Wochenschau

 

Die politische Wochenschau

 

vom 25. Juni bis 1. Juli 2005

Schlagzeilen der Woche   zusammengestellt von Christian Klee  

 
Klimawandel erfasst den Mittelmeerraum
Parlamentswahlen in Bulgarien Italien: Gladio reloaded
Villepin wertet Front National auf Karlsruhe: „Junge Freiheit“ gewinnt gegen VS
Italienischer Haftbefehl gegen CIA-Agenten Gewaltwelle in Nordirland
Regionalwahlen in Galicien Rumsfeld: Irak-Einsatz bis 2017?
SPD verliert prominente Mitglieder Todesschwadronen im Zweistromland
Konzentrationsprozess auf Hochtouren Guerrillakrieg in Kurdistan
Keine Entwarnung auf dem Arbeitsmarkt PKK-Funktionär im Hungerstreik
US-Desaster in Afghanistan Die Entzivilisierung des Kapitalismus
Illegale IP-Vorratsdatenspeicherung  


Zitat der Woche:
"Erst, wenn das deutsche Volk sich von seinen kapitalistischen Ketten befreit, kann es Deutschland von seinen Ketten befreien, kann ein freies Deutschland dem freien deutschen Volk gehören! Die KPD/ML ruft das deutsche Volk dazu auf und führt es dabei an, zum ersten Mal in seiner Jahrhunderte langen Geschichte von Unterdrückung, Ausbeutung und Kriegen selber von seinem Deutschland, dass nur ihm und sonst keinem auf der Welt gehört, endlich Besitz zu ergreifen ! Nur ein wieder aufblühendes deutsches Volk kann Deutschland wieder aufblühen lassen! In einem kapitalistischen Deutschland aber ist das deutsche Volk zum Dahinsiechen verdammt, kann es dem deutschen Volk nicht dienen! Wenn aber kein kapitalistisches Deutschland, wie soll denn das Deutschland ohne Kapitalisten aussehen? Welches Deutschland braucht das deutsche Volk denn, um sich die Kapitalisten ein für allemal vom Halse zu schaffen und vor allem vom Halse zu halten? Genossinnen und Genossen der KPD/ML, ihr wisst sehr gut, welches Deutschland das ist, aber weiß es auch das deutsche Volk? Wenn ihr es dem deutschen Volk nicht sagt, wer soll es ihm denn sonst sagen? Das deutsche Volk braucht ein sozialistisches Deutschland, um sich aus seiner elenden Lage zu befreien!"
- Wolfgang Eggers, KPD/ML, Herbst 2004


Die 2. Runde der iranischen Präsidentschaftswahlen entschied unerwartet deutlich der Hardliner Mahmud Ahmadinejad, seines Zeichens Bürgermeister von Teheran, für sich. Mit fast 62 % der Stimmen verwies er seinen gemäßigt konservativen Rivalen Akhbar Hashemi Rafsanjani auf den zweiten Platz. Ahmadinejads Sieg wurde im Westen und bei iranischen Reformen mit Bestürzung aufgenommen. Auch der korrupten Führungsschicht der Islamischen Republik dürfte der Wahlausgang nicht ganz genehm sein, da der neue Mann im Wahlkampf ankündigte, gründlich mit Misswirtschaft, ökonomischer Liberalisierung und sozialer Ungerechtigkeit aufzuräumen. Das designierte neue Staatsoberhaupt erklärte, man werde eine „Regierung der Veränderung und der Gerechtigkeit“ bilden. Trotz steigender Öleinnahmen leidet das Land unter einer Arbeitslosigkeit von offiziell 30 % und einer galoppierenden Inflation. Mit Ahmadinejad hat der Iran erstmals seit 23 Jahren ein Staatsoberhaupt, das nicht aus den Reihen der schiitischen Geistlichkeit kommt. Allerdings fungierte er in den 90er Jahren als Kommandeur der paramilitärischen Revolutionswächter. Rund 40 % der Wähler stimmten mit den Füßen ab, nämlich gar nicht: Sie blieben zuhause. Neben den USA und Großbritannien kritisierte auch die Bundesregierung den Wahlausgang, signalisierte jedoch bereits in Richtung Teheran, dass die EU auch weiterhin an einer Verhandlungslösung des Atomstreits mit dem Iran interessiert sei. In diesem will der neue Mann in Teheran allerdings aus einer Position der Stärke verhandeln, vor allem ist er explizit an einer Verbesserung des Verhältnisses zu den USA desinteressiert. Russlands Präsident Putin hingegen kündigte an, man werde die nukleare Zusammenarbeit mit dem Iran fortsetzen und gratulierte Ahmadinejad zum Wahlsieg. Für Unruhe im Westen dürfte vor allem die Ankündigung des Wahlsiegers sein, sämtliche Verträge mit ausländischen Ölkonzernen zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu verhandeln. In den USA stieg der Ölpreis erstmals über 60 Dollar je Barrel.

 

Mit 31,2 % der Stimmen hat die Sozialistische Partei (BSP), die mit anderen Parteien in der „Koalition für Bulgarien" angetreten war, bei den Parlamentswahlen ihren Stimmenanteil gegenüber 2001 verdoppelt. Auf Platz zwei landete mit 19,9 % % die Nationale Bewegung Simeon II. (NDSW) des Regierungschefs und Ex-Monarchen Simeon Sakskoburggotski, die die Hälfte ihrer Wähler verlor. Dritte Kraft wurde Simeons bisheriger Koalitionspartner, die Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS). Mit 12,5 % gewann diese Vertretung der türkischen Minderheit 5 Prozentpunkte hinzu. Die Überraschung der Wahlen ist die neue Gruppierung Ataka. Die rechtsradikale Protestpartei, die mit Parolen wie „Türken und Roma raus!" geworben sowie den Austritt aus der NATO und Nachverhandlungen des EU-Beitrittsvertrages gefordert hatte, kam aus dem Stand auf 8,2 % und ist viertstärkste Partei. Auch drei Parteien bzw. Bündnisse der zersplitterten konservativen Rechten schafften den Sprung ins Parlament: Union der Demokratischen Kräfte 7,8 %, Demokraten für ein starkes Bulgarien 6,5 % und Bulgarischer Nationalbund 5,2 %. Die BSP wird wohl in jedem Fall mit der türkischen Partei koalieren, vielleicht verbreitert sie die Regierung auch um die Nationale Bewegung. Ataka-Chef Wolen Siderow kündigte derweil an: „400.000 Menschen haben uns gewählt, das sind keine Faschisten, sondern ehrenwerte Patrioten. Wir werden im Parlament die nationalen bulgarischen Interessen vertreten.“ Privat ist Siderow, ehemaliges Mitglied der Union der Demokratischen Kräfte, wohl als großbulgarischer Nationalist einzustufen, in der öffentlichen Politik verfolgt er eine relativ zurückhaltende Linie und ist um Distanz zu Faschismus und Nationalsozialismus bemüht.

 

Zum ersten Mal seit 1993 empfing ein französischer Premierminister Vertreter des Front National zur politischen Aussprache an seinem Amtssitz Hotel Matignon in Paris. Premier Dominique de Villepin (UMP) begrüßte die Chefs sämtlicher politischer Parteien zu einer Aussprache nach der Ablehnung des europäischen Grundgesetzes durch die Franzosen. Die Verfassung war im Rahmen einer Volksabstimmung am 29. Mai von knapp 56 % der Wähler abgelehnt worden. Heftige Kritik löste der Empfang bei Vertretern der Linksopposition aus. Der ehemalige sozialistische Finanzminister Dominique Strauss-Kahn warf de Villepin wie Innenminister und UMP-Chef Nicolas Sarkozy eine „Strategie der Annäherung an die rechtsextreme Wählerschaft" vor. Sarkozy bezeichnete die Einladung der rechtsextremen Partei Jean-Marie Le Pens als „durchaus normal". „Der Premierminister hat entschlossen, alle politischen Kräfte einzuladen, die in der Nationalversammlung, im Senat oder im Europaparlament vertreten sind. Gibt es einen Grund, vom französischen Volks gewählte Vertreter abzulehnen? Wenn man beschließt, die gewählten Vertreter zu empfangen, dann empfängt man sie alle und nicht nur jene, die einem gefallen." Sarkozy hatte als Innenminister bereits im Jahr 2003 Vertreter der FN zu Beratungen über die Reform des Regionalwahlgesetzes empfangen. Im Jahr 1993 hatte der damalige Premier Edouard Balladur (RPR, nunmehr UMP) Jean-Marie Le Pen im Hotel Matignon empfangen. Dagegen hat Präsident Jacques Chirac (UMP) den Front National stets von allen Aussprachen ausgeschlossen. Chirac war stets ein Verfechter der „republikanischen Front", wonach linke und konservative Parteien gemeinsam jeden Kontakt mit der FN verwehren.

