Schützen sie mich vor der Versuchung, zu Repressalien oder unvernünftigen Handlungen greifen zu müssen."
Über Triest warf der Dichter-Soldat ein Manifest zur Befreiung der unter österreichischer Herrschaft lebenden Italiener ab. Die Regierung in Wien setzte gar ein Kopfgeld von 20.000 Kronen auf seine Gefangennahme aus. D´Annunzio nahm Quartier im Haus des Prinzen Hohenlohe in Venedig und betrieb von hier aus zur See und zur Luft so etwas wie einen Privatkrieg gegen die Österreicher. Egozentrik und Extravaganz des italienischen Kriegshelden dürften allerdings bei so manchem Generalstäbler und Berufssoldaten das Wachstum grauer Haare vermehrt haben. Im Juni 1916 wurde er bei einer Notwasserung seines Piloten verletzt und verlor ein Auge. Schon drei Monate später saß d´Annunzio wieder im Flugzeug und nahm an neuen Bombenangriffen teil. "Der Tod will mich nicht. (…) Wer wird uns Freude bereiten, wenn wir aufhören zu töten und zu zerstören?“ 1917 versuchte sich der „Comandante“, wie er nun genannt wurde, in einem Memorandum an Generalstabschef Cadorna als Theoretiker des aggressiven Luftwaffeneinsatzes und entwickelte (Jahre vor seinem Landsmann Douhet) die Gedanken des strategischen Bombenkrieges gegen die feindliche Infrastruktur und Industrie sowie des direkten Schlachtfliegereinsatzes zur Infanterieunterstützung. Sein persönlicher Krieg bestand hingegen aus Aufsehen erregenden Einzelaktionen, mit denen der Feind gedemütigt wurde. Unvergessen ist nicht zuletzt die von d´Annunzio initiierte Flugblattaktion eines italienischen Bombergeschwaders über Wien am 9. August 1918. Nach der katastrophalen Niederlage der Italiener bei Caporetto im Herbst 1917 wäre der Comandante beinahe durch meuternde Infanteristen gelyncht worden; ungerührt sah er anschließend zu, wie 38 von ihnen standrechtlich erschossen wurden. Am 1. Mai 1918 wandte er sich „An die Rekruten von 1900“: „Wahrlich Ihr seid die Glücklichsten. Ihr seid begünstigt und auserwählt…Ihr werdet mit Gesang in jene höchste Schlacht ziehen. Noch gestern wart Ihr nur Kinder, und jetzt erscheint Ihr uns in solcher Größe! Für einen Augenblick vergessen wir Eure älteren Brüder, die in Schützengräben schmachten, und die vernarbten Veteranen, um nur auf Euch zu schauen, unsere bartlosen Erretter…Bataillone, die Ihr seid in Eurem Noviziat, dieser heutige Maifeiertag ist das Fest der Toten, die doch leben und kämpfen. Seht nur auf sie. Seht nicht länger auf Eure Frauen…“
Das Kriegsende erlebte er nach einer Abkommandierung an die Westfront im November 1918 als Oberstleutnant der Reserve: "Ich war ein kleiner Teil des Kampfes gewesen, ich, der der ganze Kampf sein möchte...Wenn das gemeine Leben mich wieder hat, leide ich und ärgere mich...Der Tod ummäntelt mich, berührt mich und eilt davon...Was soll ich mit dem Frieden anfangen?"
Fiume - der Hauptakt
Der Comandante konnte wie so viele in den europäischen Ländern nicht vom totalen Kriegseinsatz seiner Person auf den Frieden umschalten. Er entwickelte das das Schlagwort vom "verstümmelten Sieg" Italiens, das auf die Vorherrschaft in der Adria verzichten musste. Zwischen den Opfern des Krieges und dem verstümmelten Sieg bestand eine Analogie - die Vervollständigung des Erfolges sollte die Erlösung bringen. Ein Hauptgegenstand der nationalistischen Propaganda wurde Dalmatien - und dort vor allem die Stadt Fiume, deren größte Bevölkerungsgruppe Italiener stellten. Hier wetteiferten Serbokroaten und Italiener um die Vorherrschaft, rein rechtlich war die Stadt bereits dem entstehenden Jugoslawien eingegliedert. Neben alliierten Soldaten befanden sich auch italienische Kriegsschiffe und Truppen in Fiume. Die italienische Bevölkerungsgruppe befand sich geradezu in einem nationalistischen Rauschzustand und feierte die Soldaten euphorisch und anhaltend. Rom beanspruchte die Erfüllung des Londoner Vertrages von 1915, der neben Südtirol auch Istrien und Dalmatien als italienische Kriegsbeute vorsah. Bereits jetzt konspirierte d´Annunzio mit hohen Offizieren über eine Aktion gegen Split.
