Wochenschau

 

Die politische Wochenschau

 

vom 9. bis 15. Juli 2005


Auf der Sommerakademie der Friedensakademie Schladming der sprach der Militärforscher Peter Lock über neue Konfliktformen in der „Dritten Welt“. Laut Lock ändert sich von der Weltöffentlichkeit unbeachtet durch eine Schattenglobalisierung die Gestalt militärischer Gewaltanwendung. „Die überwiegende Zahl der Staaten hat längst die Kapazitäten verloren, Kriege zu führen, da sich mit dem Ende des Kalten Krieges die Rahmenbedingungen für die Parteien bewaffneter Auseinandersetzungen - vor allem in der 'Dritten Welt' - grundlegend verändert haben.“ Die herkömmliche Definition von Krieg als zwischenstaatlicher Konflikt ist damit veraltet. Während für die Kriegsökonomien des 20. Jahrhunderts meist eine staatlich gelenkte Mobilisierung der Wirtschaft typisch war, so greifen die Akteure der neuen Kriege auf andere Formen der kriegerischen Reproduktion zurück. Er prognostiziert, dass bewaffnete zwischenstaatliche Kriege im Süden abnehmen, gleichzeitig jedoch bewaffnete Konflikte zunehmen würden, auch wenn letztere durch unsere Anschauung von Krieg nicht mehr als solche wahrgenommen würden. Überwiegend handle es sich bei diesen Konflikten um innerstaatliche, auf vergleichsweise niedrigem militärtechnischem Niveau ausgetragene Auseinandersetzungen, die nicht mit Bürgerkriegen zu vergleichen seien. Die Ursache für diesen Wandel der kriegerischen Auseinandersetzung sieht Lock in den Verfehlungen der globalen Wirtschaftspolitik für die Länder der „Dritten Welt", die im Zerfall der staatlichen Strukturen, in steigender Arbeitslosigkeit sowie rasanter Urbanisierung münde. Auch die zunehmend auf Export ausgerichtete Landwirtschaft zerstöre die in wirtschaftlichen Krisen die Überleben sichernde Elastizität des kleinbäuerlichen Produzierens als auch deren gesellschaftliche Kohäsion. Daraus folge der langfristige Trend zur Urbanisierung bei gleichzeitig beschleunigter Informalisierung der Wirtschaft. Allein in den vergangenen zehn Jahren sei die städtische Bevölkerung in der „Dritten Welt" um 36 % gewachsen, rund vier Milliarden Menschen würden dem informellen Sektor zugerechnet. Informalität bedeute für die davon betroffenen Menschen, dass die klassischen Funktionen des Staates für sie nicht mehr zugänglich seien. Und gerade deswegen könnten sich, so Lock, „alternative Sicherheitsstrukturen" herausbilden, die gerade dann besonders einflussreich und wettbewerbsfähig seien, wenn sie als Träger von Identitätsideologien, wie Ethnizität oder Religion, in Erscheinung treten würden. Als Resultat der Globalisierung, als Schattenglobalisierung, bezeichnet er diese Lebenswelten, die den ausgeschlossenen Teil der Weltbevölkerung repräsentieren. Und in eben dieser Schattenglobalisierung, die sich parallel zur neoliberale regulierten Weltwirtschaft herausgebildet habe, ortet Lock auch die wirtschaftliche Vorraussetzungen dieser neuen kriegerischen Gewalt. Diese äußerst flexiblen und rasch anwachsenden ökonomischen Sphären könnten ohne ihren Zwillingsbruder nicht existieren, sind sie doch von den permanenten Tauschbeziehungen mit der regulären Ökonomie abhängig. Korruption und illegitime Gewalt als Mittel der Regulation wirtschaftlicher Abläufe seien charakteristisch dafür, oft verselbstständige sich das Konfliktgeschehen und sei dann kaum mehr in die politischen oder wirtschaftlichen Zielsetzungen der Akteure eingebunden. Zunehmend würden auch staatliche Führungseliten der „Dritten Welt" auf diese „schattenglobalisierten" Lebenswelten zurückgreifen, um ihre Interessen durchzusetzen. Statistiken der Weltgesundheitsorganisation über die Anzahl gewaltbedingter Todesrate weisen darauf hin, dass besonders in den Ländern der „Dritten Welt", jedoch zunehmend auch in den ehemals kommunistischen Ländern Europas, die gewaltbedingten Todesfälle höher oder zumindest gleich hoch sind als in offiziellen Kriegsregionen. Für Lock stellt sich daher die Frage, ob angesichts dessen die traditionelle Unterscheidung zwischen Krieg und Abwesenheit eines bewaffneten Konfliktes noch sinnvoll sei.