 

Auf die in letzter Zeit arg strapazierten italienisch-amerikanischen Beziehungen kommt neues Ungemach zu. Der Mailänder Richter Chiara Nobili stellte Haftbefehle gegen 13 Angehörige des US-Auslandsgeheimdienstes CIA aus. Die Beteiligten hatten im Februar 2003 einen angeblichen islamischen Extremisten in Mailand gekidnappt und ins Ausland verschleppt. Entführt wurde der Exil-Ägypter Osama Mustafa Nasr, den man zwecks Folterung umgehend an die ägyptischen Sicherheitsorgane übergab. Beteiligt an der illegalen Aktion war auch US-Militärpersonal von den Luftwaffenstützpunkten Aviano in Norditalien und Ramstein in der BRD. Mit der Entführung verletzten die Amerikaner die nationale Souveränität Italiens und behinderten darüber hinaus die Ermittlungen der italienischen Geheimdienste. Eine parlamentarische Kontrollkommission soll prüfen, ob und inwieweit italienische Dienste von der Entführung wussten. Dazu sollen auch Innenminister Giuseppe Pisanu und Verteidigungsminister Antonio Martino gehört werden. Ministerpräsident Berlusconi bestellte den amerikanischen Botschafter Sembler ein und verlieh seiner Missbilligung eindeutigen Ausdruck. Offenbar fühlten die US-Geheimdienstler sich etwas zu sicher, denn sie operierten ohne jegliche Vorsichtsmaßnahmen (Klarnamen, Mobilfunktelefone). Derartige Entführungsaktionen werden von den USA seit Mitte der 90er Jahre praktiziert, alleine seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 verschleppten die Amerikaner rund 100 ausländische Staatsangehörige in Foltergefängnisse „befreundeter“ Staaten oder auf die offenbar vor Diego Garcia im Indischen Ozean kreuzenden illegalen Gefängnisschiffe. Mit Nobili hat sich erstmals ein Richter eines mit den USA verbündeten Landes gegen die Vorgehensweise der CIA gewandt. Allerdings haben alle Beschuldigten, die übrigens offiziell als Konsularpersonal tätig waren, bereits Italien verlassen. Ihnen folgt nun ein internationaler Haftbefehl. Ähnliche Untersuchungen wie in Italien laufen bereits in Kanada, Schweden und der BRD. Die italienischen Haftbefehle stehen im starken Kontrast zum Vorgehen der bundesdeutschen Behörden: Im Fall der Entführung des BRD-Staatsbürgers Khaled el Masri Ende 2003 durch CIA-Mitarbeiter nach Afghanistan strebte die Münchner Staatsanwaltschaft zwar intensiv nach Aufklärung. Doch die Bundesregierung war bisher bemüht, den Fall unter den Teppich zu kehren, um die Beziehungen zu Washington nicht erneut zu belasten. Die Amerikaner, heißt es inzwischen, hätten das Kidnapping eingeräumt, weil man el Masri mit einem namensgleichen Terrorverdächtigen verwechselt habe. Immerhin bequemte sich das Bundesjustizministerium nunmehr, ein Rechtshilfeersuchen an die USA weiterzuleiten.

 

Nach langem Warten auf die Stimmen der vor allem in Ibero-Amerika lebenden Auslandswähler (300.000, übrigens ist Fidel Castro ein Nachkomme von galicischen Auswanderern) steht das Ergebnis der Regionalwahlen im spanischen Galicien fest. Mit Ministerpräsident Manuel Fraga Iribarne verschwindet das letzte Überbleibsel des Franco-Regimes aus einer Regierungsfunktion. Frage Iribarne begann seine Karriere unter dem Caudillo als Tourismus- und Innenminister. Die hier als besonders rechtsgerichtet geltende konservative Volkspartei fiel angesichts eines weit verbreiteten Unmuts über Iribarnes Regierungsstil von 52 auf 44,9 % der Stimmen zurück und stellt nunmehr nur noch 37 Abgeordnete – die seit 16 Jahren behauptete absolute Mehrheit ist verloren. Die Sozialisten legten stark zu und verbesserten sich auf 32,5 % (+ 11,7 Prozentpunkte) und 25 Mandate (+ 7). Der Bloque Nacionalista Gallego, die galicische Regionalpartei, behauptete zwar seinen Stimmenanteil bei knapp 20 %, verlor aber 4 Sitze und ist nur noch mit 13 Abgeordneten im Regionalparlament vertreten. Derzeit befindet sich der BNG wegen interner Querelen in einem angeschlagenen Zustand, selbst den eigenen Spitzenkandidaten warf man kurz vor Bekanntgabe des Wahltermins aus der Partei. Der neue Parteichef Anxo Quintana ist alles andere als unumstritten, daher gaben viele Wähler lieber den Sozialisten ihre Stimme. Die kommunistische Vereinigte Linke setzte die Serie ihrer Wahlniederlagen fort und blieb mit 0,8 % und 12.000 Stimmen bedeutungslos. Neuer Regierungschef Galiciens dürfte der Sozialist Emilio Pérez Tourino werden, der sich auf eine Koalition mit dem BNG stützen kann. Damit haben die spanischen Konservativen innerhalb der 15 Monate nach Amtsantritt ihres neuen Parteichef Mariano Rajoy bereits die vierte Wahl verloren: Parlamentswahlen, Europawahlen sowie die Regionalwahlen im Baskenland und in Galicien. Galicien ist eine von drei spanischen Regionen mit besonderem Autonomiestatut. Die separatistischen Tendenzen sind in der Region nördlich von Portugal aber weniger stark ausgeprägt als im Baskenland oder Katalonien. Die Galicier sprechen eine eigene Sprache, die eng mit dem Portugiesischen verwandt ist. Die von 2,5 Millionen Menschen bewohnte Region galt im Mittelalter als Ende der Welt („Finisterre"), wegen der ärmlichen Lebensumstände und ihrer exponierten Lage brachte Galicien viele Seefahrer und Emigranten hervor.

 

Mit dem ehemaligen baden-württembergischen Landesvorsitzenden Ulrich Maurer ist ein weiterer prominenter Sozialdemokrat der Linkspartei WASG beigetreten. Oskar Lafontaine freute sich: „Der Entschluss in die WASG einzutreten ist ein Gewinn. Ein wirklicher Politikwechsel ist nur mit der WASG und der neuen Linkspartei möglich." Das sieht die SPD naturgemäß anders. So bezeichnete der SPD-Fraktionsvorsitzende im baden-württembergischen Landtag, Wolfgang Drexler, Maurers Austritt in einer Pressemitteilung als „im höchsten Maße bedauerlich und zugleich enttäuschend". Drexler weiter: „Das Austrittsschreiben Maurers ist geprägt von einem unerträglich selbstgerechten Tonfall, der in weiten Teilen unter die Gürtellinie geht. Da rechnet einer ab, in dem sich viel Bitterkeit angestaut hat." Maurer hatte in einem offenen Brief Ende Mai die SPD zur Umkehr aufgerufen: „Wenn die SPD überleben will, muss sie umkehren und der Beginn von Umkehr ist die ehrliche Bilanz und die Abwahl derer, die eine ganze Partei dem Denken des Neoliberalismus und der uniformierten Meinung des größten Teils der Medienindustrie unterworfen haben, weil man ja wie Gerhard Schröder so treffend bemerkte, zum Regieren nur Bild und die Glotze braucht." Da Maurer sein Landtagsmandat nicht zurückgibt, ist die WASG somit erstmals in einem Länderparlament vertreten. Der Renegat erklärte, er werde den diesbezüglichen Aufforderungen der SPD nicht nachkommen: „Ich vertrete noch immer die Programmatik und Überzeugungen, für die ich gewählt worden bin. Wenn die SPD ihre Inhalte geändert hat, ist das nicht mein Problem." Maurer zeigte sich überzeugt, mit dem neuen Linksbündnis die richtige Wahl zu treffen: „Ich glaube, dass die neue Linkspartei die einzige Chance ist, den Durchmarsch von Neoliberal und Schwarz-Gelb in Deutschland noch zu verhindern.“ In seinem Abschiedsbrief an den SPD-Landesverband schießt Ulrich Maurer noch einmal scharf gegen die Partei, die er mehr als drei Jahrzehnte lang mitgeprägt hat. Die SPD befinde sich in einem Deformationsprozess. Bundeskanzler Gerhard Schröder habe einen „Putsch von oben" inszeniert, bei dem die einfachen „Parteimitglieder in die Rolle einer auf Kommando applaudierenden Veranstaltungskulisse" gedrängt würden. Auch der Vorsitzende der „Türkischen Gemeinde in Deutschland“, Hakki Keskin, erklärte gestern Parteiaustritt. „Ich kann mich seit Jahren mit der Politik der SPD nicht mehr identifizieren", teilte der ehemalige Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete mit. Es habe nichts mehr mit Glaubwürdigkeit zu tun, wenn die SPD jüngst noch die Unternehmenssteuern senken wollte und dann „aus wahltaktischen Gründen" eine Millionärssteuer vorschlage. Keskin wird auf einer Offenen Liste der PDS kandidieren.