Im Sommer 1919 entwickelte Nino Host-Venturi, Mitglied des italienischen Nationalrates in Fiume, den Plan einer paramilitärischen Aktion zur Angliederung der Stadt an Italien und trug d´Annunzio das Kommando an. Der Nationalrat blieb auch weiter mit dem Comandante in Verbindung, die Pläne reiften heran. Schon am 9. Juni formulierte Gabriele d´Annunzio: „So erscheint Fiume heute als die einzige lebende Stadt, die einzig brennende Stadt, die einzige beseelte Stadt, ganz Hauch und Feuer, ganz Schmerz und Raserei, ganz Reinigung und Verzehrung: ein Holocaust, der schönste Holocaust, der sich jemals seit Jahrhunderten auf einem gefühllosen Altar dargeboten hat. Mithin ist der richtige Name der Stadt nicht Fiume, sondern Holocausta: die vollständig vom Feuer Verzehrte.“
Nach Schießereien mit den Franzosen musste die italienische Besatzung die Stadt des Feuers im August 1919 verlassen. Eine Gruppe junger Offiziere, die „sieben Verschworenen“, wandte sich an d´Annunzio: "Wir haben geschworen: Entweder Fiume oder der Tod. Und was macht Ihr für Fiume?" Der Comandante erklärte daraufhin am 06.09.19 in der Zeitschrift "Vedetta d´Italia" seine Bereitschaft zu jedem erdenklichen Schritt. Kurz darauf teilte er Mussolini, bereits herausragender Führer des italienischen Faschismus, seinen Entschluss zu einem Handstreich gegen Fiume mit und bat um Unterstützung.
Am 12. September setzte sich ein Zug Freischärler mit Lastwagen, Panzerfahrzeugen und 300 Bewaffneten gegen Fiume in Bewegung. Der Comandante litt schwer an Fieber, das er mit einem Cocktail aus Kokain und Strychnin bekämpfte. Bersaglieri-Einheiten schlossen sich dem Unternehmen an, bald auch Soldaten der legendären Division „Schwarze Flammen“. Einen bedeutenden Anteil der Truppe stellten demobilisierte Veteranen der Arditi-Sturmtruppen, deren Kampflied „La Giovinezza“ von den Freischärlern übernommen wurde und sich zur faschistischen Hymne schlechthin entwickeln sollte. Die Arditi standen als Symbolfiguren für Tapferkeit, Männlichkeit und einen anarchistischen Zug gegen Institutionen jeder Art. Im Krieg oblag es den Angehörigen dieser überaus aggressiven Truppe, einen Frontabschnitt zu stürmen und sich im eroberten Gelände festzusetzen. Gegen Mittag besetzte der auf 2500 Mann angewachsene Zug Fiume widerstandslos. Gabriele d´Annunzio wurde zum Gouverneur der Stadt ausgerufen und sprach vor der nach Tausenden zählenden Menge: "Hier bin ich, ecce Homo...Ich bitte nur um das Recht, Bürger der Stadt des Lebens zu sein. In dieser närrischen und feigen Welt ist heute Fiume das Zeichen der Freiheit." Der Comandante verkündete, Italien sei nun von der Schande des verstümmelten Sieges erlöst. Die Tat habe das Schicksal der italienischen Nation gewendet. Offenkundig übersah d´Annunzio, dass sein Zug ohne die stillschweigende Duldung der italienischen Regierung und des Militärs kaum möglich gewesen wäre.
In der Adriastadt entstand nun das „Commando di Fiume“, dem der Dichter-Soldat als Comandante in Capo vorstand. Weitere Mitglieder waren Eugenio Coselschi als Privatsekretär, das den Futuristen nahe stehende Fliegeras Guido Keller als Aktionssekretär, Giovanni Giuriati als Kabinettschef, Oberst Mario Sani als Chef des Militärkabinetts, Major Carlo Reina als Stabschef und Orazio Pedrazzi als Pressechef. Italiens Regierungschef Nitti übergab General Badoglio das Kommando über die italienischen Truppen in der Region. Die Alliierten zogen ab, und als Admiral Casanuova die italienischen Kriegsschiffe aus dem Hafen führen sollte, wurde er von d´Annunzio kurzerhand gefangen gesetzt. In Fiume bestand ferner noch der italienische Nationalrat, dessen Entscheidungen allerdings der Bestätigung durch den Comandante bedurften.