 

Mehr als ein Jahr nach dem Abbruch der Sechs-Länder-Gespräche über das nordkoreanische Atomprogramm erklärte sich Pjöngjang nach chinesischer Vermittlung zur Rückkehr an den Verhandlungstisch bereit. Die nordkoreanische Regierung willigte ein, „dass das Ziel der Verhandlungen die Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel ist“. Staatschef Kim Jong Il ließ verlauten, die nukleare Abrüstung sei ein Herzenswunsch seines verstorbenen Vaters Kim Il Sung gewesen. In den Gesprächen soll Nordkorea dazu bewegt werden, auf Kernwaffen zu verzichten – da diese mit Hilfe der weit entwickelten Raketentechnik Ziele in Hawaii. Alaska und Kalifornien erreichen könnten, stellen sie eine nicht unerhebliche Bedrohung für die USA dar. Nordkorea verfügt über möglicherweise 6 einsatzbereite Atomsprengköpfe und ist bis an die Zähne bewaffnet, während infolge der desolaten Versorgungslage die Bevölkerung Hunger leidet. Als Gegenleistung für den Verzicht auf sein nukleares Arsenal fordert Pjöngjang Sicherheitsgarantien und wirtschaftliche Hilfe. Die südkoreanische Regierung erklärte sich als Zeichen des guten Willens bereit, den Norden mit Lebensmittel- und Stromlieferungen zu unterstützen. Washington kündigte bereits an, es werde Nordkorea ausdrücklich als souveränen Staat anerkennen. Die Verhandlungen sollen am 25. Juli beginnen.

 

Die nordirische marching season führte erneut zu schweren Krawallen, als Anhänger des protestantischen Orange Order durch den als Hochburg der republikanischen Bewegung bekannten Stadtteil Ardoyne in North Belfast zogen. Die Orangisten und die sie begleitende Polizei wurden von Hunderten katholischer Randalierer angegriffen, bei den Unruhen wurden bis zu 100 Beamte verletzt. Unter den Angreifern befanden sich auch Aktivisten der Continuity IRA, welche die Polizei mit Rohrbomben attackierten. Auf den Einsatz von Schusswaffen wurde verzichtet, da die CIRA kein Blutbad auslösen wollte. Nach Angaben der CIRA befanden sich 3 bewaffnete Active Service Units aus North Belfast vor Ort. Die Region um die Crumlin Road bot nach Ende der Unruhen ein Bild der Verwüstung. Auch in den Tagen danach musste die Polizei intervenieren, um Zusammenstöße zwischen mit Schlagwerkzeugen etc. bewaffneten Loyalisten und Republikanern zu verhindern. Zu Zusammenstößen kam es auch in Derry, wo die Polizei unter anderem mit Brandsätzen angegriffen wurde. Die berüchtige Drumcree-Parade verlief hingegen friedlich. Zu Radauszenen und Beschimpfung der katholisch-irischen Bevölkerungsgruppe kam es auch in der schottischen Metropole Glasgow, wo bei orangistischen Paraden innerhalb von 2 Wochen beinahe 100 Teilnehmer von der Polizei vorläufig festgenommen wurden. Die schottischen Behörden fordern als Konsequenz vom Innenministerium nunmehr das Recht, gegebenenfalls Aufmärsche des Orange Order untersagen zu können. Daneben machten die republikanischen Hardliner von Continuity IRA und Real IRA mit einer Serie von Anschlagsversuchen auf sich aufmerksam. Vor einer Polizeiwache in Coalisland/Tyrone sowie an der Bahnlinie zwischen Lisburn und Moira konnten Bomben entdeckt und rechtzeitig entschärft werden. In den Vororten von Armagh City stellte die Polizei eine Autobombe sicher. Durch Bombendrohungen gegen Veranstaltungen des Orange Order lösten die Hardliner Polizei- und Militäreinsätze in 15 Ortschaften aus und sorgten stellenweise für chaotische Zustände. Derweil nahm die Fehde zwischen den loyalistischen Untergrundorganisationen UVF und LVF ihren Fortgang. Es gab mehrere Schwerverletzte bei Schießereien und Anschlägen, und in North Belfast erschoss ein UVF-Kommando den der LVF nahe stehenden Craig McCausland (20 Jahre). Die britischen Behörden ziehen derzeit in Erwägung, den Waffenstillstand der Ulster Volunteer Force für gebrochen zu erklären und Sanktionen gegen die ihr nahe stehende Progressive Unionist Party zu verhängen. Derweil hat die Ulster Defence Association endgültig ihre Verbindungen zu rechtsradikalen Gruppen aus England gekappt. Die Wirrköpfe von Combat 18, Blood & Honour etc. unterstützen bekanntlich seit Jahren schwerstens in den Drogenhandel verwickelte Elemente, die derzeit aus der UDA hinausgedrängt werden.