 

Der Konzentrationsprozess in der bundesdeutschen Wirtschaft läuft auf Hochtouren: Im ersten Halbjahr 2005 hat das Volumen von Fusionen und Übernahmen in der BRD den höchsten Stand seit 5 Jahren erreicht. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum verdoppelte sich das Volumen aller Transaktionen mit bundesdeutscher Beteiligung auf 98,6 Milliarden Dollar. Gestiegen ist nur die Summe der Transaktionen, die Zahl der Übernahmen und Fusionen blieb jedoch stabil. Der größte Zusammenschluss war die Übernahme der Hypo-Vereinsbank durch den italienischen Finanzriesen Unicredit, Volumen 18 Milliarden Dollar. Auf den weiteren Plätzen folgt der Verkauf von Heidelberg Cement an Spohn Cement und die Veräußerung der Eon-Immobilientochter Viterra an die Deutsche Annington Immobilien. Dominierend ist die Übernahme bundesdeutscher Firmen oder Firmenteile durch ausländische Investoren, aber auch BRD-Unternehmen werden auf diesem Sektor im Ausland zusehends aktiver. Den Löwenanteil der Transaktionen wickelte die amerikanische Citigroup ab, welche die Deutsche Bank auf den zweiten Rang verdrängte. Dem „Welt“-Jahresranking „Deutschlands Große 500“ zufolge stieg der Nettoumsatz der größten bundesdeutschen Konzerne um 5,8 %. Spitzenreiter ist DaimerChrysler mit einem Jahresumsatz von 142,1 Milliarden Euro, gefolgt von Volkswagen mit 89 Milliarden Euro, Siemens mit 75,2 Milliarden Euro und der Deutschen Telekom mit 57,9 Milliarden Euro. In punkto erwirtschafteten Reingewinns führt die Telekom mit 4,9 Milliarden Euro, danach kommen Eon mit 4,3 Milliarden Euro und Vodafone mit 3,9 Milliarden Euro. Die Großkonzerne haben sich demnach von ihrer Wachstumsflaute der Jahre 2002 (0,6 %) und 2003 (0,5 %) erholt. Auf dem Arbeitsmarkt macht sich das allerdings nicht bemerkbar, bei 5,8 % Umsatzwachstum stieg die Zahl der Beschäftigten nur um 0,5 %.

 

Die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen in der BRD ist im Juni auf 4,704 Millionen gesunken. Gegenüber dem Mai 2005 ging die Erwerbslosenzahl um 103.000 zurück – der stärkste Rückgang seit 5 Jahren. Allerdings sind noch immer 471.000 Arbeitslose mehr registriert als im Vorjahresmonat. Außerdem fehlen in den Nürnberger Statistiken weiterhin 78.000 von den Optionskommunen betreute Erwerbslose. Von einer Trendwende zu sprechen, wäre geradezu absurd: Trotz Ausbildungspakt ging die Zahl der gemeldeten Lehrstellen gegenüber dem Vorjahr um knapp 10 % zurück. Die Zahl der Bewerber sank nur um 1,4 %. Dadurch erhöhte sich die Lehrstellenlücke zwischen angebotenen Ausbildungsplätzen und Bewerbern auf 183.500. Viele Erwerbslose landen in Maßnahmen und in Billgjobs – es gab im Juni 2005 333.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze weniger als im Vergleichsmonat des Jahres 2004. Die Zahl der Ein-Euro-Jobs ist derweil auf 240.000 gestiegen. Deutlich verschlechtert hat sich die Situation auf dem Lehrstellenmarkt. Mit Billigjobs ist den Betroffenen wenig geholfen, wie die Lohnentwicklung zeigt. Im 1. Quartal 2005 stiegen laut Statistischem Bundesamt die tariflichen Monatslöhne und Gehälter gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 1,4 %. Demgegenüber nahmen Verbraucherpreise um 1,7 % zu – die Lohnentwicklung bleibt also weiterhin hinter der Preissteigerung zurück. Im Klartext: Die Reallöhne sind weiter rückläufig. Noch mehr verschärft wird diese Tendenz durch eine im Gespräch befindliche Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 18 %: Diese würde die Steigerung der Verbraucherpreise um 0,9 % erhöhen, was beispielsweise für den Juni 2005 einer Zunahme von 2,8 % entsprechen würde.

 

Bereits seit der Vorwoche toben in Afghanistan heftige Gefechte zwischen Taliban-Verbänden und US-Besatzungstruppen. Der Schwerpunkt der Kampfhandlungen zwischen den aus der Luft unterstützten US-Verbänden und afghanischen Regierungstruppen auf der einen und Taliban-Kämpfern auf der anderen Seite lag in den Provinzen Zabul und Helmand. Bei Operationen im Raum Kandahar nahmen die Rebellen einige Dutzend Polizisten und Regierungsbeamte gefangen, 8 von ihnen wurden bereits hingerichtet. Insgesamt kamen bei den Gefechten seit Jahresbeginn ca. 400 Taliban und 30 Amerikaner ums Leben. Zu einem Desaster für die USA kam es in der Taliban-Hochburg Kunar. Hier sollten Bodentruppen und Angehörige der Eliteeinheit Navy-SEALs Taliban-Positionen nahe der Provinzhauptstadt Asadabad ausheben. Trafen die Amerikaner schon auf dem Boden auf heftige Gegenwehr, so gelang es der Verteidigung sogar, einem Großraumhubschrauber vom Typ Chinook abzuschießen. Die Bilanz für die Amerikaner beläuft sich auf 16 Tote, darunter wohl eine komplette Gruppe SEALs. Das Kommando sollte offenbar nach Überlebenden einer weiteren SEAL-Einheit suchen, die in der Region von den Taliban aufgerieben wurde (Verluste mindestens 4 Mann sowie 7 exekutierte einheimische Helfer). Bereits im April verloren die Besatzer 18 Soldaten, als ein Chinook in einen Sandsturm geriet und abstützte. Noch im Winter vergangenen Jahres bezeichneten die Amerikaner die Taliban-Verbände als fast vollständig aufgerieben – offenbar eine krasse Fehleinschätzung. Seit der Invasion Afghanistans durch Amerikaner, Briten und Bundeswehr im Oktober 2001 starben nach offiziellen Angaben 149 US-Soldaten, davon 54 seit Jahresbeginn. Im nordafghanischen Rustak ereignete sich bei der Räumung des Waffenlagers eines Bandenführers eine schwere Explosion. Bei der Verladung des Kriegsmaterials explodierten zwei bereit stehende Lastkraftwagen, wobei zwei Bundeswehrsoldaten und 6 afghanische Hilfskräfte den Tod fanden. Die offizielle Version lautet auf einen Unfall, während afghanische Quellen durchaus eine ferngezündete Bombe für möglich halten. Damit sind seit Beginn der Intervention im Jahre 2001 16 Bundeswehrsoldaten am Hindukusch umgekommen.