Das Unternehmen gewann sofort die Unterstützung der den linken Flügel des Faschismus bildenden Nationalsyndikalisten und der Futuristen. Tausende neuer Freiwilliger strömten nach Fiume, aber - weder Mussolini noch Nitti unternahmen etwas. In einem erbosten Brief an den Duce schrieb d´Annunzio: „Ihr lasst Euch den Schweinefuß des gemeinsten Betrügers in der Geschichte der universalen Kanaille in den Nacken setzen.“ Marinetti kam zusammen mit dem Arditi-Literaten Ferruccio Vecchi nach Fiume und feierte den Krieg als einzige Hygiene der Welt. Als Mitbegründer der Fasci di Combattimento forderte er die Ausweitung der Aktion auf ganz Italien, nächstes Ziel sollte Triest sein. Marinetti und Vecchi setzten sich jedoch nicht durch, was nicht zuletzt auf die persönliche Rivalität zum Comandante zurückzuführen war. D´Annunzio nannte Marinetti einen „phosphoreszierenden Kretin" und drängte ihn mehr oder weniger aus der Stadt hinaus. Der Comandante verweigerte auch die Unterstützung der bereits im Machtkampf mit Mussolini befindlichen Linksfaschisten. Verhandlungen mit Mussolini über einen Putsch in Italien blieben ergebnislos, auch wenn dieser persönlich nach Fiume kam.
In der Stadt des Feuers inszenierte Gabriele d´Annunzio ganz in Anlehnung an seiner Theaterstücke die Politik als ästhetisches Schauspiel. "Bei den Arditi. Gegen Abend. Das wahre Feuer. Die Rede, die gierigen Gesichter - Die Rasse aus Flamme. Die Chöre - die offenen, klangvollen Lippen - Die Blumen, der Lorbeer. Der Ausgang. Die Dolche nackt in der Faust. Eine Grandezza, die ganz römisch ist. Alle Dolche hoch. Die Rufe. Der begeisterte Lauf der Kohorte. Das Fleisch auf Holzglut gebraten. Die auflodernde Flamme brennt im Gesicht - Das Delirium des Mutes. Rom: das Ziel!" Der Comandante und seine Legionäre entwarfen die Äußerlichkeiten des Faschismus. Die Legionäre übernahmen den marokkanischen Fez als Kopfbedeckung, das Schwarzhemd und der Totenkopf waren Symbole für die Macht über Leben und Tod. Ihre Fahne trug den römischen Adler mit weitgeöffneten Flügeln. Geometrisch ausgerichtete Massenaufmärsche fungierten als Gegensymbol zur bürgerlichen Anonymität, es herrschte ein Gefühl befreiter und auserwählter Gemeinschaftlichkeit. Durch Übertragung der modernen Theatertechniken in die Wirklichkeit entstand eine Osmose zwischen dem Comandante und der Masse, eine kollektive Atmosphäre. Die Politik schuf Mythen und führte die Masse durch die emotionale Macht der Mythen. Eine quasi weltliche Ersatzreligion bildete sich heran. Der Zustand des Mobilisiertseins, der Bereitschaft, wurde für Mussolini ein Grundaxiom der faschistischen Bewegung.
Die internationale Presse erwartete den Kollaps der italienischen Regierung und eine drastische Ausweitung der Machtstellung Gabriele d´Annunzio. Sehr bald legte sich die Aufregung, nicht zuletzt, weil Nitti keinen Märtyrer schaffen wollte und sich zurückhielt. Das Feuer von Fiume verbreitete sich nicht. Sehr bald traten interne Spannungen auf. Der Nationalrat war revolutionären Experimenten abgeneigt und lediglich an der Angliederung an Italien interessiert. Widerpart der Konservativen um Kabinettschef Giuriati waren die sich um Keller scharenden Futuristen und Nationalsyndikalisten. D´Annunzio stand zwischen den Fronten und war eher ein Getriebener als ein Antreiber. Er war zunächst vollauf damit beschäftigt, sich und die Legionäre als die Vertreter des wahren Italien zu stilisieren und eine neue Wirklichkeit zu schaffen.
Am 24. Oktober rückte der Comandante im Rahmen der Rede „Italien und Leben“ erstmals von seiner Fixierung auf Dalmatien ab. Fiume wurde als Modell für den Kampf ethnischer Minderheiten in der ganzen Welt dargestellt: „All die Rebellen aller Rassen werden unter unserem Zeichen versammelt werden. Und die Schwachen werden bewaffnet werden. Und Gewalt wird gegen Gewalt gesetzt werden.“ D´Annunzio propagierte den Kreuzzug der unterdrückten Völker gegen die westlichen Ausbeuternationen und die Kriegsgewinnler. Im Freiheitskampf sollten sich die weißen Völker mit den kolonialisierten Nationen vereinigen, die Christen mit den Muslimen. Infolge des neuen Kurses entstanden Kontakte zu nationalistischen Bewegungen in Irland und Ägypten, bald auch in der Türkei, Armenien, Kroatien und Albanien. Daneben verfolgte man phantastische Programme weiterer Landungen im Adriaraum, doch einziges Ergebnis war die Besetzung Zaras am 14. November. Nachspiel der Rede war die Gründung der Fiume-Liga für die Unabhängigkeit der Völker am 28. April 1920. Als treibende Kraft fungierte hier der sich vorübergehend als „Außenminister“ Fiumes versuchende belgische Dichter Leon Kochnitzky. Die Liga war als Alternative zum Völkerbund konzipiert und sollte die Selbstbefreiung der unterdrückten Völker nach dem Vorbild Fiumes fördern. In Verträgen mit Nationalisten aus Kroatien, Albanien und Montenegro vereinbarte man die gemeinsame Zerstörung des jugoslawischen Staates, doch dies blieb nur ein Intermezzo.
