Wochenschau

 

Die politische Wochenschau

 

vom 23. bis 29. Juli 2005

Schlagzeilen der Woche   zusammengestellt von Christian Klee  

 
Die IRA streckt die Waffen
Die IRA streckt die Waffen Terror in Ägypten ETA unter Druck
Neue Jugendorganisation in Venezuela 4,772 Millionen Arbeitslose
EU: Vorratsdatenspeicherung wird ausgeweitet Weiter Stellenabbau im Osten
Verhandlungen mit Nordkorea Kinderarmut in Berlin
Linke Inländerfeindlichkeit Armut und Gesundheit
Vorbeugende Telefonüberwachung ist illegal Usbekisches Ultimatum an USA: Truppenabzug
Schlammschlacht um UN-Reform Gedenken an Massaker von Aussig
Uribe will mit FARC verhandeln Vom Unsinn des Existenzgeldes


Zitat der Woche:
"Was ist in der Tat der Sozialismus? Die Übernahme der Gesellschaft in allen ihren notwendigen wirtschaftlichen Funktionen durch die assoziierten Arbeiter. In der kapitalistischen Fabrik gibt es einen Bezahler, der Herr ist über die Produktionsmittel und verantwortlich für die Produktion, und neben ihm ein Heer von abhängigen, unselbständigen Bezahlten, die nur für die Leistung einer bestimmten Teilarbeit Verantwortlichkeit tragen. In der Fabrik der assoziierten Arbeit dagegen werden alle Akte der materiellen wie der intellektuellen Produktion, die Leitung und Verwaltung, in den Händen der Assoziierten selbst liegen. Außerhalb des rein wirtschaftlichen Betriebes erfüllt den Syndikalismus das gleiche Ideal. An die Stelle des im Staate enthaltenen, autoritären, hierarchischen, koerzitiven Prinzips wird er die freie Vereinbarung freier Genossen setzen."
- Robert Michels


Die erwarteten globalen Klimaveränderungen sind dazu angetan, zu geopolitischen Konflikten zu führen. Ein Paradebeispiel findet sich derzeit am Polarkreis, wo sich durch das Abschmelzen der Eisdecke neue Schifffahrtswege, und zwar durch die dann offene Nordwest-Passage, eröffnen werden. Konkret geht es um die Insel Hans (grönländisch Tartupaluk), einen rund einen Quadratkilometer großen Felsbrocken zwischen Grönland und Kanada. 1973 hatten Dänemark und Kanada eine Grenzlinie entlang der Nares-Straße zwischen Grönland und der kanadischen Ellesmere-Insel gezogen und festgelegt, dass über die Zugehörigkeit der kleineren Inseln in dieser Region später entschieden werde. 1984 sorgte der dänische Minister für Grönland-Angelegenheiten, Tom Hoeyem, für Verstimmung, weil er eine dänische Flagge auf Insel Hans aufzog. Allerdings wird Hans seit einiger Zeit vehement von Kanada beansprucht, was im vergangenen Jahr durch kostspielige Manöver am Polarkreis unterstrichen wurde. Nun stattete der kanadische Verteidigungsminister Bill Graham der Insel einen Besuch ab, was von der demonstrativen Hissung der kanadischen Flagge begleitet wurde. Die grönländische Autonomieregierung sprach in Gestalt ihres „Außenministers“ Josef Motzfeld von einer Okkupation der Insel durch Kanada und forderte die UNO zu einem Schiedsspruch auf, da die Kanadier die UN-Seerechtskonvention verletzt hätten. Die dänische Regierung hat bereits der kanadischen Botschafterin in Kopenhagen eine Verbalnote überreicht, in der sie gegen den unangekündigten Besuch Grahams protestierte.

 

Nach mehreren Monaten relativer Ruhe meldete sich der militante islamistische Untergrund in Ägypten zurück. Als Ziel wählte man den beliebten Badeort Sharm el-Sheik, auch Schauplatz diverser Verhandlungen mit der israelischen Regierung. Im Abstand von wenigen Minuten explodierten drei Autobomben mit ca. 600 Kilogramm Sprengstoff, wobei mindestens 88 Personen (darunter 17 ausländische Touristen) getötet und mehr als 200 verletzt wurden. Weite Teile des Touristikzentrums wurden verwüstet. Es handelt sich um den schwersten Terroranschlag auf ägyptischem Territorium seit 10 Jahren. Die ägyptische Polizei reagierte mit umfangreichen Razzien und tätigte binnen mehrer Tage einige Hundert Festnahmen, was man mit üblicher Pragmatik auch zum Vorgehen gegen die Opposition nutzte. Bereits in den 90er Jahren kamen bei der Auseinandersetzung zwischen islamistischer Stadtguerrilla und den Sicherheitskräften um die 1200 Menschen ums Leben.

 

Bereits am 9. Juli wurde im venezolanischen Barquisimeto die Revolutionäre Sozialistische Jugend (JSR, Juventud Socialista Revolucionaria) gegründet. 35 Vertreter debattierten hier über Programm und Aktionen der neuen Jugendorganisation. Die JSR ist ein Zusammenschluss einer Reihe von linken Organisationen auf der Grundlage eines gemeinsamen revolutionären Programms. Anwesend waren u.a. Angehörige des Movimiento Revolucionario Yacambú, des Colectivo Resistencia, der Frente América Rebelde und der Corriente Marxista Revolucionaria (CMR). Das Motto der JSR ist von Karl Liebknecht entlehnt: „Die Jugend ist die Flamme der Revolution.“ Ziel der neuen Organisation ist die sozialistische Umgestaltung der venezolanischen Gesellschaft. Sozialismus ist nicht nur in den Augen der JSR für Venezuela der einzige Weg zu einer weiteren ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklung. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn sich die Jugend in den Schulen, Unis und den misiones (den Sozialprogrammen der Regierung) zusammenschließt und organisiert. Der revolutionäre Kampf für eine sozialistische Gesellschaft kann, so das Programm der JSR, nur von den Massen selbst erfolgreich geführt werden. Eine zentrale Rolle komme dabei der Arbeiterklasse zu. Die JSR versteht sich daher auch als Organisation der Arbeiterjugend. Der Kampf der Schüler und Studenten soll mit dem der Arbeiterklasse vernetzt werden. In den nächsten Wochen wird die JSR auf den Weltjugendfestspielen in Caracas und auf Massenveranstaltungen der revolutionären Jugendbewegung präsent sein und ihre Ideen einer größeren Öffentlichkeit vorstellen. Nach den Weltjugendfestspielen in Caracas wird die JSR ein „Marxistisches Jugendforum“ organisieren, wo Jugendliche aus Venezuela und aus anderen Ländern gemeinsam über die Perspektive des Sozialismus in Venezuela und des revolutionären Kampfes diskutieren können.