 

Um eine weitere Zunahme ihrer Gesamtverschuldung zu verhindern, müs¬sen alle Bundesländer ihre Ausgaben drastisch reduzieren. Das zeigt der aktuelle Schuldenmonitor der Bertelsmann-Stiftung. Die erstmalig vorgestellte Studie, die in Zusammenarbeit mit dem Zent¬rum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) entwickelt wurde, analysiert die finanzpolitische Nachhaltigkeit der Bundesländer inklusive der Gemeinden. Der größte Konsolidierungsbedarf wurde für Bremen ermittelt. Um die Verschuldung des Stadtstaates bis 2020 auf dem heutigen Ni¬veau zu stabilisieren, wäre eine sofortige und dauerhafte Absenkung des Ausgabenniveaus um mehr als 26 % (das entspricht 1 Milliarde Euro) erforderlich. Der geringste Konsolidierungsbedarf ergäbe sich für Baden-Württemberg mit immerhin 5,6 % der Ausgaben (entspricht 2,3 Milliarden Euro). In allen ostdeutschen Bundesländern wird sich der Konsolidierungsdruck mit dem Auslaufen des Solidarpaktes 2019 dramatisch verschärfen. Der Schuldenmonitor projiziert die höchsten Verschul¬dungsquoten im Jahr 2020 für Berlin (198 % des Bruttoinlandsproduktes), Sachsen-Anhalt (179 %) und Mecklenburg-Vorpommern (165 %). Verstärkt durch die Schrumpfung der Bevölkerung würde diese zu einer dramatischen Erhöhung der Pro-Kopf-Verschuldung führen. Diese wäre im Jahr 2020 in Bremen (rund 78.600 Euro pro Kopf), Berlin (rund 76.400 Euro) und Sachsen-Anhalt (rund 51.800 Euro) am höchsten. Hinzu käme für jeden Einwohner noch die Ver¬schuldung des Bundes, die ohne finanzpolitische Korrekturen im Jahr 2020 bei fast 19.600 Euro pro Kopf liegen würde (alle Pro-Kopf-Angaben in Preisen von 2020). Bemerkenswert ist, dass selbst Bundesländer wie Baden-Württemberg (5,6 %) und Bayern (7,3 %) einen Kürzungsbe¬darf aufweisen, der größer ist als der des Bundeshaushalts (4,1 %).

 

Angesichts der desolaten Sicherheitslage in Afghanistan plant die Bundeswehr die Aufstockung ihres Kontingents um 800 auf rund 3000 Soldaten. Ist das Einsatzgebiet bislang auf Kabul und die Nordregion beschränkt gewesen, so will man fortan „in der Lage sein, die NATO-Operation im gesamten ISAF-Verantwortungsbereich zu unterstützen“. Damit wird die BRD noch mehr Kriegspartei; bekanntlich unterstützen KSK-Spezialeinheiten die Briten und Amerikaner seit einiger Zeit im Kampf gegen Taliban-Kämpfer und islamistische Warlord-Verbände. Nahe Kabul wurde ein Bundeswehr-Konvoi in ein Feuergefecht verwickelt, Verluste sind nicht bekannt. Zu Kampfhandlungen zwischen Regierungstruppen und Rebellen kam es auch in den Provinzen Helmand und Paktika an der pakistanischen Grenze sowie in der Provinz Zabul. Die Amerikaner verstärken ihre 18.000 Besatzungssoldaten in Kürze durch ein leichtes Luftlandebataillon mit 700 GIs. Australien schickt 150 Mann SAS und Kommandoeinheiten der Armee, eine Pioniereinheit soll im kommenden Jahr folgen. Bereits im Februar entsandte die australische Regierung 450 Soldaten in den Südirak, um die Briten zu unterstützen. Die Nervosität der Alliierten erklärt sich aus dem Herannahen der afghanischen Parlamentswahlen, die infolge wachsender Rebellenaktivität zumindest in einigen Landesteilen ernsthaft in Frage gestellt sind.

 

Die US-Position in Zentralasien wird derweil weiter destabilisiert. Die In der Shanghai-Kooperationsorganisation SCO zusammengeschlossenen Länder China, Russland, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan und Usbekistan stören sich vermehrt an der Militärpräsenz der Amerikaner in der Region. Einstimmig forderte die SCO die Vereinigten Staaten und ihre westlichen Verbündeten (darunter befindet sich auch die BRD), endlich ein Datum für den Abzug von den 2001 im Zusammenhang mit der Invasion in Afghanistan bezogenen Militärbasen in Zentralasien festzusetzen. Die Regierungen Kirgisiens und Usbekistans hatten seinerzeit die Truppenstationierung nur als vorübergehende Lösung genehmigt. Stein des Anstoßes ist vor allem Karshi-Khanabad, wo die Amerikaner neben Luftwaffeneinheiten auch 1000 Mann Bodentruppen unterhalten. Die Nutzungsgenehmigung wurde ausdrücklich nur für die Dauer der militärischen Operationen im Norden Afghanistans zum Sturz des Taliban-Regimes erteilt. Der Unmut über die US-Ambitionen im transkaspischen Raum wächst seit einiger Zeit; bereits im März hatte Kirgisien Spionageflüge von der Manas-Basis aus gegen China und andere Länder der Region verweigert. Als Beobachter der Konferenz waren die Mongolei, Indien, der Iran und Pakistan vertreten.