Nach Gumbrecht: „Erlösung ist die Wiederkehr einer glücklichen Vergangenheit in die Gegenwart, und oft ist diese Wiederkehr gebunden an jene Orte, wo das Glück der Vergangenheit verloren gegangen ist…Als die erhoffte Erlösung nicht eintritt mit dem Erreichen der Stadt Fiume, wird das Warten auf Erlösung nicht zu einem Warten auf einen gewissen Zeitpunkt. Denn Erlösung kann in jedem - im nächsten und im fernsten - Zeitpunkt eintreten. Das Warten auf den unbekannten Zeitpunkt der Erlösung ist ein Warten im Zustand der Mobilisierung, ein Warten, das zum Fest und zur Trunkenheit all derer wird, die in Fiume zusammengekommen sind. Die Zeit des Wartens auf Erlösung schlägt endlich um in die Zeit der Ermattung und des Abflachens nach dem Zustand des Mobilisiertseins und der Wachheit, weil man nur für eine begrenzte Zeit der Erlösung entgegenfeiern und entgegenwachen kann.“
Irgendwann kam die Ernüchterung nach den endlosen Feiern mit Drogen und Alkohol, das Rote Kreuz musste die Stadt versorgen. Binnen weniger Wochen hatten die Legionäre das gesamte Stadtvermögen bei Festen und Aufmärschen durchgebracht. Der Konflikt zwischen den Gemäßigten und den Revolutionären um Keller verschärfte sich. Keller wollte die Verzweifelten der Gesellschaft gegen das Bestehende mobilisieren und rief gar dazu auf, die nicht gemeingefährlichen Insassen der italienischen Irrenhäuser als Verstärkung nach Fiume zu entsenden. In der Stadt herrschten Chaos und Kriminalität, allgemein erwartete man von d´Annunzio den Aufbau einer neuen Ordnung. Zugleich versank Italien in einer Wirtschaftskrise und in bürgerkriegsähnlichen sozialen Unruhen.
Ende November 1919 war der Comandante bereits zur Aufgabe bereit und wollte abziehen, wenn die italienische Regierung ihrerseits Fiume annektierte. Nittis Angebot, die Stadt im Austausch gegen den Abzug der Legionäre mit italienischen Truppen zu besetzen und zu annektieren, wurde vom Nationalrat angenommen. Die Frauen Fiumes und die Legionäre weigerten sich indessen, und letztlich stellte der schwankende d´Annunzio sich auf ihre Seite und annullierte das Ergebnis einer sich für Nittis Vorschlag aussprechenden Volksabstimmung. Kellers Hardliner bildeten nun ein Komitee für öffentliche Sicherheit, um die Konservativen in Schach zu halten, und Giuriati trat als Kabinettschef zurück. Die Abwanderung von eher gemäßigt nationalistisch eingestellten Legionären setzte ein, es kam zu Kundgebungen gegen die Herrschaft des Comandante.
In dieser Situation erschien im Dezember 1919 als Gesandter der linksfaschistischen Nationalsyndikalisten Alceste De Ambris auf Einladung d´Annunzios in Fiume. De Ambris war daran gelegen, die Legionäre als Verbündete gegen Mussolinis Kurs zu gewinnen und von Fiume aus den revolutionären Prozess in ganz Italien zu beeinflussen und avancierte zum neuen Kabinettschef der Kommandantur. Da Mussolini immer weiter nach rechts rückte, warnte De Ambris, der Faschismus könne zum antirevolutionären Instrument der Bourgeoisie degenerieren. Er forderte den Comandante auf, der letzte Akt des Dramas von Fiume müsse in Rom spielen. Im Januar 1920 erklärte dieser sich bereit, zusammen mit den Legionären und der revolutionären Linken auf Rom zu marschieren. Die Arbeiterschaft Fiumes war jedoch angesichts des wirtschaftlichen Durcheinanders unruhig, und ein Bündnis mit den Sozialisten kam nicht zustande. Auch direkte Kontakte zur Sowjetregierung in Moskau konnten nicht etabliert werden, obwohl Lenin d´Annunzio auf dem Moskauer Kominternkongress als Revolutionär anerkannte. Ergebnis der neuen Allianz mit den Nationalsyndikalisten war die am 30. August 1920 verkündete Carta del Carnaro als Verfassung des Freistaates Fiume (siehe Exkurs). Gabriele d´Annunzio wurde zum Regenten Fiumes ausgerufen, Alceste De Ambris zum Regierungschef. Die Verfassung sollte Modellcharakter für ein nationalsyndikalistisches Italien haben: „Fiume ist der äußerste Vorposten der Giulia, es ist der äußerste Felsen der italienischen Kultur…Von Fiume aus strahlte und strahlt der Geist des Italiertums über die Küsten und über die Inseln…“ Bezeichnenderweise erhielt Mussolinis „Popolo d´Italia“ als einzige große italienische Zeitung das Dokument nicht zugesandt.