 

Die EU-Kommission will im Kampf gegen den „islamistischen Terrorismus“ stärker als bisher bekannt Daten auf Vorrat speichern lassen. Laut einem 17seitigen, unveröffentlichten Papier der Kommission sollen Benutzer von Telefon, Handy und Internet von der ersten Sekunde bis zum Ende der Nutzung beobachtet werden, um bis ins Detail festzuhalten, wie sich die Person in den Kommunikationsnetzen bewegt. Bislang sahen die Pläne der Innen- und Justizminister aller EU-Staaten vor, zur stärkeren Informationsgewinnung und Auswertung Telefon- und Internet-Daten ohne konkreten Verdacht bis zu drei Jahre auf Vorrat zu speichern - in der BRD werden momentan persönliche Verbindungsdaten nach 90 Tagen gelöscht. Dabei ging es ganz allgemein um Verkehrs- und Standortdaten einschließlich der Teilnehmer- und Nutzerdaten. Bereits diese Pläne der Minister waren von Datenschützern und der Industrie abgelehnt worden. Nach der vorgeschlagenen „Direktive von EU-Parlament und EU-Rat" sollen nicht nur Nummer, Name und Adresse des Nutzers gespeichert werden, sondern auch das Ziel, Datum, Zeit und Zeitdauer der Gespräche bzw. Internet-Nutzung sowie die Art und Mittel der Kommunikation, also ob es sich um ein Gespräch, eine SMS oder eine Konferenzschaltung gehandelt hat. Schließlich strebt die EU-Kommission das Anfertigen von Bewegungsprofilen an. So soll der Ortswechsel des Handy-Benutzers miterfasst werden und ebenso, ob der Zugang zum Internet von einem festinstallierten PC oder einem transportablen Laptop erfolgt. Für die Zusatzkosten sollen Kommunikationsunternehmen „angemessen" entschädigt werden. Doch die lehnen die Datenerfassungspläne der Politik ab, nicht nur, weil unklar ist, was angemessen bedeutet. Alleine 2004 gab es rund 34.000 Anfragen der Strafverfolgungsbehörden an die Internet- und Telekommunikationsbranche, von denen sich nur 78 auf Daten mit terroristischem Hintergrund bezogen.

 

Nach langer Pause nahm in Peking die Sechsergruppe (Nord- und Südkorea, China, Russland, Japan und die USA) neue Gespräche zur Lösung des Konfliktes um das nordkoreanische Atomwaffenprogramm auf. Schon vor Verhandlungsbeginn signalisierte Pjöngjang seine Bereitschaft, nach Abschluss eines Friedensvertrages, diplomatischer Anerkennung durch die USA, Entfernung von der Liste der „Schurkenstaaten“, Garantie ungestörter Handelsbeziehungen mit Drittstaaten und Abschluss eines Nichtangriffspaktes auf sein atomares Arsenal zu verzichten. Nach Vorstellung des nordkoreanischen Außenministeriums würde die Umwandlung des Waffenstillstandsabkommens von 1953 in einen echten Friedensvertrag automatisch eine atomare Entmilitarisierung der koreanischen Halbinsel nach sich ziehen. Die Amerikaner haben angeblich auf ihrem südkoreanischen Stützpunkt Maehyang-ri Nuklearwaffen stationiert, ebenso auf ihren Flotteneinheiten in Fernost. Die US-Regierung wiederum ist nur zu Verhandlungen ohne Vorbedingungen bereit. Washingtons Verhandlungsführer Christopher Hill drückte die Bereitschaft der USA aus, bei permanentem, vollständigem und überprüfbaren Verzicht auf das nordkoreanische Atomprogramm Sicherheitsgarantien, staatliche Anerkennung sowie Wirtschafts- und Energiehilfen zu gewährleisten. Als Pjöngjang das Problem Maehyang-ri zur Sprache brachte und einen Abbau des amerikanischen Nuklearschildes über Südkorea forderte, dementierten Washington und Seoul, dass sich US-Atomwaffen auf südkoreanischem Territorium befänden. Die südkoreanische Seite setzt darauf, zunächst eine Einstellung des nordkoreanischen Atomprogramms auszuhandeln und auf dieser Basis die Gespräche fortzusetzen. Zur Bekämpfung der im Norden herrschenden Hungersnot liefert Seoul derzeit 500.000 Tonnen Reis.

 