 

Das Amtsgericht Darmstadt hat die bisherige Praxis von T-Online, die IP-Adressen von Flatrate-Kunden 80 Tage lang zu speichern, für illegal erklärt. Anhand der IP-Adresse kann T-Online nachträglich Surfer identifizieren - etwa bei Ermittlungen gegen Dateitauscher. Spätestens als T-Online im Januar 2002 erstmals Tauschbörsennutzer per Post verwarnte, war klar, dass das Unternehmen die IP-Adressen seiner Flatrate-Kunden speichert. Wie sonst hätte der Provider herausfinden können, welcher Kunde zu einem bestimmten Zeitpunkt den Film „Shrek" in einer Tauschbörse angeboten hat? Die Filmindustrie hatte die IP-Adresse des Surfers protokolliert und T-Online um Unterstützung in dem Fall gebeten. Seitdem wissen Flatrate-Kunden, dass sie nicht wirklich anonym im Netz unterwegs sind. Die IP-Adresse, unter der sie Daten versenden und empfangen, enthält zwar keinerlei Informationen über sie - außer der, dass sie aus dem Adressbereich von T-Online stammt. Doch der Provider kann aus der Adresse und dem Zeitpunkt ihrer Verwendung zuordnen, wer die jeweilige IP genutzt hat. Über die Speicherung der IP-Daten hatten sich immer wieder Kunden beschwert. T-Online brauche die Daten ja gar nicht zu Abrechnungszwecken, argumentierten sie, denn bei einer Flatrate sei es egal, wann genau jemand mit welcher Adresse im Netz unterwegs sei. Die Speicherung verstoße somit gegen deutsche Datenschutzvorschriften. Die für T-Online zuständige Datenschutzaufsicht, das Darmstädter Regierungspräsidium, segnete die Speicherung im Januar 2003 nachträglich ab. Die IP-Nummer sei für die Fehlersicherheit der Datenverarbeitung und den Nachweis der Leistungserbringung erforderlich, argumentierte die Behörde. Sie ist nicht gerade für eine besonders strenge Auslegung der Datenschutzvorschriften bekannt. Erst vor wenigen Monaten hatte das Darmstädter Regierungspräsidium das umstrittene Verfahren zum Verkauf der Tickets für die Fußball-WM 2006 für zulässig erklärt. Interessenten mussten Namen, Anschrift, Geburtsdatum, Ausweis- und Kreditkartennummer offenbaren, um Karten bestellen zu können. Das AG Darmstadt hat die Speicherung von IP-Adressen durch T-Online jetzt für unzulässig erklärt. Geklagt hatte der 32-jährige Holger Voss aus Münster. Er sah die Speicherung der dynamischen IP-Adressen als unzulässige Überwachung an, die er nicht länger hinnehmen wollte. Voss war nach einer satirischen Forumsäußerung verklagt worden, seine Identität wurde über die benutzte T-Online-IP-Nummer ermittelt. In dem folgenden Prozess wurde er freigesprochen. Voss beschloss jedoch, gegen T-Online vorzugehen. Das Darmstädter Gericht folgte der Argumentation von T-Online nicht, dass die Speicherung der IP-Adressen für den technischen Betrieb sowie für Abrechnungszwecke erforderlich ist. Voss hatte darauf verwiesen, dass andere Internetanbieter auch ohne Speicherung dieser Daten arbeiten und abrechnen können. Das Gericht stufte die praktizierte Vorratsdatenspeicherung, bei der unabhängig von einem konkreten Anlass pauschal die Adressen aller Kunden und Kundinnen gespeichert werden, als nicht zulässig ein. Die schriftliche Urteilsbegründung steht noch aus. T-Online dürfte das Urteil kaum schmecken - ebenso nicht den Ermittlungsbehörden. Für den Datenschutz ist das Urteil ohne Zweifel ein Erfolg. Bleibt abzuwarten, ob es tatsächlich Bestand haben wird. T-Online dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit in die nächste Instanz ziehen. Und falls das Unternehmen auch dort verliert, könnte der Bundestag ja immer noch die Gesetze anpassen, so dass die Speicherung für zulässig erklärt wird.

 

Die gegenwärtige Trockenheit im Mittelmeerraum könnte nur ein erster Vorgeschmack auf künftige Sommer sein. Sollten die durchschnittlichen Temperaturen in dieser Region nur um zwei Grad Celsius steigen, würde aus dem Urlaubsparadies eine reichlich ungemütliche Gegend. Zu diesem Ergebnis kommt der WWF in einem Report, der im Vorfeld des anstehenden G8-Gipfels vorgestellt wurde. In dem Szenario werden die möglichen Folgen des Klimawandels im Mittelmeer skizziert. Ein Temperaturanstieg von wenigen Grad hätte bereits gravierende Auswirkungen: Die Menschen müssten sich auf Hitzewellen von mehr als sechs Wochen einstellen, in denen die Durchschnittstemperaturen über 35 Grad klettern. Die Gluthitze würde zu noch weniger Regen und zu Ernteausfällen von bis zu 40 % führen. Hinzu kämen Waldbrände und ein chronischer Wassermangel, worunter der Tourismus massiv zu leiden hätte. „Damit die einmaligen Naturlandschaften des Mittelmeeres nicht unter der sengenden Sonne verdorren, muss der Klimaschutz weltweit intensiviert werden", betonte Dr. Peter Prokosch, Geschäftsführer des WWF Deutschland. Bundeskanzler Gerhard Schröder könne hierzu einen wichtigen Beitrag leisten, indem er nächste Woche beim G8-Gipfel in Schottland eine starke Position vertrete. Die Bush-Administration versuche, das Problem nach wie vor zu ignorieren. „Jetzt sind die Europäer gefordert: Schröder, Chirac und Blair müssen dafür eintreten, dass der Gipfel ein konkretes Klimaschutzziel vorgibt", so Prokosch. Der WWF Report zeige, dass schon ein globaler Temperaturanstieg von zwei Grad zu viel sei. Lange könne man sich eine zögerliche Klimaschutzpolitik nicht leisten. Vom G8-Gipfel müsse ein deutliches Signal ausgehen, dass die Industriestaaten alles tun werden, um den Anstieg der Durchschnittstemperaturen auf unterhalb von zwei Grad zu begrenzen. Eine stärkere Erwärmung hätte gravierende Folgen. Der neue WWF-Report verdeutlicht, dass die klimatischen Veränderungen im Mittelmeerraum drastische wirtschaftliche Einbußen nach sich ziehen würden. Betroffen wäre neben der Landwirtschaft vor allem die Tourismusbranche. Sie müsste sich auf schmerzhafte Einbußen einstellen. Die Region ist nach wie erste Wahl, wenn es um die Wahl des Urlaubsortes geht. Rund 30 % der Touristen weltweit verbringen ihren Urlaub in den Anrainerländern des Mittelmeeres. Angesichts infernalischer Temperaturen und der Gefahr jederzeit von einem Waldbrand überrascht zu werden, dürfte vielen von ihnen die Lust auf ihren Strandurlaub vergehen.

 

Gladio reloaded: In Italien sind zwei hochrangige Polizeifunktionäre unter dem Verdacht festgenommen worden, eine Parallelpolizei gegründet zu haben. Die beiden Festgenommenen gaben sich als Leiter der „Abteilung für strategische Anti-Terror-Studien (DSSA)" zu erkennen, einer illegalen Struktur, die im März 2004 nach den Terroranschlägen in Madrid gegründet worden war und gezielt islamische Einrichtungen und Einwanderer überwacht. Die beiden Polizeifunktionäre werden von der Staatsanwaltschaft von Genua der Dokumentenfälschung sowie der Gründung einer illegalen Organisation zur widerrechtlichen Aneignung öffentlicher Ämter beschuldigt. Beide sind Aktivisten der rechtsextremen Szene und Mitglieder des „Nuovo Movimento Sociale - Destra Nazionale" (Nuovo MSI). In die Affäre verwickelt ist Parteigründer Dr. Gaetano Sava, der als mutmaßlicher DSSA-Chef nunmehr unter Hausarrest steht. Sava lernte sein Handwerk als Agent des italienischen Geheimdienstes SISDE und eben bei der angeblich aufgelösten NATO-Geheimorganisation Gladio. Insgesamt wird gegen 24 Beschuldigte wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Die Staatsanwaltschaft vermutet, dass die „parallele" Polizeistruktur versucht hat, falsche Anti-Terror-Dossiers an die CIA sowie an die israelischen Geheimdienste zu verkaufen, um Finanzierungen zu erhalten. Wohnungen von zirka 30 Personen mit Verbindungen zur Organisation wurden in verschiedenen italienischen Regionen durchsucht. Die DSSA wurde während der Ermittlungen anlässlich des Todes des im Irak erschossenen italienischen Söldners Fabrizio Quattrocchi entdeckt. Quattrocchi wurde offenbar von der illegalen Polizei- und Nachrichtendiensteinheit rekrutiert und in den Irak geschickt. Der Untergrundstruktur gehören bis zu 150 Militärs, Polizeibeamte, Carabineri und Grenzpolizisten an, darunter Personen, die in den 90ern mit dem aufgelösten CIA-nahen Netzwerk Gladio in Verbindung standen. Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft zufolge reichen die Kontakte der DSSA bis in hohe Ebenen des italienischen Innenministeriums. Der Fall Quattrocchi hat jedoch noch eine andere Dimension, über die wir bereits Mitte April 2004 berichteten und die darauf hinweist, dass geheimdienstlich-polizeiliche „stay behind“-Netzwerke westlicher Nachrichtendienste auch in der BRD weiterhin aktiv sind: „Mindestens Quattrocchi wurde durch die International Bodyguard and Security Services Association IBSSA, ein Personen- und Firmennetzwerk für Söldnereinsätze und Sicherheitsaufgaben, vermittelt. Die Rekrutierungsaktivität erfolgt im Auftrag von Sicherheits- und Kriegsunternehmern und wird von örtlichen „Vermittlern“ besorgt. Beispielsweise wurde Quattrocchi von einem ehemaligen Fremdenlegionär angeheuert. IBSSA-Personal wütete im Auftrag westlicher Regierungen und Söldnerfirmen unter anderem in Afghanistan und in diversen schwarzafrikanischen Bürgerkriegen, ferner war es auf dem Balkan im Einsatz. Für vermittelte „Sicherheitsleute“ springen monatlich 4-6000 Euro pro Kopf heraus. Das erforderliche Know-How wird in paramilitärischen Lehrgängen vermittelt, sofern nicht ohnehin schon vorhanden. Generaldirektor der Organisation war über lange Jahre hinweg der bundesdeutsche Staatsangehörige Dr. Fritz Wendland, welcher mittlerweile im Executive Committee sitzt. Hier arbeitet er mit solch illustren Personen wie dem Diktator Gambias, Oberst Jammeh, zusammen. Wendland scheint mit dem gleichnamigen Präsidenten der World Karate Confederation identisch zu sein. Die mit Hauptquartier in Budapest angesiedelte IBSSA erfreut sich bester internationaler Beziehungen, unter anderem zum Malteser-Orden und zum FBI. Obwohl die Anwerbung von Söldnern sowie die Abhaltung paramilitärischer Wehrsportlager nach BRD-Recht verboten sind, werden die Umtriebe der IBSSA toleriert; im Oktober richtet sie gar einen Weltkongress gegen Kriminalität und Terrorismus in Berlin aus.“