Trotz der neuen Heeresordnung vom 27. Oktober 1920, die ihn zum unmittelbaren Oberbefehlshaber machte, verloren d´Annunzio und De Ambris zusehends an Boden gegen die Konservativen. Den Todesstoß erhielt das Unternehmen durch den am 12. November 1920 geschlossenen Vertrag von Rapallo zwischen Italien und Jugoslawien. Istrien fiel an Italien, aber Fiume wurde ein neutralisierter Freistaat. Aus Protest gegen das Abkommen warf Keller in einem gewagten Flugunternehmen über dem Parlamentsgebäude in Rom einen Nachttopf voller Rüben ab. Mussolini erkannte, dass Italien außerstande war, einen neuen Krieg zu führen, und verweigerte den Legionären die erbetene Hilfe. Das Exekutivkomitee der Faschisten stellte sich solidarisch hinter den Nationalrat, der sich nach der Carta del Carnaro vollends mit d´Annunzio überworfen hatte. Damit hatte Mussolini sich vorläufig durchgesetzt - der Konflikt mit den Intransigenti, dem revolutionären Flügel der Bewegung, sollte ihn dennoch ständig begleiten. Ende November verhängte die italienische Regierung eine vollständige Blockade über die Stadt.
Nach der Ratifikation des Rapallo-Vertrages durch den italienischen Senat richtete Rom ein Ultimatum zum sofortigen Verlassen Fiumes an den Comandante. Dieser glaubte nicht daran, die italienische Regierung würde Ernst machen. In der Blutigen Weihnacht von Fiume wurde er eines Besseren belehrt. Am Heiligen Abend des Jahres 1920 eröffnete das Schlachtschiff „Andrea Doria“ das Feuer auf den Regierungspalast. Während der dem Tod um Haaresbreite entronnene d´Annunzio nicht kämpfte, leisteten Kellers Leute Widerstand gegen die einrückenden Regierungstruppen. Es gab bis zu 203 Gefallene unter den Legionären - das große Abenteuer war vorbei. Im neu geschaffenen Freistaat Fiume ergriffen übrigens im März 1922 - noch vor dem Marsch auf Rom - Faschisten und ehemalige Legionäre die Macht.
Exkurs: Die Carta del Carnaro
Die Carta del Carnaro war das erste Modell der nationalsyndikalistischen Gesellschaft und basierte auf den Prinzipien Autonomie, Produktion, Gemeinwesen und Korporativismus. Eine Volkssouveränität wurde anerkannt, aber nur diejenige der produktiv tätigen Bürger beiden Geschlechts, jedweder Glaubensrichtung und jedweder Nationalität. Festgeschrieben waren auch Gewaltenteilung, Sozialversicherungssystem, Mindestlöhne, Recht auf Bildung, Gleichheit vor dem Gesetz sowie Gedanken-, Presse-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit. Diese Freiheiten durften jedoch nicht missbraucht werden, um „ungesetzlichen Zielen“ nachzugehen oder das Zusammenleben zu stören. „Der Staat erkennt das Eigentum nicht als absolute Verfügungsgewalt der Person über die Dinge an, sondern betrachtet das Eigentum als die nützlichste der gesellschaftlichen Funktionen. Kein Eigentum kann einer Person vorbehalten sein, als ob es ein Teil ihres Körpers wäre, und es kann nicht rechtens sein, dass ein fauler Eigentümer das Eigentum ungenutzt lässt oder ohne Beteiligung anderer schlecht darüber verfügt. Der einzige Rechtstitel auf Verfügung über Instrumente der Produktion und des Handels ist die Arbeit. Allein der Arbeit kommt die Herrschaft über die Dinge zu, die durch sie so fruchtbar und so profitabel wie möglich für die allgemeine Wirtschaft werden.“ Hafen- und Eisenbahnanlagen wurden verstaatlicht.