Zu den Diskussionen auf der radikalen Linken über die „Linkspartei“ aus PDS uns WASG merkte Jürgen Elsässer in der „jungen Welt“ vom 28. Juli Interessantes an: „Je besser die Umfragewerte für die Linkspartei werden, umso steifer sitzt die etwas radikalere Linke auf der Stuhlkante und blickt stumm auf dem ganzen Tisch herum. Was soll aus dem Neugeborenen bloß werden, wenn es jetzt schon so groß ist? Wächst da, angesichts der ungeklärten Familienverhältnisse im Hause Gysi/Lafontaine, nicht ein Bastard heran? Hoffentlich spielt er nicht mit Arbeitern und anderen Schmuddelkindern. Am besten, wir lehren das Riesenbaby erst einmal das Multi-Kulti-ABC. So oder so ähnlich müssen die Leute gedacht haben, die Anfang Juli einen offenen Brief an PDS und WASG lancierten. Bis zum gestrigen Mittwoch zierten ihn stolze 282 Unterschriften, darunter die von sämtlichen Infoläden und Flüchtlingsinitiativen zwischen Flens- und Ravensburg und, mit Ausnahme von Oliver Tolmein, von so ziemlich allen Journalisten, die sich im Kampf gegen die deutsche Grammatik und andere Formen des Rechtspopulismus Verdienste erworben haben. Eigentlich trägt das Schreiben die Überschrift »Rassistischer Stimmungsmache entgegentreten!«; die instinktsichere taz hat es aber ganz zutreffend unter der Schlagzeile »Für die Linkspartei – trotz Lafontaine« präsentiert. »Fremdenfeindlicher Stimmenfang hat in einer Linkspartei nichts zu suchen«, zitiert das Blatt den Initiator Dario Azzellini von einer Gruppe mit dem kryptischen Namen FelS. »Gegen wen sich diese Kritik richtet, ist klar: gegen den Spitzenkandidaten Oskar Lafontaine«, schreibt die taz weiter. Wie aber kann man »für die Linkspartei – trotz Lafontaine« sein? Hätte sich der Saarländer nach der NRW-Wahl nicht eingemischt, gäbe es diese Partei doch gar nicht. Stattdessen würde die PDS bei Umfragen um die vier Prozent herumdümpeln, und die zaghaften Versuche eines Zusammenkommens mit der WASG wären längst von den Platzhirschen beider Seiten torpediert worden. Ohne Lafontaine hätte das ungleiche Paar nicht zusammengefunden, erst mit ihm begann der Quantensprung in den Umfragen. Wer Lafontaine in der Linkspartei demontiert, will diese Erfolge aufs Spiel setzen und wieder zurück in die Marginalität. So blöd sind die Initiatoren des offenen Briefes natürlich nicht, denn sie hoffen, daß sich bei einem schönen Wahlergebnis »auch die Rahmenbedingungen unserer Arbeit ... verbessern«. Ein Schelm, wer dabei an Geld denkt. Jedenfalls reicht die Cleverneß der Briefeschreiber so weit, daß sie das Lafontaine-Bashing nicht selbst übernehmen, sondern es nur der taz soufflieren. Ohne Roß und Reiter zu nennen, verlangen sie statt dessen, daß »rassistische, diskriminierende und fremdenfeindliche Untertöne« in linken Parteien keinen Platz haben dürften. Im weiteren listen sie eine ganze Reihe von Forderungen auf, deren Erfüllung das Leben von Immigranten und Flüchtlingen erträglicher machen soll. Selbstverständlich kann kein vernünftiger Mensch etwas gegen diese Punkte haben, vielleicht mit Ausnahme der etwas zu pauschal geratenen »Ablehnung von Abschiebungen«: Wenn ein paar albanischen Drogendealern oder anderen UCK-Kriminellen ihre Sozialhilfe hierzulande entzogen würde und sie ersatzweise wieder im Kosovo ein Auskommen finden oder – noch besser – in einem Belgrader Gefängnis Tüten kleben müßten, wäre das doch eigentlich eine feine Sache, oder? Zu den angeblich rassistischen Äußerungen in seiner »Fremdarbeiter«-Rede hat Lafontaine im übrigen mittlerweile mit dankenswerter Klarheit Stellung bezogen. In einem Zeitungsinterview Ende Juni – also noch vor Erscheinen des offenen Briefes – sagte er: »Wenn ich vor der Billiglohnkonkurrenz ausländischer Arbeitnehmer warne und dafür eintrete, die Arbeitnehmer in Deutschland davor zu schützen, habe ich auch Millionen ausländische Arbeitnehmer im Auge, die in Deutschland seit Jahrzehnten leben und Beiträge zahlen ... Wenn Facharbeiter im Fleischerhandwerk oder Fliesenleger ihre Arbeitsplätze verlieren durch Billiglohnkonkurrenz, dann muß eine demokratisch-sozialistische Partei dazu Stellung beziehen. Sie muß für die Menschen eintreten, die hier leben und ihre Familien zu ernähren haben ... Sie muß auch dann für diese Menschen eintreten, wenn Dritte Ausländerfeindlichkeit vorwerfen. Alle diejenigen, die Entsende-Richtlinien fordern, die also fordern, den Zuzug ausländischer Arbeitnehmer zu regulieren, wären nach der jetzigen Lesart meiner Kritiker Ausländerfeinde und Rechtspopulisten.« Das Zitat zeigt: So sehr die politisch Korrekten en detail Recht haben, wenn sie den Begriff »Fremdarbeiter« kritisieren, so sehr bleiben sie insgesamt unter dem Niveau von Lafontaines Ansatz. Der Unterschied ist fundamental: Der Sozialdemokrat spricht von den Interessen der Arbeiterklasse; die Briefeschreiber-Linke dagegen kapriziert sich auf die Verteidigung von Asylbewerbern und Flüchtlingen. Auf der einen Seite geht es um die Gewinnung von Mehrheiten, um eine »Politik für alle« – so der Titel von Lafontaines aktuellem Buch; auf der anderen Seite begnügt man sich mit Lobbying für Minderheiten und hat die Formulierung hegemoniefähiger Gesellschaftsvorstellungen längst aufgegeben. Oder denkt jemand, abstrakte Sozialismus-Schwärmerei wäre ein Ersatz dafür? Da war schon die Komintern mit ihren Übergangsprogrammen weiter. Eine Politik für Minderheiten nicht nur als selbstverständlichen Teil linker Praxis, sondern als Zentrum oder Pointe linker Identität anzusehen, war plausibel in der fordistischen Phase des Kapitalismus, als die Herrschenden die große Masse auf Kosten von unverheirateten Frauen, Hippies, Homosexuellen, Ausländern und so weiter in ihr System integrierten. Die neoliberale Offensive hat den Frontverlauf jedoch verändert: Zum einen wurde das Image und teilweise auch die Rechtsstellung der früher Stigmatisierten verbessert – Schwulsein ist mittlerweile hip, und mit dem neuen Staatsbürgergesetz kann ein Zugewanderter leichter als früher Deutscher werden. Zum anderen richtet sich der Hauptstoß von »Agenda 2010« und »Hartz IV« gegen die Mehrheit der Bevölkerung – also gegen die Normalos, die »ihre Familien zu ernähren haben« (Lafontaine). Zugespitzt gesagt: Der Fordismus war vor allem ausländerfeindlich, der Neoliberalismus ist vor allem inländerfeindlich (wobei, um es noch einmal zu betonen, unter Inländer auch die hier lebenden Arbeitsimmigranten zu fassen sind). Was not täte, wären Konzepte gegen diese Inländerfeindlichkeit, Konzepte zur Gewinnung der Normalos. Lafontaine hat dazu einiges vorgelegt, das man mit Gewinn einer sozialistischen Kritik unterziehen könnte. Doch dazu müßte man sich erst einmal auf diese Schwerpunktsetzung einlassen – anstatt weiter die Steckenpferde aus dem linken Kindergarten der neunziger Jahre zu reiten.“

 