 

Die Aufnahme der Wochenzeitung „Junge Freiheit“ als rechtsextremistisches Blatt in den nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzbericht verletzt die Pressefreiheit, wie das Bundesverfassungsgericht nunmehr urteilte. Karlsruhe entsprach damit der Klage der konservativen Zeitung gegen die Aufnahme in die NRW-Verfassungsschutzberichte der Jahre 1994 und 1995 und verwies den Fall an das Verwaltungsgericht Düsseldorf zurück. Der NRW-Verfassungsschutz zeigte sich gleichwohl von der Rechtsmäßigkeit seines Vorgehens überzeugt und erklärte, die Behörde sehe der erneuten gerichtlichen Prüfung zuversichtlich entgegen. Die Karlsruher Richter hoben mit ihrer Entscheidung gegenteilige Gerichtsentscheidungen auf. Der Verfassungsschutz in Düsseldorf hatte in den bisherigen Verfahren mit Erfolg geltend gemacht, die Berichte in der „Jungen Freiheit“ enthielten Anhaltspunkte für den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen. Die Karlsruher Richter entschieden nun, dass die Nennung im Verfassungsschutzbericht das Grundrecht der Pressefreiheit berühre. Die Richter begründeten dies damit, dass potenzielle Leser davon abgehalten werden könnten, die Zeitung zu erwerben. Es sei zudem nicht unwahrscheinlich, dass etwa Inserenten oder Journalisten die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht zum Anlass nehmen, sich von der Zeitung abzuwenden oder sie zu boykottieren. Für den Verdacht einer verfassungsfeindlichen Bestrebung reicht nach Ansicht der Verfassungsrichter zudem die bloße Kritik an Verfassungswerten nicht aus. Die Meinungs- und Pressefreiheit lasse auch eine kritische Auseinandersetzung mit Verfassungsgrundsätzen zu.

 

In Nordirland kochen die Emotionen angesichts der marching season weiter hoch. Eine Polizeistation in North Belfast wurde mit Brandsätzen und Farbbeuteln angegriffen, rund 100 katholische Jugendliche lieferten den Sicherheitskräften anschließend eine Straßenschlacht. Zu Angriffen auf die Polizei kam es auch in West Belfast. Bei einer Razzia gegen dissidente Republikaner in Derry konnte ein selbstgebauter Raketenwerfer Mark 15 sichergestellt werden. In irischen Regierungskreisen und bei für gewöhnlich gut unterrichteten Insidern wird mittlerweile eine erneute Spaltung der Provisional IRA nicht ausgeschlossen, falls der Army Council sich zur Selbstauflösung und Entwaffnung der katholischen Untergrundarmee bereit erklären sollte. Die Welle loyalistischer Gewalttaten fand ebenfalls neue Höhepunkte: In Castlereagh bedachte man die Wohnung einer 19jährigen Protestantin mit einer Brandbombe, weil man sie infolge ihres Nachnamens für eine Katholikin hielt. Die seit beinahe 10 Jahren schwelende Fehde zwischen der Ulster Volunteer Force und ihrer Abspaltung, der Loyalist Volunteer Force, eskalierte erneut. In East Belfast erschoss ein Pistolero der UVF auf offener Straße und am hellichten Tage den der LVF nahe stehenden Abbrucharbeiter Jameson Lockhart (25 Jahre). Schon im Vorfeld lieferten sich UVF und LVF in Carrickfergus eine heftige Auseinandersetzung mit 4 Verletzten, zudem reagierten LVF-Kommandos mit Übergriffen auf UVF-Mitglieder, als diese versuchten, der Konkurrenz gehörende Geschäfte in East und North Belfast zu schließen. Der Ermordete war bereits im November Ziel eines Attentats, und allgemein wird nun mit einer deutlichen Gegenaktion der LVF gerechnet. Als Reaktion auf den Anschlag verschärften beide Gruppen ihre Sicherheitsvorkehrungen, bekannte Führungsaktivisten tauchten ab. Hintergrund der drohenden Fehde ist offenbar der Versuch der UVF, ihre Konkurrenzorganisation aus Belfast zu verdrängen. Zur gleichen Zeit konnte nur mit Mühe eine offene Fehde zwischen den Brigaden North und South Belfast der Ulster Defence Association, der größten loyalistischen Untergrundorganisation, verhindert werden. Alleine im Juni 2005 waren loyalistische Paramilitärs für 14 Gewaltakte verantwortlich, die von punishment beatings bis hin zu Brandanschlägen reichen.

 

US-Präsident Bush bekräftigte in seiner wöchentlichen Propagandaansprache an die amerikanische Bevölkerung seine Siegeszuversicht im Irak-Konflikt. Das Pentagon ist da skeptisch, Verteidigungsminister Rumsfeld geht derzeit davon aus, dass die Kämpfe im Zweistromland noch bis zu 12 Jahre andauern werden. Im US-Senat tobte Bushs Parteifreund Chuck Hagel, die Regierung habe offenbar jeglichen Kontakt zur Realität verloren. Seit Beginn des Irak-Krieges sind nach offiziellen Angaben mehr als 1700 US-Soldaten gefallen, davon über die Hälfte innerhalb der letzten 12 Monate. Innerhalb des letzten Jahres kamen auch über 2060 Angehörige der irakischen Regierungstruppen und der Polizei ums Leben. Iraks Ministerpräsident Jaafari versprüht ebenfalls Optimismus und geht davon aus, das Satellitenregime in Bagdad könne sich ab 2007/2008 alleine gegen die Rebellen halten. Presseberichten zufolge scheint es derzeit diskrete Verhandlungen zwischen Amerikanern, Briten und Vertretern einiger Guerrillagruppen zu geben, auch George Casey als US-Oberbefehlshaber im Irak äußerte öffentlich, dieser Konflikt könne nur politisch und nicht militärisch gelöst werden. Der Oberbefehlshaber Nahost, General John Abizaid, wies allerdings darauf hin, dass man nicht mit islamistischen Terrorgruppen verhandele, sondern vor allem mit sunnitischen Fraktionen. In den 3 US-Konzentrationslagern Abu Ghraib, Camp Bucca und Camp Cropper ist die Zahl der Gefangenen innerhalb eines Jahres von 5000 auf 10.000 gestiegen. Innerhalb der vergangenen 12 Monate sind alleine bei Autobombenanschlägen mindestens 2221 Menschen ums Leben gekommen. Prominentestes Opfer dieser Woche ist Dhari Ali al-Fajad, der Alterspräsident der irakischen Nationalversammlung, der auf dem Weg zu einer Parlamentssitzung in die Luft gesprengt wurde.