Der neue Staat basierte auf den drei Säulen Bürger, Zünfte und Kommunen. Geächtete, Kriegsdienstverweigerer, säumige Steuerzahler und Müßiggänger besaßen keine politischen Rechte. Alle Bürger waren verpflichtet, einer der 10 Zünfte anzugehören: Arbeiter, Technik und Organisation, Angestellte, Arbeitgeber, Staatsbedienstete, Intellektuelle, Freiberufler, Leiter der industriellen und agrarischen Kooperativen sowie Seeleute. Die 10. und letzte Zunft hatte weder Zahl noch Namen. Sie war dem „unbekannten Genius, dem Erscheinen des gänzlich neuen Menschen“ geweiht. Für diese mythische Zunft brannte im Bürger-Heiligtum der Stadt eine ewige Lampe. Jede Zunft war Körperschaft des öffentlichen Rechtes. Sie wählte ihre Konsuln und drückte ihren Willen in Versammlungen aus. Durch Autonomie für Verträge, Verordnungen und Gewohnheitsrechte war die Selbstverwaltung sichergestellt, zudem erfolgte eine Selbstfinanzierung durch Besteuerung der Mitglieder. Die Zunft vertrat die Interessen ihrer Angehörigen und sollte sich bemühen, deren Ansehen zu mehren. Mit gegenseitiger Hilfeleistung und Fürsorge für Kranke und Behinderte oblagen ihr auch sozialpolitische Funktionen. Jede Zunft sollte aus ihren Reihen Abgeordnete für den Rat der Beauftragten wählen.
Die Gemeinden verwalteten sich selbst, sofern die Angelegenheiten nicht der Regentschaft vorbehalten waren, die auch die Gemeindestatuten bestätigte. Als Volksvertretung fungierte ein Zweikammerparlament, bestehend aus dem Rat der Besten und dem Rat der Beauftragten. Der Rat der Besten sollte allgemein, direkt und geheim gewählt werden und amtierte für 3 Jahre. Je 1000 Wähler bestimmten einen Abgeordneten, allerdings war eine Obergrenze von 30 Mandatsträgern vorgesehen. Beim Bestenrat lag die ausführende und gesetzgeberische Gewalt für Rechtswesen, Verteidigung, Bildung, Kultur und Beziehungen zwischen Staat und Gemeinden. Der Rat der Beauftragten als zweite Kammer bestand aus 60 von den Zünften gewählten Abgeordneten. Er amtierte für 2 Jahre und trat zweimal jährlich im Mai und im November zusammen. Ihm oblag die ausführende und gesetzgeberische Gewalt für alle Fragen von Handel, Technik und Wirtschaft. Beide Kammern tagten im Dezember gemeinsam als Nationalrat. Dieser sollte auf seinen Sitzungen Außenpolitik, Finanzen und Staatseigentum, Hochschulpolitik, Verfassungsfragen und die „Erweiterung der Freiheit“ behandeln.
Die Exekutive bestand aus 7 aus der Nationalversammlung und den beiden Kammern heraus gewählten Rektoren. Der Nationalrat wählte den Rektor für Außenpolitik als primus inter pares sowie die Rektoren für Finanzen und Erziehung, während der Rat der Besten die Rektoren für Innenpolitik/Recht und Verteidigung bestimmte und der Rat der Beauftragten die Ressorts für öffentliche Wirtschaft und Arbeit besetzte. In Notlagen konnte der Nationalrat einen Comandante berufen und ihm die oberste Befehlsgewalt übertragen. Vorbild war hier die auf ein halbes Jahr begrenzte römische Diktatur. Der Comandante erhielt alle politischen, militärischen, legislativen und exekutiven Gewalten, die Rektoren sollten ihm als Sekretäre und Kommissare zuarbeiten. Am Ende der Herrschaftsperiode entschied der Nationalrat über die weitere Zukunft des Diktators: Bestätigung, Ablösung, Absetzung oder Verbannung.
Vom Feuer verzehrt
Der lyrische Rausch und die widersprüchliche Utopie endeten in Schmach und Niederlage. Gabriele d´Annunzio suchte nun ausgebrannt die Einsamkeit und zog sich bald in die Villa Il Vittoriale am Gardasee zurück. Hier arbeitete er an der Stilisierung seines Lebenswerkes und isolierte sich selbst von den entscheidenden Machtkämpfen innerhalb der faschistischen Bewegung. Der Preis seiner Unsterblichkeit war die vollständige Verausgabung. Das Erbe des Fiume-Abenteuers und der Philosophie des Übermenschen trat der erstarkende Faschismus an, der Arditismo, Futurismus und Nationalsyndikalismus aufsaugen konnte und die Symboliken aus Fiume adaptierte. Ebenfalls übernommen wurde der Erlösungsglaube: Die faschistische Propaganda stilisierte Mussolini zum „Salvatore“. Die Bedeutung Fiumes und d´Annunzios für die Entwicklung des Faschismus kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er half wesentlich dabei mit, den Risorgimento-Nationalismus des 19. Jahrhunderts in eine moderne Gegenbewegung zum althergebrachten bürgerlichen Staat und zur bürgerlichen Gesellschaft zu transformieren. Mussolini übernahm den Aktivismus des Comandante: "Wir Faschisten haben keine vorgefaßte Meinung, unsere Doktrin ist die Tat." Mussolini wollte jedoch selbst alleiniger Führer sein und sah in dem propagandistisch und rhetorisch mindestens ebenbürtig begabten d´Annunzio einen gefährlichen Rivalen.