Das vorbeugende Abhören von Telefongesprächen ist verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht kippte die entsprechenden Paragraphen des Niedersächsischen Sicherheitsgesetzes. Die Richter betonten dabei ausführlich Verstöße gegen die Grundrechte, obwohl das Gesetz bereits aus formalen Gründen verfassungswidrig sei: Das Land hätte gar kein derartiges Gesetz beschließen dürfen, so die Verfassungshüter, weil Strafverfolgung Sache des Bundes sei. Zudem sei in dem Gesetz das so genannte Zitiergebot verletzt: Wenn ein Gesetz Grundrechte einschränkt, dann muss das Gesetz dies ausdrücklich sagen. Damit soll verhindert werden, dass versehentlich Grundrechte eingeschränkt werden. Allein diese formalen Fehler hätten genügt, um das Gesetz für verfassungswidrig zu erklären. Doch das Bundesverfassungsgericht bemängelte auch inhaltlich vieles. So sei unklar, unter welchen Bedingungen ein Abhören erlaubt sei. Die Abhör-Möglichkeiten seien zudem unverhältnismäßig, und es fehlten Sicherungen gegen die Verletzung des absolut geschützten „Kernbereichs persönlicher Lebensgestaltung". Die Richter machten damit deutlich, dass die im Urteil zur Überwachung von Wohnungen gezogenen Grenzen auch in anderen Bereichen gelten. Datenschützer begrüßten das Urteil und forderten, auch andere Überwachungs-Gesetze auf den Prüfstand zu stellen. Ein Richter hatte gegen das niedersächsische Gesetz, das seit 2003 gilt, Verfassungsbeschwerde erhoben. Seine Karlsruher Kollegen gaben ihm nun Recht. Denn das Gesetz sah vor, dass die Polizei ohne konkreten Tatverdacht Telefone abhören darf. Dabei durften nicht nur Personen überwacht werden, „bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werden", sondern auch „Kontakt- und Begleitpersonen" dieser Menschen. Der Kläger hatte argumentiert, das Fernmeldegeheimnis sei verletzt, weil seine Telefongespräche heimlich abgehört und aufgezeichnet werden könnten, obwohl er unbescholten sei und ohne dass gegen ihn der Verdacht einer Straftat bestehe oder von ihm eine Gefahr ausginge. Auch sein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung sei verletzt. Ferner verletze die Regelung die Rechtsweggarantie, also das Recht, jede Entscheidung einer Behörde von einem Gericht überprüfen zu lassen. Denn die Überwachung werde dem Betroffenen nicht mitgeteilt und könne auch nicht bemerkt werden. Die Verfassungsrichter nahmen die Regelung des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung nach allen Regeln der Kunst auseinander: Das Gesetz setze nicht einen konkreten, in der Entwicklung begriffenen Vorgang oder eine Vorbereitungshandlung voraus. Es genüge stattdessen die Annahme, dass jemand Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werde. Das Gesetz enthalte keine einschränkenden Tatbestandsmerkmale, die die - gerade im Bereich der Vorfeldermittlung schwierige - Abgrenzung eines harmlosen von dem in eine Straftatenbegehung mündenden Verhaltens ermöglichten. Die Ausrichtung auf „Straftaten von erheblicher Bedeutung" trage nicht zu einer Präzisierung bei, so die Richter. Dieses Tatbestandsmerkmal biete keine Anhaltspunkte dafür, wann ein Verhalten auf die künftige Begehung solcher Straftaten hindeute. Nicht eindeutig sei ferner die Erlaubnis zur Überwachung von Kontakt- oder Begleitpersonen. Zu der Unsicherheit, wer als potenzieller Straftäter in Betracht komme, trete hier die Unklarheit, die mit dem Begriff der Kontakt- oder Begleitperson verbunden sei. Nach der gesetzlichen Definition sei dies jede Person, die mit dem potentiellen Straftäter so in Verbindung steht, dass durch sie Hinweise über die angenommene Straftat gewonnen werden könnten. Wann dies der Fall sei, lasse das Gesetz aber offen. Die Überwachungs-Erlaubnis sei auch insgesamt unverhältnismäßig. Durch die Überwachung ließen sich Einblicke insbesondere in das Kommunikationsverhalten, das soziale Umfeld sowie persönliche Gewohnheiten der überwachten Person gewinnen. Dieser schwere Eingriff sei nur dann zulässig, wenn das Interesse der Allgemeinheit an dieser Grundrechts-Einschränkung überragend wichtig sei. Doch das Gesetz spricht nur von nicht näher eingegrenzten Tatsachen, die die Annahme einer künftigen Straftat rechtfertigen. Dass das Gesetz von „Straftaten von erheblicher Bedeutung" spreche, helfe auch nicht. Weder seien diese klar definiert, noch sei ein auf die Besonderheiten der Telekommunikationsüberwachung im Vorfeld zugeschnittenes gesetzgeberisches Konzept zu erkennen, das sich auf den Schutz besonders hochrangiger Rechtsgüter beziehe und beschränke. Das Gesetz enthalte auch keine hinreichenden Vorkehrungen, um Eingriffe in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung zu vermeiden. Die Verfassungsrichter betonten zwar, für die Telefonüberwachung gälten nicht die gleichen Anforderungen wie an einen so genannten Großen Lauschangriff, bei dem die Wohnung abgehört wird. Doch sei die Telefon-Überwachung allenfalls bei einer besonders starken Gefährdung eines besonders wichtigen Rechtsguts hinzunehmen. Es müsse zudem konkrete Anhaltspunkte für einen unmittelbaren Bezug zur zukünftigen Begehung der Straftat geben. Erforderlich seien auch Sicherungen, dass intime Gespräche nicht verwertet und dass sie unverzüglich gelöscht würden, wenn sie ausnahmsweise doch abgehört worden seien.

 

Der Konflikt um die Reform des UN-Sicherheitsrates eskaliert nunmehr zur Schlammschlacht. Italien, das mit allen Mitteln eine Vollmitgliedschaft der BRD verhindern will, offenbarte dabei die Methoden, mit der die G-4 aus der BRD, Japan, Brasilien und Indien vorgeht: Die vier Staaten haben nach Angaben des italienischen UN-Botschafters Marcello Spatafora Entwicklungshilfe-Empfängern mit der Zahlungseinstellung gedroht, wenn sie nicht für den Reformvorschlag der G-4 stimmen würde. Spatafora verglich die angebliche Erpressungstaktik der G-4 ausdrücklich mit den Korruptionsvorwürfen gegen das einstige Irak-Hilfsprogramm der UN „Öl für Lebensmittel". Das „unzulässige und unethische Benehmen ist eine Schande und eine Beleidigung der Würde aller UN-Mitgliedstaaten". Der Sicherheitsrat besteht derzeit aus 5 ständigen Mitgliedern mit Vetorecht (USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China) sowie 10 jeweils auf ein Jahr gewählten Mitgliedsstaaten. Dem G-4-Entwurf zufolge soll er auf 25 Staaten erweitert werden, und zwar durch 4 rotierende und 6 ständige Mitgliedschaften. Als ständige Mitglieder ohne Vetorecht sind – auch wenn sie es nicht offen aussprechen - die G 4 sowie zwei afrikanische Länder vorgesehen. Für die Reform wird eine Zweidrittelmehrheit unter den 191 UNO-Staaten benötigt, ebenso die Zustimmung aller Vetomächte. Der bundesrepublikanische Vertreter Pleuger wies die italienischen Vorwürfe energisch zurück, und die indische Regierung bestellte den italienischen Botschafter zwecks Übergabe einer offiziellen Protestnote ein. Mehrere Staaten der von Italien initiierten Gruppe „Vereint für Konsens“ distanzierten sich von den Vorwürfen. Pikanterweise wurde bekannt, dass die Italiener mit vergleichbaren Bandagen kämpfen wie die G-4: So drohte Rom Albanien mit der Streichung eines Entwicklungshilfeprojektes im Volumen von 220 Millionen Euro, wenn es dem Vorschlag der Konkurrenz zustimmen sollte. Zuvor hatte die derzeit 12 Staaten umfassende Konsens-Gruppe, zu der unter anderem Argentinien, Kanada, Pakistan, Spanien und die Türkei gehören, einen eigenen Resolutionsentwurf für die Reform des Sicherheitsrates in die UN-Vollversammlung eingebracht. Dieses nunmehr dritte Modell für eine Ratsreform richtet sich gegen die Aufnahme neuer ständiger Mitglieder in das Gremium. Es sieht die Erweiterung des Rates allein um zehn jeweils für zwei Jahre gewählte Staaten auf insgesamt 25 Mitgliedsländer vor. Die Erweiterung ausschließlich durch nichtständige gewählte Staaten sei das „gerechteste und am meisten demokratische" Modell, erklärte Kanadas UN-Botschafter Allan Rock in der Debatte. Demgegenüber würden die Forderungen der G-4 sowie der Afrikanischen Union (AU) nach sechs neuen ständigen Ratssitzen die 191 UN- Mitgliedstaaten entzweien. Vertreter von G-4 und AU verhandeln derzeit hinter den Kulissen über einen Kompromissvorschlag. Das wiederum animierte das US-Außenministerium, das dem G-4-Vorschlag ablehnend gegenübersteht, einen hochrangigen Vertreter auf Rundreise nach Afrika zu schicken. Viele afrikanische Regierungen sind abhängig vom Wohlwollen der USA, wobei es nicht nur um Finanzspritzen oder so genannte Militärhilfen geht. Ein spezielles US-Gesetz etwa besagt, dass für einen afrikanischen Staat nur dann bestimmte Handelsbarrieren zu US-Märkten nicht gelten, wenn er nichts unternimmt, was die außenpolitischen Interessen der USA beeinträchtigt. Japan ging bereits weiter als seine G-4-Partner und drohte an, bei Nichterhalt eines Ständigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat seine Beitragszahlungen an die Vereinten Nationen zu kürzen. Im Jahr 2004 kam Tokio für 19,5 % des regulären UN-Haushaltes auf und ist zweitwichtigster Beitragszahler nach den USA und vor der BRD, die nur knapp 10 % beisteuert.