 

Neben den regulären irakischen Armee- und Polizeikräften im Dienste der US-Besatzer sind unter der Ägide von Expremier Ijad Allawi mehrere paramilitärische Einheiten aufgebaut worden. Die wichtigsten dabei sind die Special Police Commandos (SPC), die stark an die rechten kolumbianischen Todesschwadronen erinnern. Pate beim Aufbau standen US-Berater, die in Süd- und Mittelamerika Erfahrungen im schmutzigen Krieg gegen Befreiungsbewegungen gesammelt hatten. Diese Milizen wurden schnell berüchtigt für ihre Brutalität. Seit Aufstellung der Sonderpolizeieinheiten mussten zahlreiche Morde konstatiert werden – und ausgerechnet in den Gebieten, in denen die SPC operativ eingesetzt waren. Am deutlichsten wurde dies in der nordirakischen Stadt Mossul, wo die Todesschwadron seit Ende Oktober aktiv ist. Bei Razzien wurden dort Dutzende Männer im waffenfähigen Alter gefangen genommen. Augenzeugen berichteten, wie diese gefesselt und mit verbundenen Augen abgeführt und nicht wieder gesehen wurden. In den darauf folgenden Wochen wurden in der Region mehr als 150 Leichen von Männern gefunden, die meisten durch Kopfschuss exekutiert. Die US-Truppen behaupteten in ihren Kommuniqués, es würde sich um Angehörige der irakischen Hilfstruppen handeln. Doch trugen alle Opfer zivile Kleidung, und sie waren schwer zu identifizieren. Ähnliche Vorfälle wurden aus der Gegend um Samarra sowie aus den Orten Suwayra, Mardaen und Al Kaim kurz nach Beginn der US-„Operation Blitz“ gemeldet. In Bagdad führte eine Welle von Morden mittlerweile zu konkreten Anklagen gegen die neuen irakischen Sicherheitskräfte, insbesondere die SPC. Anfang Mai war in der irakischen Hauptstadt ein Massengrab mit 14 Toten gefunden worden. In diesem Fall konnten Familien die Opfer identifizieren. Allesamt waren sie Bauern, die bei einer Razzia auf einem Gemüsemarkt verhaftet worden waren.

 

Der seit Spätsommer vergangenen Jahres wieder aufgeflammte Guerrillakrieg in den kurdischen Landesteilen der Türkei gewinnt immer mehr an Heftigkeit. In der südostanatolischen Provinz Bingöl konnten die kurdischen Volksverteidigungskräfte HPG den Regierungstruppen eine Schlappe beibringen, insgesamt fielen 22 Soldaten. In der kurdischen Metropole Diyarbakir lieferten sich Teilnehmer eines Trauerzuges für einen gefallenen Guerrillakämpfer eine Straßenschlacht mit Spezialeinheiten der Polizei. Bereits in der Vorwoche eröffneten Militärpolizisten in der Provinz Van das Feuer auf einen anderen Trauerzug, wobei ein Kurde erschossen wurde. Neben den HPG-Partisanen und dem politischen Flügel Kongra-Gel wird der Kampf mittlerweile auch von den Stadtguerrillas der „Kurdischen Freiheitsfalken“ geführt, so wurden bei einem Bombenanschlag auf eine Fabrikanlage im mittelanatolischen Kocaeli 20 Menschen verletzt. Die Freiheitsfalken erklärten, sie würden solange militärische und wirtschaftliche Ziele angreifen, wie die Militäroperationen gegen die Kurden andauerten. Eine weitere Front haben die Partisanen der Maoistisch-Kommunistischen Partei MKP eröffnet. Allerdings gelang es der türkischen Armee, den Maoisten in der ostanatolischen Provinz Dersim-Ovacik einen schweren Schlag zu versetzen: Der von 50 Delegierten der MKP besuchte illegale Parteikongress wurde Ziel einer Großoperation, und unter den 17 Toten befinden sich drei Mitglieder des Zentralkomitees. Ebenfalls im Kampf gegen den Staat steht weiterhin die Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front DHKP-C. Ihr Aktivist Eyup Beyaz wurde von der Polizei erschossen, als er versuchte, einen Selbstmordanschlag auf das Justizministerium in Ankara zu verüben.

 

In das Bürgerkriegs- und Folterland Türkei werden nach wie vor kurdische Nationalisten abgeschoben. Ein Paradebeispiel ist der im vergangenen November verhaftete PKK-Funktionär Taylan Sarigül. Der Kurde wurde am 16. Juni vom OLG Koblenz wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu zwei Jahren Haft verurteilt. Nach Urteilsverkündung landete Sarigül auf Betreiben der Generalbundesanwaltschaft und der Ausländerbehörde im Abschiebeknast von Ingelheim. Um die Abschiebung in die Türkei und damit in höchste Lebensgefahr zu verhindern, stellte Sarigüls Anwalt einen Asylantrag, das Folgeverfahren läuft noch. Taylan Sarigül befindet sich seit dem 17. Juni im Hungerstreik. Der Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland, AZADI, befürchtet, dass Sarigül im Falle seiner Abschiebung in die Türkei Verhaftung und Folter drohen. Aufgrund des Strafnachrichtenaustauschs zwischen der BRD und der Türkei seien die türkischen Behörden über die Verurteilung des Kurden informiert. Dass trotz aller oberflächlichen Reformen in der Türkei die Gefahr der Folter real ist, belegt ein vom Menschenrechtsverein IHD in Ankara aus Anlass des Internationalen Solidaritätstages mit Folteropfern am 26. Juni veröffentlichter Bericht. Demnach sind 843 Fälle von Folter und Misshandlung im vergangenen Jahr bekannt geworden. 2005 stieg ihre Zahl insbesondere in den kurdischen Landesteilen stark an. So weiß der IHD allein für die ersten drei Monate des Jahres 2005 von 448 Fällen von Folter, Misshandlung und Erniedrigung zu berichten. Die BRD-Behörden arbeiten dennoch bereitwillig mit der Türkei zusammen. 1996 wurde der Kurde Ahmet Karakus, auch er ein PKK-Aktivist, mitsamt seiner neunköpfigen Familie in die Türkei abgeschoben. Da der Bundesgrenzschutz bei der Abschiebung gleich auch in der Wohnung der Familie entdeckte Unterlagen an die türkischen Kollegen weiterreichte, wurde Karakus postwendend zum Staatssicherheitsgericht Izmir zu 3 Jahren und 9 Monaten Haft verurteilt. Infolge barbarischer Folterungen und unbeschreiblicher Haftbedingungen verließ er das Gefängnis nach 2 Jahren als gesundheitliches Wrack. Die Abschiebekosten nach Izmir soll Karakus jetzt auch noch begleichen: Rund 4400 Euro, davon entfallen 4039,93 Euro für die Begleitung durch zwei BGS-Beamte.

 