Ein öffentlichkeitswirksamer Besuch des nunmehrigen Duce im Vittoriale im April 1921 sollte den Anhängern des Comandante und nationalistischen Rivalen demonstrieren, dass Mussolini gute Beziehungen zu d´Annunzio unterhalte. Dieser entwickelte sich jedoch zum Gegner der von Mussolini geplanten Entmachtung der Gewerkschaften, unterhielt gar Kontakte zu sowjetischen Diplomaten und scheint mit dem kommunistischen Parteitheoretiker Antonio Gramsci zusammengetroffen zu sein. Er attackierte den Duce wegen seiner Kumpanei mit dem ländlichen Großgrundbesitz öffentlich als "Agrarversklaver". Mussolini befürchtete phasenweise die Bildung einer breiten antifaschistischen Einheitsfront unter Einschluss der Nationalsyndikalisten - dies sollte einer der Impulse für den Marsch auf Rom sein. Selbst nach der Machtergreifung des Faschismus handelte der in Italien weilende Ernest Hemingway d´Annunzio als kommenden Oppositionsführer. Man sollte sich jedoch hüten, Gabriele d´Annunzio als den Sozialisten oder Kommunisten nahe stehend anzusehen, sondern ihn eher als einen Linksfaschisten, als einen der Intransigenti, einordnen.
Am 11. Oktober 1922 handelten Mussolini und d´Annunzio im Vittoriale ein etwas merkwürdig anmutendes Abkommen aus. Der sich auf den Marsch auf Rom vorbereitende Faschistenführer vergewisserte sich, dass der Comandante in Falle einer Machtergreifung stillhalten werde. D´Annunzios Preis bestand in einer Garantie für die Unabhängigkeit der Seeleutegewerkschaft. Nach Mussolinis Marsch auf Rom am 28. Oktober 1922 stellte Mussolini klar, wer die Nummer Eins war. Fortan sprach er seinen Rivalen nur noch als Dichter an und ermahnte ihn: "Schreibe mir, aber nicht von Politik". Gabriele d´Annunzio zog sich nun vollends zurück. Er ließ sich vom faschistischen Staat feiern und aushalten und gestaltete das Vittoriale zum Museum seines eigenen Lebens aus. Neben die beinahe manische Sammlung von Erinnerungsstücken trat der Aufbau einer Bibliothek mit 33.000 Bänden. Der vom Feuer Fiumes verzehrte Comandante konzentrierte sich auf die Strukturierung seiner Prosa; er verfasste keine neuen Werke mehr. Seine mindestens auf den Weltkrieg zurückzuführende Abhängigkeit von der Fliegerdroge Kokain ruinierte ihn unaufhaltsam. "Das Leben ist schneller, mächtiger und gerader als die Politik, und die Tat ist nicht die Schwester des Traums und nicht mal die des Gedankens. Agieren heißt immer die Niedrigkeit der Lage gegenüber dem Ideal zu akzeptieren. Ich stelle nichts, nicht einmal das Vaterland, über die Kunst." Zu Weihnachten 1923 vermachte d´Annunzio das Vittoriale dem italienischen Staat und dem italienischen Volk. "Nicht nur ein jedes von mir eingerichtetes Haus, sondern ein jeder in den verschiedensten Lebensperioden vor mir gesammelter Gegenstand war für mich stets eine Form, mich auszudrücken und geistig zu offenbaren...genauso wie jede meiner politischen und militärischen Handlungen, wie jedes meiner Gedichte, meiner Dramen, wie jede Kundgebung meines unbesiegten Glaubens. Deshalb wage ich es, dem italienischen Volke das anzubieten, was mir noch bleibt...als nackte Erbschaft eines unsterblichen Geistes."