 

Die kolumbianische Regierung hat trotz verlustreicher Kämpfe ihre grundsätzliche Bereitschaft zu Verhandlungen mit den linken FARC-Rebellen über einen Austausch von Geiseln gegen inhaftierte Guerilleros bekundet. Der Friedensbeauftragte der Regierung, Luis Carlos Restrepo, erklärte, Präsident Alvaro Uribe habe ihn beauftragt, „sofort ein direktes Treffen" mit den Rebellen an einem Ort ihrer Wahl anzustreben. Zuvor war bereits bekannt geworden, dass Uribe nach jahrelangem Widerstand zur Einrichtung einer entmilitarisierten Zone für einen Austausch bereit sei. Damit würde der konservative Staatschef eine der Hauptforderungen der nationalmarxistischen „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens" für den Austausch von Geiseln, darunter die frühere Präsidentschaftkandidatin Ingrid Betancourt, gegen inhaftierte Guerilleros erfüllen. Uribe habe mit der Kehrtwende auf Druck der USA und Frankreichs reagiert und auch seine Wiederwahl im nächsten Jahr im Auge gehabt, vermutete der frühere Bürgermeister der Hauptstadt Bogotá und Ex-Staatsminister, Jaime Castro. In der Tat ist Uribe gut beraten, die über eine von seiner Regierung initiierte Amnestieregelung für demobilisierte Kämpfer der rechtsgerichtenen AUC-Paramilitärs aufgebrachte kolumbianische Öffentlichkeit zu besänftigen. Zugleich bombardierte die Luftwaffe ein FARC-Lager im Südwesten, in dem sich Rebellensprecher Raul Reyes aufgehalten haben soll.

 

Die irische Untergrundorganisation Provisional IRA gab in einer viel beachteten Erklärung bekannt, dass sie den bewaffneten Kampf gegen die britische Kolonialmacht für immer einstellt, ihre Einheiten zur Abgabe der Waffen auffordern und ihr Waffenarsenal unbrauchbar machen wird. Fortan soll die irische Wiedervereinigung nur noch auf friedlichem und politischem Wege, sprich via Sinn Féin, erreicht werden. Bereits im Vorfeld hatten die Sinn Féin-Frontleute Gerry Adams und Martin McGuinness sowie der irische Parlamentsabgeordnete Martin Ferris ihre Posten im IRA Army Council niedergelegt. Ironischerweise dementierte gerade der Sinn Féin-Parteivorsitzende Adams seit Jahr und Tag, Angehöriger des IRA-Oberkommandos zu sein. Für die drei Abgänge scheinen die Brigadekommandeure von South Armagh, Tyrone und Belfast nachgerückt zu sein, um die Kontrolle der nordirischen Kompromisslerfraktion über die Gesamtorganisation sicherzustellen. Erstmals besteht der Army Council damit ausschließlich aus nordirischen IRA-Kommandeuren, davon kommen alleine 4 aus Belfast. Damit gab der bewaffnete Arm der republikanischen Bewegung der bereits im April gestellten Forderung der Parteiführung nach, die Waffen endgültig niederzulegen und beendete die Doppelstrategie „bullet and ballot box“. Erstmals seit der Teilung Irlands im Jahre 1920 haben die irischen Linksnationalisten damit einer militärischen Lösung entsagt. John de Chastelains Entwaffnungskommission wird nun einen genauen Zeitfahrplan vorlegen. Die Unbrauchbarmachung des Waffenarsenals wird wohl im Verlauf des August beginnen und von der Chastelain-Kommission und Vertretern der katholischen und protestantischen Kirchen beaufsichtigt werden. Als vertrauensbildende Geste im Voraus setzten die britischen Behörden den vor einigen Wochen inhaftierten IRA-Aktivisten Séan Kelly wieder auf freien Fuß. Nach Bekanntgabe der IRA-Erklärung machten sich die britischen Truppen und die nordirische Polizei umgehend daran, an der Demarkationslinie zur Republik Irland eine Reihe von Stationen, Beobachtungstürmen und Wachposten abzubauen. Im September stehen Verhandlungen an, um die Rückkehr Nordirlands zu beschränkter Selbstregierung und die Wiedereröffnung des Regionalparlaments einzuleiten. Die Gesellschaft für bedrohte Völker meldete sich zu Wort und forderte die britische Regierung zu einer tief greifenden Reform der nordirischen Polizei auf, da diese nach wie vor teilweise mit protestantischen Untergrundgruppen verflochten sei.

 

Mit dem Gewaltverzicht der Provisional IRA wächst der politische Druck auf die ETA, die nunmehr abgesehen von den Neuen Roten Brigaden in Italien die einzige nennenswerte operative Terrorgruppe Westeuropas ist. Trotz ständiger Beteuerungen ihrer Dialogbereitschaft legte die Organisation allerdings erneut zwei Bomben. Die Sprengsätze explodierten an zwei Ausfallstraßen der Hauptstadt Madrid. Zwar wurde dabei niemand verletzt, doch der Urlaubsverkehr wurde schwer behindert. Bereits im Dezember hatten die baskischen Separatisten zu ähnlichen Anschlägen gegriffen. Der spanische Regierungschef José Luis Zapatero mahnte zu Ruhe und Vertrauen. Es sei nicht so einfach möglich, Parallelen zwischen Nordirland und dem Baskenland zu ziehen, warnte er vor verfrühter Hoffnung. „Jede Situation hat ihre Eigenheiten." Abermals betonte Zapatero, zum Dialog mit der ETA bereit zu sein. Ein entsprechendes Angebot – Vorbedingung ein definitiver Gewaltverzicht - hatte der Sozialdemokrat vor wenigen Monaten im Parlament mit Erfolg zur Abstimmung gestellt. Seit dem Madrider Verhandlungsangebot verübte die ETA beinahe ein Dutzend Sprengstoffanschläge. Im baskischen San Sebastián kam es derweil zu den schwersten Unruhen seit langem, nachdem nahe der Stadt Cahors im französischen Teil der Region kam der mutmaßliche ETA-Aktivist Imanol Gómez unter dubiosen Begleitumständen während einer Polizeikontrolle ums Leben kam. Baskische Jugendliche und Batasuna-Anhänger lieferten sich heftige Straßenschlachten mit der Polizei, ETA-Bomben beschädigten eine Fabrik bei Guernica und eine Bank im galicischen Santiago de Compostela. Ferner wurden eine Reihe von Postämtern und sozialistischen Parteibüros mit Brandsätzen angegriffen. Bei Razzien in Navarra und dem Baskenland nahm die spanische Polizei 6 angebliche Angehörige der ETA fest.