In der „jungen Welt“ befasste sich Werner Seppmann mit der wachsenden Entzivilisierung des Kapitalismus: „Kapitalismuskritik, die lange tabuisiert war, ist wieder im Gespräch. Aber die starken Worte, die in großen Teilen der Öffentlichkeit bereitwillig aufgenommen wurden, erreichen nirgends den Kern des Problems – und lassen es noch nicht einmal erahnen. Selbst die ökonomischen Fehlentwicklungen, die Münteferings unmittelbares Thema waren, wurden nicht zum sozialdestruktiven Charakter der kapitalistischen Reproduktionsdynamik und ihrem immanenten Zwang zur unablässigen Kapitalanhäufung in Beziehung gesetzt. Ebenso wurde sorgfältig vermieden, die sozialen Polarisierungen, die Ausgrenzungs- und Verarmungsprozesse gedanklich zu den elementaren Gesetzen der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise zu vermitteln. Diese »Kapitalismuskritik« gibt sich noch nicht einmal die Mühe zu verbergen, dass sie als »Ouvertüre« zu einem »neuen« Reformismus gedacht ist. Alles Kritikwürdige der aktuellen Krisenentwicklung, einschließlich der Unterwerfung menschlicher Lebensinteressen unter das Kalkül kurzfristiger Profitmaximierung, wird als »Abweichung« von einem im Prinzip akzeptablen und verteidigungswerten Organisationssystem des menschlichen Stoffwechsels mit der Natur betrachtet. In gewisser Weise korrespondiert Münteferings Intervention mit einem Auffassungsstrang innerhalb der Bewegung der Globalisierungskritiker, der – wesentliche Punkte der eigenen Erkenntnisbasis dabei ignorierend – eine sozial verträgliche und ökologisch »nachhaltige« Gestaltung der kapitalistischen »Moderne« grundsätzlich für möglich hält. Solche Einschätzungen erweisen sich aber den zugespitzten Problemlagen als immer weniger angemessen. Denn die gegenwärtige Krise hat eine Dynamik soziokultureller Selbstzerstörung in Gang gesetzt, die durch partielle Maßnahmen kaum noch gestoppt werden kann: Durch die kapitalistische Organisationsform der Gesellschaft wird schleichend das zivilisatorische Fundament menschlichen Zusammenlebens ausgehöhlt. Einige Aspekte dieser Tendenz soziokultureller Selbstzerstörung sind besonders auffällig: Durch die strukturellen Bedingungen in Ökonomie und Gesellschaft kann individueller Nutzen immer öfter nur noch auf Kosten der anderen erreicht werden: Die Konzentration auf unmittelbare Profitgesichtspunkte führt zur Vernachlässigung vieler langfristiger Aspekte. Rationale Absichten schlagen aufgrund der herrschenden Strukturen des Wirtschaftslebens regelmäßig in soziale Irrationalität um: Nach kapitalistischen »Effizienzkriterien« ist es »sinnvoll«, überschüssige Arbeitskraftverkäufer und -verkäuferinnen auszugrenzen, ohne sich Gedanken über die daraus resultierenden sozialen Desorganisationserscheinungen zu machen. Die Universalisierung der Gewalt und der Zerfall schon erreichter kultureller Standards prägen das kapitalistisch dominierte Weltsystem: Militärisch flankierte Hegemonialstrategien finden ihre Entsprechung auch in der Aggressionseskalation im Inneren der »entwickelten« Gesellschaften. Die kapitalistische Form der Produktivkraftentwicklung ist mit einer Wohlstandsreduktion für breite Bevölkerungsschichten verbunden: Trotz gesellschaftlicher Reichtumsmehrung breiten sich Armut und Bedürftigkeit sowohl global als auch innerhalb der Metropolengesellschaften aus. Sinnvolle Arbeit, auf der die soziale Reproduktion und die individuelle Identitätsbildung gleichermaßen beruhen, wird einem immer größeren Teil der Bevölkerung verweigert: Sie werden dadurch aus elementaren gesellschaftlichen Zusammenhängen ausgegrenzt. Den Menschen wird offen ins Gesicht gesagt, dass sie nicht nur ökonomisch nicht mehr gebraucht werden, sondern nach den geltenden Spielregeln auch sozial unnütz geworden sind. Die »Überflüssigen« werden zunehmend ins soziale Abseits und die Zonen der Bedürftigkeit abgedrängt. Die Bereitschaft des herrschenden Blocks, aktiv die soziale Spaltung zu betreiben, hat einen handfesten Hintergrund: Die Zahl der für die Mehrwerterzeugung noch benötigten Menschen hat rapide abgenommen und wird weiter abnehmen. Es gibt plausible Schätzungen, dass in einem überschaubaren Zeitraum nur noch für 20 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung genügend Arbeitsplätze vorhanden sein werden. In ihren Konsequenzen ist die Arbeitslosigkeit ein Gewaltakt, ein Angriff auf die Integrität der arbeitenden Menschen. Sie werden nicht nur gedemütigt, sondern durch die Entwertung wesentlicher Orientierungsmuster auch einer innerpsychischen Konfliktsituation ausgesetzt, der sie in einem Klima zugespitzter Konkurrenz und sozialer Widersprüche kaum mehr gewachsen sind. Denn in seinem Drang zur Optimierung der Verwertungsbedingungen hat das Kapital Sozialzusammenhänge zerrissen und die Menschen ausbeutungskonform instrumentalisiert: Gefühle der Verlässlichkeit vermittelnde und die Menschen psychisch stabilisierende Lebenskontexte sind im Fegefeuer der »Deregulierung« und »Flexibilisierung« verschlissen, traditionelle Solidaritätsformen durch den Druck der Arbeits- und Lebensverhältnisse im Risikokapitalismus zerstört worden. »Der kapitalistische Modernisierungsprozess«, schreibt der Sozialpsychologe Götz Eisenberg, »zehrt neben den natürlichen Ressourcen auch jene Traditionsbestände auf, auf deren wie immer gebrochene und überformte Fortexistenz er angewiesen ist: identitätsstiftende Zusammenhänge, Familie, Moral und all die Tugenden der ›kleinen Leute‹, die den sozialen Kitt der Gesellschaft bilden.« Ein angsteinflößender Krisen- und Veränderungsdruck ist der Hebel, um die Lebensverhältnisse und mit ihnen auch das Fühlen und Denken der Menschen den Erfordernissen einer radikalisierten Verwertungsökonomie anzugleichen. Die Institutionalisierung der Unsicherheit garantiert die universelle Verfügbarkeit über den »ganzen Menschen«, ermöglicht es, ihn vollständig in den Selbstverwertungskreislauf des Kapitals zu integrieren. Ihre widersprüchliche Lebenssituation intellektuell zu verarbeiten, ist den Menschen im Risikokapitalismus durch die strukturelle »Unübersichtlichkeit« der Sozialverhältnisse kaum noch möglich, zumal ihnen durch den Zerfall der Klassenmilieus realitätsadäquate Orientierungsmuster abhanden gekommen sind. Soziale Bedrohungserlebnisse und Ausgrenzungserfahrungen finden deshalb innerhalb zersplitterter Sozialverhältnisse ihre Entsprechung in Ohnmachtsgefühlen und Angstsyndromen, die zur weiteren Beschädigung psychischer Widerstands- und Stabilitätspotentiale führen. Wer nicht ins soziale Abseits gedrängt ist, wird durch die Funktionsprinzipien eines »flexibilisierten« Kapitalismus zur Ausbildung fragmentarischer »Identitäten« gezwungen. Die Menschen müssen wendig und bedenkenlos sein, wenn sie an den sich oft widersprechenden Ansprüchen nicht scheitern wollen; sie müssen moralisch »disponibel« und »belastbar« sein, wenn sie ihr Leben innerhalb »deregulierter« Sozialverhältnisse meistern wollen. Als positiv verstandene Eigenschaften hat der französische Philosoph Jean-François Lyotard, Galionsfigur eines »postmodernen Denkens«, die subjektiven Anforderungen für eine »zeitgemäße« Existenz spezifiziert: »Geschmeidigkeit, Toleranz und ›Wendigkeit‹«. Dass solche Eigenschaften des »postmodernen Menschen«, seine »fließenden Identitäten« und seine »biegsame Psyche« (von denen auch gesprochen wird) exakt dem Anforderungsprofil einer neoliberalen Ökonomie entsprechen, kommt dieser pseudokritischen Modephilosophie nicht in den Sinn. Gefordert sind jedoch nicht nur Flexibilität und Beweglichkeit als Subjekteigenschaft, sondern auch die Rücksichtslosigkeit als soziale Handlungsmaxime. Lebenspraktische Überzeugungskraft besitzt ein neuer kategorischer Imperativ: »Handle so, dass deine Interessen ohne Rücksicht auf die Konsequenzen sich durchsetzen können! « Jedoch wird den Menschen nicht nur eine konfliktbereite Einstellung zu ihrem sozialen Umfeld abgefordert, sondern auch ein zwanghaftes Verhältnis zu sich selbst. Ein US-amerikanischer Bankmanager spricht in diesem Sinne von einem »fortgeschrittenen Kapitalismus, dessen raues und brutales Klima den Beteiligten eine strikte Disziplin« auferlegt. Gemeint ist ein Zwang zur Selbstverwertung, zur Ausprägung einer kapitalistisch instrumentalisierten Individualität und einer konkurrenzgesellschaftlich geformten Persönlichkeitsstruktur. Wer nicht unterliegen will, muss beständig sein Bestes zu geben versuchen; es darf keinen Stillstand geben, weil die soziale Existenz nur durch das Vorwärtsstreben gesichert werden kann. Die Alltagssubjekte sind durch den herrschenden Anpassungsdruck und den sich oft widersprechenden Anforderungsprofilen in ihrer Identitätsstruktur ebenso gespalten und fragmentarisiert wie die Sozialverhältnisse, die sie umgeben. Verlässliche