Das faschistische Italien revanchierte sich mit manchen Ehren für den Comandante. Am Tage der Annexion Fiumes, am 15. März 1924, wurde er auf Vorschlag Mussolinis zum Prinzen von Montevenoso ernannt. Der Duce erkannte öffentlich an, dass Italien den Gewinn der Adriastadt dem Einsatz d´Annunzios verdankte. Im Rahmen eines Staatsbesuches im Vittoriale ließ Mussolini den musealen Komplex am 25. Mai 1925 zum italienischen Nationaldenkmal erklären. Mit Unterstützung des Kultusministeriums und unter Schirmherrschaft des Königs von Italien entstand im Jahr darauf ein Nationalinstitut für die Herausgabe der gesammelten Werke Gabriele d´Annunzios. Vorgesehen waren 44 Bände, es sollten am Ende 49 sein. 1929 wurde der Dichter-Soldat in die neugegründete Akademie Italiens berufen, übrigens zusammen mit Marinetti. Als Ende des gleichen Jahres der irrlichternde Gefährte Guido Keller, kurz vor der Auswanderung nach Lateinamerika stehend, bei einem Autounfall starb, ließ d´Annunzio ihn auf dem Heldenhügel des Vittoriale beisetzen.
Der Dichter alterte nun rasch, die Malaria und die Kokainsucht plagten ihn. "Meine wirkliche Krankheit ist das Alter, dass ich mich allmählich sterben fühle. Mein Gott, und das bei soviel Überdruss am Leben!" Die allmähliche Annäherung des faschistischen Italien an Hitlerdeutschland Mitte der 30er Jahre war ihm suspekt, er schmähte Hitler als „Flachpinselattila“ und warnte den Duce. „Ich weiß, dass Du...dabei bist den Strolch Adolf Hitler selbstbewusst zurückzuweisen; diesen Mann mit seinem verschwiemelten Pöbelsgesicht unter dieser nicht mehr abwaschbaren Tünche von Kalk und Leim, in die er den Pinsel eingetaucht hatte; nein, sagen wir die Quaste, dort oben am Stielende, an der Rute, die ihm, dem grausamen Bajazzo, zum Zepter dient. Ihm reicht die Pinsellocke bis herab zur Wurzel seiner Nazi-Nase." Die „Achse Berlin-Rom“ kommentierte er mit den Worten: "Das bedeutet unvermeidlich Ruin." Bei aller Kritik an innen- wie außenpolitischen Fehlentwicklungen des Regimes sympathisierte d´Annunzio doch mit dessen imperialistischen Zielsetzungen. Die Eroberung Abessiniens feierte er 1936 als Tat zur Erlösung Italiens. In einem seiner letzten Briefe an Mussolini vom 16. Januar 1938 zeigte er Genugtuung über die Waffentaten der Italiener im Spanischen Bürgerkrieg. Die Erfolge des Duce hätten selbst seine prophetischen Vorstellungen übertroffen; der Ausbreitung des Imperiums seien nun keine Grenzen mehr gesetzt.
Am 1. März 1938 starb Gabriele d´Annunzio im Vittoriale, an seinem Schreibtisch sitzend. Gefunden wurde er von einem Hausangestellten: "Der Comandante, im braunen Schlafanzug, wurde von seinem Sessel auf das Bett getragen. Sein Kopf sank nach hinten, seine Arme hingen schlaff herab. Der Comandante, stellen Sie sich vor, der Comandante sah wie eine Marionette aus!"
Literatur:
Chiantera-Stutte, Patricia:
Von der Avantgarde zum Traditionalismus. Die revolutionären Futuristen
im italienischen Faschismus von 1919 bis 1931, Frankfurt/Main 2002
D`Annunzio, Gabriele: Das Feuer, Berlin 1990
D`Annunzio, Gabriele: Der Triumph des Todes, Berlin 1899
D`Annunzio, Gabriele: Der Unschuldige, Lüneburg 1988
D`Annunzio, Gabriele: Lust, Zürich 1994
D`Annunzio, Gabriele: Vielleicht - vielleicht auch nicht, München
1989
Demetz, Peter: Die Flugschau von Brescia. Kafka, d´Annunzio und die
Männer, die vom Himmel fielen, Wien 2002
Ganzetti, Maria: Gabriele d`Annunzio, Reinbek bei Hamburg (2.) 1995
Gumbrecht, Hans Ulrich u.a. (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant. D´Annunzio
erobert Fiume, München 1996
Harrison, Thomas (Hrsg.): Nietzsche in Italy, Saratoga 1988
Ledeem, Michael A.: D´Annunzio. The First Duce, New Brunswick (2.)
2002
Nolte, Ernst: Nietzsche und der Nietzscheanismus, Frankfurt/Main, Berlin
1990
Schmidt-Bergmann, Hansgeorg: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente,
Hamburg 1993
Sternhell, Zeev: Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel
zu Mussolini, Hamburg 1999
Weber, Tobias: Gabriele d´Annunzio und sein Übermensch Stelio
Effrena: Die Selbstdarstellung als Superuomo im Roman „Il fuoco“,
Saarbrücken (Hausarbeit) 2000