 

Im Juli stieg die offiziell bekannt gegebene Arbeitslosigkeit auf 4,772 Millionen Personen und bundesweit 11,5 %. Wie üblich fehlen hier die Ein-Euro-Jobber und sonstigen Maßnahmenteilnehmer, ebenso wie 64.000 Arbeitslose aus den Optionskommunen – nur 29 von 69 dieser Gemeinden sind imstande, brauchbare Zahlen zu melden. Im Vergleich zum Vormonat beträgt die Zunahme 68.000 Personen, gegenüber dem Juli 2004 sind es 412.000 Erwerbslose mehr. Die volkswirtschaftlichen Abteilungen der Banken rechnen mit einer Zunahme um weitere 100.000 Erwerbslose in den nächsten Monaten (Entlassungen zur Ferienzeit, Schüler ohne Lehrstelle). Der Stellenabbau dauert derweil unvermittelt an: In den 12 Monaten zwischen Mai 2004 und Mai 2005 ging die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, also der Normalarbeitsplätze, um 356.000 oder 1,3 % zurück. In den vergangenen drei Jahren wurden in der Industrie nahezu 2000 Betriebe geschlossen und 280.000 Arbeitsplätze abgebaut. Die Lage auf dem Lehrstellenmarkt sieht ebenfalls düster aus: Die Zahl der gemeldeten Ausbildungsplätze ging seit dem vergangenen Herbst um gut 10 % auf rund 405.600 zurück. Demgegenüber ist die Zahl der Bewerber mit 673.000 nahezu unverändert. Laut der BA-Statistik haben bisher 246.400 Jungarbeitnehmer noch keine Lehrstelle. Gleichzeitig gibt es aber nur 76.500 freie gemeldete Plätze.

 

In den neuen Ländern droht auf Sicht von 15 Jahren ein massiver Beschäftigungsabbau. Das geht aus einer Prognose hervor, die das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) veröffentlichte. Unter den bisherigen Rahmenbedingungen sei damit zu rechnen, dass die Zahl der Erwerbstätigen in Ostdeutschland bis zum Jahr 2020 um eine Million zurückgehen werde. Im Westen hingegen sei bis dahin mit 2,3 Millionen Erwerbstätigen mehr zu rechnen. Zurzeit gibt es in Deutschland 39 Millionen Erwerbstätige, davon 7,4 Millionen im Osten inklusive Berlin. Das IAB ist die Forschungsabteilung der Bundesagentur für Arbeit. Insgesamt seien die Beschäftigungsaussichten für die neuen Länder jetzt schlechter als bei einer Prognose vor drei Jahren. „Ein eigendynamischer Aufschwung scheint derzeit in weite Ferne gerückt.“ Hauptgrund dafür sei, dass die Produktivität der Erwerbstätigen wie auch die Wirtschaft im Osten voraussichtlich deutlich langsamer wachsen wird als im Westen. Die IAB-Experten betonen aber, dass ihre Prognose nicht die Zukunft voraussagen könne. Die Annahmen bezögen sich auf stabile Rahmenbedingungen, die in natura veränderlich sind. Ohnehin ist die Lage miserabel, da geschlagene 725.000 Industrie-Arbeitsplätze fehlen, um das westdeutsche Niveau zu erreichen. Mit 290 Industriearbeitsplätzen auf 10.000 Einwohner steht Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise aber noch besser da als das gebeutelte Bremen (240).

 

In Berlin steigt die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die ausschließlich von staatlicher Unterstützung leben, kontinuierlich an. Noch Ende des letzten Jahres war fast jeder fünfte Minderjährige unter 18 Jahren auf Sozialhilfe angewiesen - insgesamt 96.112 Heranwachsende von rund 520.000. Im März, drei Monate nach Inkrafttreten von Hartz IV, erhielten 121.000 Kinder unter 15 Jahren über ihre Eltern Leistungen durch das Arbeitslosengeld II. Die Daten der 18-Jährigen sind hier nicht mitgezählt; sie liegen schlichtweg noch nicht vor. Im Vergleich zu anderen Bundesländern schneidet Berlin schlecht ab: Laut einer Studie des Kinderhilfswerks Unicef aus dem Frühjahr ist bundesweit etwa jedes zehnte Kind von Armut betroffen - schätzungsweise 1,5 Millionen. Auch im gesamten Osten der BRD liegt die Quote der Kinderarmut mit 12,6 % deutlich niedriger als in der Bundeshauptstadt mit 18,5 %. Nach den Daten vom Jahresende 2004 stellen Minderjährige in Berlin bis zu 18 Jahren mit 35,9 % insgesamt mehr als ein Drittel aller damals noch registrierten 270.000 Sozialhilfeempfänger. Rund 47.000 Kinder sind unter sieben Jahre alt, rund 36.000 unter 15 Jahre. Von den bedürftigen Heranwachsenden lebten schätzungsweise 29.000 in Haushalten mit nur einem Elternteil. Zu den Alleinerziehenden zählen aber nur 1.732 Männer. Neben den Alleinerziehenden gilt auch der Nachwuchs von Migranten als besonders betroffen. Zwischen den einzelnen Bezirken in Berlin gibt es erwartungsgemäß erhebliche Schwankungen. In Mitte etwa gehört mit 30,2 % fast jedes dritte Kind oder jeder dritte Jugendliche zu den Sozialbedürftigen. Danach folgen Friedrichshain-Kreuzberg mit 29,4 % und Neukölln mit 29,2 %. Auf dem vierten Platz liegt Spandau mit 21,3 %. Nur im Bezirk Steglitz-Zehlendorf bleibt die Quote mit 8,1 % Sozialbedürftigen im einstelligen Bereich. Die staatliche Hilfe beanspruchen Familien gut dreieinhalb Jahre lang, Familien mit mehreren Kindern deutlich mehr als vier Jahre.

 

Die gesundheitlichen Folgen der Armut belegt eine repräsentative Studie der TU Berlin. Die Auswertung der Daten von knapp 7000 Frauen und Männern ließ einen deutlichen Zusammenhang zwischen der sozialen Lage und dem Sterberisiko erkennen. In den unteren Schichten ist es im Vergleich zur höchsten mehr als doppelt so hoch. Die vom Institut für Gesundheitswesen durchgeführte Erhebung stützte sich auf die Daten von 31 bis 69 Jahre alten Personen, die im Jahr 1984 unter anderem zu ihrer sozioökonomischen Lage und ihrem Gesundheitsverhalten befragt worden waren. Von ihnen verstarben 901 Personen während des Untersuchungszeitraumes. Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt zur Erforschung der objektiven und subjektiven Gesundheitssituation in der BRD hatte mehr als die bloße Darstellung des Zusammenhangs von sozialer Lage und Gesundheitszustand zum Ziel. Untersucht wurden darüber hinaus die ursächlichen Wirkungsfaktoren, über die bisher wenig bekannt ist. Die geringere Lebenserwartung der unteren sozialen Schichten kann zwar teilweise auf gesundheitsschädigende Verhaltensweisen wie Tabak- und Alkoholkonsum, seltenere Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen oder unregelmäßiges Frühstück zurückgeführt werden – aber eben nur teilweise. Selbst, wenn man von diesen Faktoren absieht, ist in den unteren sozialen Schichten ein erhöhtes Sterberisiko zu verzeichnen. Wirkungsmechanismen, die mit dem objektiven Gesundheitszustand nicht erfasst werden können, verhandelt die Studie unter dem Schlagwort „subjektive Gesundheit“. Kurz gesagt kommt sie dabei zu einem Ergebnis, das ähnliche Studien aus dem Ausland bestätigen: Je schlechter die eigene Gesundheit eingeschätzt wird, desto höher ist die Sterbewahrscheinlichkeit. Menschen mit einer schlechteren subjektiven Gesundheit hatten in der Regel ein kürzeres Leben. Selbstredend ist diese subjektive Gesundheit abhängig von der psychosozialen, letztlich materiellen Lebenssituation. Ein Faktor, der diese subjektive Gesundheit bestimmt, wurde im Rahmen der Studie gesondert unter die Lupe genommen: die Arbeitslosigkeit. Was dabei festgestellt werden konnte, vermag kaum zu überraschen, war aber wissenschaftlich bislang nicht bewiesen: Erwerbslose schätzen ihren eigenen Gesundheitszustand allgemein schlechter ein als Berufstätige. Darüber hinaus konnte ein Zusammenhang zwischen der Dauer der Arbeitslosigkeit und der sich verschlechternden Gesundheit festgestellt werden.