Orientierungspunkte als Voraussetzung selbstbestimmter Lebensgestaltung stehen ihnen kaum mehr zur Verfügung. Deshalb wirken sie als getriebene und von den objektiven Zwängen beherrschte; sie sehen sich immer öfter mit sozialen Bedrohungssituationen (Arbeitsplatz- und Existenzunsicherheit) konfrontiert, auf die sie nur mit Resignation und verzweifelter Wut zu reagieren vermögen: In ihrer Hilflosigkeit sind große Bevölkerungsteile auch für irrationalistische Weltbildfragmente, autoritäre Interpretationsmuster und rassistische Wahnvorstellungen anfällig, weil sie eine trügerische Orientierungssicherheit und psychische Entlastung in einer als undurchsichtig und bedrohlich erlebten Welt versprechen. Die kapitalistisch dominierte Lebenspraxis befindet sich mit ihren Demütigungen und Bedrohungen im Widerspruch zu den Selbstverpflichtungen einer bürgerlichen Gesellschaft, die einmal das allgemeine Wohlergehen und die Vernünftigkeit der sozialen Verhältnisse auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Sie produziert statt dessen soziale Widersprüche und eine technokratische Rationalität mit einer kaum zu bändigen Destruktionstendenz. Durch die Radikalisierung der Profitstrategien hat sich ein Konfrontationsklima verallgemeinert, herrscht ein so hoher Handlungsdruck, dass weder auf die individuelle Leistungsfähigkeit noch auf soziale Gesichtspunkte Rücksicht genommen wird. Egoistischer Durchsetzungselan ist zur Normalität geworden. Mit sichtbarem Stolz berichtet ein Manager des Medienkonzerns Bertelsmann der Presse über sein Verhalten bei der Sanierung eines übernommenen Konkurrenten durch Arbeitsplatzabbau: Ich »habe nach dem Motto geschossen: Selbst wenn es einen Unschuldigen trifft, ist es auch nicht schade. Denn es musste sich was bewegen. « Individuelle und soziale Rücksichtnahmen gelten als nicht mehr zeitgemäß. Die Unternehmen steigern beständig ihre Rentabilität, wer aber über 50 ist, wird aus dem Berufsleben entfernt. Das Merkmal der Lebensverhältnisse im globalisierten Kapitalismus ist die Unerbittlichkeit des Lebenskampfes, der unbedingte Leistungswille und das rücksichtslose Vorwärtsstreben, die Konsequenz die Verdrängung und Ausschließung der Schwachen und Überzähligen. Die das Wirtschaftsleben prägenden Verdrängungs- und Ausgrenzungsstrategien dominieren das soziale Klima auch in den privaten Lebensbereichen. Sie bilden den Nährboden für kollektive und individuelle Gewaltformen, für eine kaum noch einzudämmende »Kultur des Hasses« (Hobsbawm), die nicht nur an Umfang und Intensität zugenommen haben, sondern in nicht wenigen gesellschaftlichen Segmenten zur »Selbstverständlichkeit« geworden ist. Durch einen universalisierten Existenz- und Bewährungsdruck entwickelt sich eine feindliche Haltung gegenüber den Mitmenschen, weil sie als »Gegensatz« zu den eigenen Lebensinteressen erlebt werden. In einer Situation hoher Beschäftigungslosigkeit wird jeder als Konkurrent um die knappen Arbeitsplätze empfunden und durch die entgrenzten Leistungserwartungen jede Rücksichtnahme als Erfolgshindernis wahrgenommen. Das Ergebnis ist eine Verrohung der Verhaltensweisen und ein Zerfall soziokultureller Standards. Kapitalistische Konkurrenz und Krisendruck, verinnerlichtes Erfolgsstreben und Selbstunterdrückung, institutionalisierte Ausgrenzung und soziokulturelle »Pathologien« bilden ein dichtes Geflecht von Ursachen und Wirkungen. Deshalb ist der aggressive Jugendliche, der auf seinen Mitschüler einschlägt, obwohl dieser längst am Boden liegt, nur das Spiegelbild jener »erfolgreichen« Manager, die Extraprämien kassieren, weil sie besonders viele Arbeitsplätze vernichtet haben. »Wie saurer Regen sickern der Zynismus und die Amoral der großen Beutejäger von der Spitze der (gesellschaftlichen) Pyramide zur mittleren Ebene durch. « (J. Ziegler). Die zunehmende Verrohung der sozialen Verkehrsformen beschreibt das Alltagsbewusstsein mit den Begriffen »soziale Kälte« und »Ellenbogengesellschaft«. Selbst in den Kindergärten und den Grundschulen ist ein ungehemmtes Konkurrenzverhalten an der Tagesordnung, demonstrieren die Kinder, wie gut sie es schon gelernt haben, ihre »Ellbogen zu gebrauchen«. Schon ab der zweiten Klasse wird für die weiterführenden Schulen sortiert, wird durch die Anforderungen der Schule und den Druck der Eltern der Zusammenhang von konkurrenzmotivierter Lernbereitschaft und persönlichen Fortkommen wahrgenommen. Die gravierenden ökonomischen Widerspruchsformen stellen jedenfalls nur eine Seite der kapitalistischen Wirklichkeit dar. Eng mit der gesellschaftlichen Krisenentwicklung verbunden sind Formen individueller Bedrängnis, geistiger Gleichschaltung und sozialer Entfremdung. Die Konsequenzen einer solchen emotionalen Instrumentalisierung und Zurichtung der menschlichen Subjektivität haben bisher auch in den linken Diskussionen noch nicht die nötige Beachtung gefunden haben: Weil der leistungsgesellschaftliche Konkurrenz- und Anpassungsdruck ein permanentes Widerspruchsprinzip zu den menschlichen Selbstentfaltungsbedürfnissen darstellt, werden massenhaft psychische Defekte produziert und durch zwanghafte Formen der Selbstdisziplin emotionale Verwüstungen hervorgerufen. Wer das Tempo der »Leistungsgesellschaft« nicht mehr mithalten und dem psychischen Leidensdruck, der vor allem aus der Kombination von gesteigerten Anforderungen und dem Gefühl latenter Unsicherheit resultiert, nicht mehr standhalten kann, flüchtet – immer öfter auch um den Preis der Selbstzerstörung – in legale und illegale Rauschmittel. Die Drogensüchtigen (deren Zahl in der Bundesrepublik bei geschätzten 150 000 liegt) sind nur der sichtbarste Ausdruck dieses Problemkomplexes. Viel deutlicher noch sind die Millionen Alkohol- und Tablettenabhängigen Spiegelbild des pathologischen Zustands einer Gesellschaft, in der trotz hoch entwickelter Kommunikationsmöglichkeiten die Menschen vereinsamen und sich verloren fühlen. Viele Menschen leiden unter der sozialen Beziehungs- und Rücksichtslosigkeit, den unsicheren Zukunftsperspektiven und dem gravierenden Leistungsdruck: Sie sind ausgebrannt und empfinden trotz einer permanenten Anspannung ihr Leben als sinnlos; sie haben den Eindruck, Wesentliches in ihrem Leben zu verpassen, nicht selbst zu leben, sondern getrieben zu werden. Die Verhältnisse verändern sich mit einer Geschwindigkeit der nur noch wenige folgen können. Der »flexible Mensch« ist entwurzelt (R. Sennet), denn soziale Bindungen stehen einer ökonomischen Selbstverwertung und der geforderten allseitigen Verfügung im Wege, die immer öfter grenzenlosen Zeiteinsatz und geographische Mobilität verlangt. Die herrschenden Vergesellschaftungsprinzipien erweisen sich den aktuellen Problemen als immer weniger angemessen und werden dennoch um den Preis einer zunehmenden Widerspruchsentwicklung künstlich am Leben gehalten. Die Unfähigkeit, angemessen auf die existentiellen Probleme zu reagieren, ist Ausdruck eines fatalen Zirkels von Entfremdung und Selbstentfremdung, der in den entwickelten Kapitalgesellschaften Herrscher und Beherrschte vereint: Weil der Existenzkampf alle intellektuelle und psychische Kraft absorbiert, kann soziokulturelle Gestaltungskompetenz sich nicht mehr im benötigten Umfang entwickeln. Es entsteht ein normatives und emotionales Vakuum, weil immer mehr intellektuelle und psychische Energie aktiviert werden muss, um die elementaren Widersprüche nicht wahrnehmen zu müssen oder sie zu verharmlosen. Innere und äußere Bedrohungsszenarien werden »kultiviert«, um von der gesellschaftlichen Widerspruchsentwicklung ablenken zu können. Was früher die »Bedrohung aus dem Osten war«, ist heute der »islamische Terrorismus«, den die imperialistische Politik selbst genährt hat und zu dessen »Bekämpfung« der Weg einer autoritären Formierung vieler gesellschaftlichen Bereiche beschritten wird: Der »Ausnahmezustand« wird schleichend zur Normalität. Eine Ahnung davon, dass jede substantielle Problemlösungsstrategie in der Systemfrage mündet, festigt nicht nur innerhalb des herrschenden Blocks die Unfähigkeit, über das Tagesgeschäft hinaus zu denken und perspektivische Orientierungen zu entwickeln. Fehlende Zukunftsorientierung und die Unfähigkeit zu allgemeinverträglicher politischer Gestaltung ergänzen sich. Weil Veränderungsperspektiven tabuisiert sind, können gesellschaftliche Auflösungstendenzen ihre eigene Dynamik entfalten und sich zu einer zivilisatorischen Fundamentalkrise verdichten. Denn wird der mögliche und notwendige Wandel verschleppt, potenzieren sich die Probleme und wird die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit destabilisiert: Probleme des zivilisatorischen Zerfalls rücken dann in das Zentrum des gesellschaftlichen Geschehens.“

 

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