 

Das US-Außenministerium bestätigte eine Meldung der „Washington Post“, der zufolge Usbekistan die USA am Freitag aufgefordert hat, binnen 180 Tagen die gesamte Luftbasis Karshi-Khanabad (genannt K-2) zu räumen. Die US-Botschaft in Taschkent habe eine diplomatische Note der usbekischen Regierung erhalten, in der ihr die Nutzungsrechte für den Stützpunkt im Süden des Landes entzogen wurden. Ein offizieller Grund wurde dem Zeitungsbericht zufolge nicht genannt. Hingewiesen wurde jedoch auf den bevorstehenden Besuch eines hohen US-Regierungsvertreters in Taschkent. Dieser wollte diese Woche von Usbekistan die Durchführung einer internationalen Untersuchung des Massakers von Andishan, wo das Militär Mitte Mai hunderte zivile Demonstranten erschossen hatte, erreichen und auf Reformen drängen. Die USA können den Verlust von Karshi vorerst mit ihren verbleibenden Stützpunkten in Kirgisien und Tadschikistan kompensieren. Mit diesen beiden Ländern ist US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld letzte Woche übereingekommen, die Militärpräsenz so lange wie nötig aufrechtzuerhalten. Dass man freilich auch in diesen Staaten zunehmend ungeduldig ist, gab vor kurzem die zentralasiatische Gruppe der „Schanghai-Sechs", zu der auch China und Russland gehören, zu verstehen: Sie forderte von den USA einen Zeitplan für den Abzug. Allgemein wird dahinter die Regie Russlands vermutet. Unbestätigten Informationen zufolge soll Rumsfeld die neue kirgisische Führung mit einem zinsenfreien Kredit von 200 Millionen Dollar (60 % des kirgisischen Jahresbudgets) auf seine Seite gebracht haben. Gleich nach Rumsfelds Abreise haben sich die kirgisische und die tadschikische Staatsführung allerdings breit über die sicherheitstechnischen Vorteile der strategischen Partnerschaft mit Moskau ausgelassen. Tadschikistan hat seine Bande mit Russland gerade im letzten Jahr verstärkt, der Errichtung einer permanenten Militärbasis zugestimmt und der russischen Wirtschaft einen privilegierten Zutritt zu Großprojekten verschafft. Russland strich im Gegenzug 350 Millionen Dollar Schulden. Die BRD sieht sich von den Schwierigkeiten der Amerikaner nicht betroffen. Da Berlin die haarsträubende Menschenrechtslage in Usbekistan bevorzugt mit dem Mantel des Schweigens verhüllt, dürfte die Bundeswehr auch weiterhin ihre Basis in Termez nahe der afghanischen Grenze nutzen können.

 

In Tschechien findet derzeit bekanntlich eine Debatte um das Verhältnis zu den nach dem Zweiten Weltkrieg vertriebenen Sudetendeutschen statt. Während Ministerpräsident Paroubek nach einer Geste wenigstens an die Adresse sudetendeutscher Antifaschisten strebt, lehnt Staatspräsident Klaus ein solches Ansinnen ab und warf seinem Regierungschef vor, „den Verstand verloren“ zu haben. In dieser Situation setzte der Oberbürgermeister von Aussig, Petr Gandalovic, ein Zeichen. Hier kam es am 31. August 1945 zu einem Massaker an der deutschen Bevölkerungsgruppe, dem je nach Lesart zwischen 50 und 2700 Menschen zum Opfer fielen. Gegen den Widerstand der kommunistischen Stadtratsfraktion und von Teilen der Sozialdemokraten setzte Gandalovic die Anbringung einer Gedenktafel als „ein Zeichen der Versöhnung“ durch. Bernd Posselt als Bundesvorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft begrüßte die Aktion als „zukunftsweisendes Signal für ein gutnachbarliches Zusammenleben“.

 

In der „jungle world“ vom 27.Juli setzte sich Ulrich Weiß mit der Illusion eines „nicht kapitalistischen Kapitalismus“ auseinander: „Du hast viel Zeit, bekommst regelmäßig Geld und lebst in einer reichen Gesellschaft, verbrauchst Wert und hältst dir zugleich die Arbeitsgesellschaft vom Halse. Kurz, du kriegst Existenzgeld. Wunderbar. Nur, die Sache funktioniert nicht; genauer: nicht massenhaft und nicht mehr. Wieso? Die Gesellschaft ist reich, der Reichtum ist nur ungleich verteilt. Arbeitswillige haben immer weniger Chancen, mit Erwerbsarbeit ihre Existenz zu sichern. Kann das soziale Netz, das Jahrzehnte Alte, Kranke, Kinder und Arbeitslose einigermaßen auffing, diese Leute nicht mehr tragen? Oder: Her mit den 1 000 Euro oder zwei Dritteln des Durchschnittseinkommens! Die Politik zwingen und Umverteilung durchsetzen? Der sachliche Reichtum dieser Gesellschaft wird in einer solchen sozialen Form produziert, dass man nur über Geld an ihn herankommt. Die Produktion und Aneignung von Produkten lässt sich durchaus auch anders vorstellen – in einer nicht kapitalistischen Produktionsweise. Die Verteilung nach Bedürfnissen ist gar nicht mehr so utopisch. Doch das Existenzgeld zu fordern, heißt, die bestehende Produktionsweise anzuerkennen und nach einem Anteil am kapitalistisch produzierten Wert zu rufen. Existenzgeld ist, über den Staat verteilt, Zugriff auf diesen. Er soll gratis erfolgen. Die Nutznießer selbst schaffen ihn nicht. Andere, die Lohnarbeiter, müssen sich genau dem unterwerfen, was die Empfänger des Existenzgeldes, als Arbeitssuchende oder als glückliche Arbeitslose, nicht tun: sich den Zumutungen der Verwertung aussetzen. Schön für die Erwerbstätigen, oder? »Was redest du von Wert und Produktion?« wird mir entgegnet. »Es geht doch um Zivilisation, Kultur, politische Kräfteverhältnisse. Geld ist genug da!« Aber wer den Wert – auch das Existenzgeld – im Himmel, im Handel oder durch Raub und Betrug oder guten Willen entstehen lässt, wer den Zusammenhang zwischen sachlichem Reichtum und der sozialen Form, hier der Warenform, ignoriert, der will glauben und nicht wissen. Er ist ein Fall für Seelsorger und Politikersprüche. Im Kapitalismus sind die unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln getrennt. Menschen kommen zu Lebensmitteln nur über die Wertform, über Geld. Den Arbeitenden geht es nicht um die konkreten Produkte, die sie herstellen, sondern um den Lohn, um möglichst viel davon. Auch für Unternehmer sind nicht die Produkte das eigentliche Produktionsziel, sondern die Verwertung von Wert. Ohne Produktion von Wert und Mehrwert gibt es weder eine kapitalistische Produktion noch einen verteilbaren Wert. Wie vermittelt auch immer: Arbeiter, Unternehmer, Aktien, die spekulativsten Kapitalanlagen, über den Staat verteilte Ressourcen – alle diese Momente sind den Notwendigkeiten der Verwertung unterworfen. Kapital, Verwertung von Wert – das ist das eigentliche Subjekt. Die Befürworter des Existenzgeldes wollen diesen Wert anzapfen. Wer das will, muss auch wollen, dass die Verwertung klappt. Es war einmal eine fordistische Produktionsweise. Sie benötigte einen Sozialstaat, eine Art große Verteilanstalt von Existenzgeld, und machte ihn auch möglich. Der Staat sicherte die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Produktion, die von kapitalistischen Unternehmen selbst nicht profitabel hergestellt werden konnten: Straßen, Eisenbahnen, Post, Schulen, Krankenhäuser usw. Er sorgte für gebildete, belastbare, disziplinierte Lohnarbeiter. Dafür zog er Wert von dem in den Produktionen geschaffenen ab. Geht es um Steuern, heulen betriebswirtschaftlich orientierte Unternehmer auf. Und doch lag dieser staatliche Wertabzweig im Interesse der Kapitalistenklasse und auch in dem der Lohnarbeiter, die ihn hart erkämpfen mussten. Diese Umverteilungen sicherten die Existenz und den zivilisatorischen Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaft. Auch in der innerfamiliären, meist weiblichen, Reproduktionsarbeit werden unverzichtbare Bedingungen für das Kapital geschaffen: als Arbeitskräfte verwertbare Menschen. Dies geschieht nicht in Form wertschöpfender Lohnarbeit. Die Werte, die hier verbraucht werden, waren bzw. sind noch im Lohn der »Ernährer« enthalten – im Existenzgeld für nicht lohnarbeitende Familienmitglieder. Eine staatlich und familiär gesicherte Voraussetzung für die Produktion: Bis in den Fordismus hinein trug dies die kapitalistische Verwertungsmaschine. Und das wird nun gerade zu Geschichte. Steigende Arbeitsproduktivität senkt die für die jeweilige Ware verausgabte Arbeitszeit und reduziert somit die Quelle des Werts. Das Kapital untergräbt seine eigene Basis. Wieso aber funktionierte es bisher, wieso konnte der Sozialstaat den Wert für allgemeine Aufgaben einsetzen und der Profit stimmte trotzdem? Trotz steigender Produktivität wuchs die Zahl der Arbeitskräfte. Der Einschränkung der Wertquelle standen andere Tendenzen entgegen. zum Beispiel die Ausweitung der gegebenen Produktion und die neuen Produkte. Einstige Luxusgüter (Autos, Möbel, hochwertige Haushalts-, Unterhaltungsgeräte) wurden für den Massenverbrauch industriell hergestellt, und zwar in solchem Maße, dass die steigende Produktivität, die Verwertung, der wachsende Bedarf an Arbeitskräften und das soziale Netz vereinbar waren. Die Verwertung des Lebens erfasste immer mehr Tätigkeiten und menschliche Beziehungen, die als Bedingung menschlicher Existenz meist außerhalb der Wertproduktion geleistet bzw. gestaltet wurden: in der Erziehung, der Hausarbeit, der Pflege, im Sport, in der Freizeit etc. Biologische Prozesse, auch die Entstehung des Menschen, wurden zum Geschäftszweig. Unmittelbare Lebensfunktionen wurden in der Warenform realisiert oder bei Zahlungsunfähigkeit gar nicht mehr. Die Entstaatlichung führte dazu, dass einstige Staatsaufgaben von einzelnen Unternehmen selbst profitabel erfüllt wurden. Infrastrukturen, soziale Einrichtungen wie Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, alle möglichen so genannten Hoheitsaufgaben wurden zum unmittelbaren Verwertungsfeld. Die Produktivität und die globale Beweglichkeit von Kapital und Arbeit ermöglichten das. Die »allgemeinen Bedingungen des gesellschaftlichen Produktionsprozesses« würden nicht mehr »aus dem Abzug der gesellschaftlichen Revenu hergestellt (…), sondern aus dem Kapital als Kapital. Es zeigt dies den Grad (…), worin das Kapital sich alle Bedingungen der gesellschaftlichen Produktion unterworfen« habe. Diese Entstaatlichung sei »die höchste Entwicklung des Kapitals«, schreibt Karl Marx. Der Fordismus hat seinen Höhepunkt überschritten, beim heutigen Stand der Produktivität bedeuten Investitionen meist Entlassungen. Die oben genannten Gegentendenzen zur Einengung der Wertquelle sind erschöpft oder sie schließen direkt die zahlungsunfähigen Menschen von der Möglichkeit aus, selbst ihre Lebensfunktionen zu sichern. Wo das Kapital selbst die allgemeinen Bedingungen des gesellschaftlichen Produktionsprozesses sichert, kann der Staat die Alimentierung der endgültig Herausgefallenen auch nicht mehr sichern. Es ist auch unnötig, werden diese doch ohnehin nicht mehr für den zukünftigen Verwertungsprozess gebraucht, und Moral oder Glaube produzieren keinen verteilbaren Wert. Kann der Staat dem nicht entgegenwirken? Über Steuern zieht er seine Potenzen aus einer funktionierenden kapitalistischen Produktion, aus der Verwertung von Wert. Will er handlungsfähig sein, muss er diese sichern. Beim Stand der heutigen Produktivität aber heißt das, noch mehr Leute zu entlassen, die Verwertungsbasis noch weiter einzuschränken, weitere so genannte Hoheitsaufgaben an die private Wirtschaft abzutreten. Der galoppierende Kapitalismus treibt so auch seinen »eigenen« Staat in ein Dilemma, an dem keine politische Konstellation etwas ändern kann. Die Forderung nach einem Existenzgeld setzt auf einen unmöglich gewordenen zivilisationsverträglichen Kapitalismus. Doch einen fordistischen Sozialstaat kann es nicht mehr geben. Menschliche Existenz zu sichern und sachlichen Reichtum anzueignen, heißt heute, Wege aus dem Kapitalismus zu suchen. Arbeitslosigkeit in der bürgerlichen Form ist eine Katastrophe, bedingt durch eine Produktivitätsentwicklung, durch die »die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden«, durch die sich der produzierende Mensch zunehmend »als Wächter und Regulator zum Produktionsprozess selbst« verhalte und »neben den Produktionsprozess« trete, »statt sein Hauptagent zu sein«, schreibt Marx. Menschlich steckt aber genau darin die Möglichkeit eines neuen Produzierens und Lebens. Mit wenig Arbeit über großen sachlichen Reichtum zu verfügen – wunderbar. Abzulehnen sind Banken, Staatsapparate, Werbung, Repräsentationszwänge, ökologisch Bedenkliches, das Militärische – alles, was Herrschaftsstrukturen geschuldet ist und der ihnen zugrunde liegenden Wertform. Diese aber betet das auch noch vergeblich.

 

Lagefeststellung - Beurteilung der Situation - Möglichkeiten des Handelns - Entschluss - Umsetzung - Kontrolle

 

Zur Startseite!