 

Knapp 60 % der Betriebsrätinnen und Betriebsräte in bundesdeutschen Unternehmen haben sich in den vergangenen drei Jahren mit dem Thema Beschäftigungssicherung befassen müssen. Das zeigt die Betriebsrätebefragung 2004/2005 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. 53 % der Beschäftigtenvertreter waren konkret mit dem Problem Personalabbau konfrontiert. 57 % hatten damit zu tun, in ihrem Betrieb vorgesehene Veränderungen der Arbeitsorganisation möglichst im Sinne der Beschäftigten mit zu gestalten. Der hohe betriebliche Problemdruck, von dem die mehr als 2000 befragten Betriebsräte berichten, deute auf eine nach wie vor hohe Umbaudynamik in der Wirtschaft hin, analysiert WSI-Forscher Claus Schäfer in der aktuellen Ausgabe der WSI-Mitteilungen. Diese Dynamik weise „eine gewisse Abkopplung von konjunkturellen Entwicklungen auf“. So fanden nach Auskunft der Betriebsräte in der Hälfte aller Betriebe seit Anfang 2003 oft tief greifende Umstrukturierungen statt. Doch nur bei insgesamt etwa einem Viertel sei die Entwicklung von Auftragslage, Umsatz oder Gewinnen „schlecht“ oder „eher schlecht“ gewesen. In bis zu 60 verschiedenen Themenbereichen müssen sich bundesdeutsche Betriebsräte laut Umfrage auskennen. Neben der Beschäftigungssicherung standen Arbeitsschutz, Weiterbildung, betriebliche Altersversorgung, ein verschlechtertes Betriebsklima und Altersteilzeit auf der Aufgabenliste von jeweils mehr als 50 % der Befragten. 46 % hatten mit Kündigungsschutzfragen zu tun. Relativ selten befassen sich Betriebsräte dagegen mit Aktivitäten zur Gesundheitsförderung, mit familienfreundlichen Arbeitsbedingungen oder der Gleichstellung am Arbeitsplatz. Die WSI-Forscher nehmen an, dass solche Felder „kaum Entfaltungschancen haben, so lange die Interessenvertretung von den Entwicklungen im harten Kern des betrieblichen Geschehens in Atem gehalten wird“. Die zahlenmäßige Verbreitung der betrieblichen Mitbestimmung in der Privatwirtschaft ist derweil stabil: Rund elf Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland haben nach Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit einen Betriebsrat an ihrer Seite. In ungefähr 105.000 Unternehmen haben die Beschäftigten ein solches Gremium gewählt, wie die neuen Ergebnisse des IAB-Betriebspanels für 2004 zeigen. Zwar verfügt nur knapp jeder 14. Kleinbetrieb bis 50 Beschäftigte über einen Betriebsrat. Ab 200 Beschäftigten erreicht der Anteil aber schon 80 % im Westen und fast 75 % im Osten. 47 % aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den alten, 38 % in den neuen Bundesländern arbeiten in einem Unternehmen mit Betriebsrat.

 

Die dem Umfeld der kurdischen Volksverteidigungskräfte entstammenden Freiheitsfalken verübten einen Bombenanschlag auf den türkischen Badeort Cesme. Ungeachtet einer telefonischen Warnung verletzte der in einem Mülleimer deponierte Sprengsatz dennoch 20 Urlauber, davon einen schwer. Die Freiheitsfalken kündigten weitere Anschläge auf den Tourismussektor an. Kurdischen Guerrilleros gelang es, innerhalb einer Woche zwei Züge im Raum Erzurum zum Entgleisen zu bringen, es handelte sich um einen Güterzug und um einen Militärtransport. Die weitere Gefechtstätigkeit der kurdischen Rebellen beinhaltete Minenfallen und Angriffe auf Polizeiposten. Einen Prestigeverlust für die türkische Armee bedeutete die Gefangennahme eines Soldaten durch die Rebellen – der erste derartige Vorfall seit 6 Jahren, und der Betroffene gehört zudem einer Spezialeinheit an. In einem Fernsehinterview mit CNN Turk hat der türkische Ministerpräsident Erdogan beim Kampf gegen die PKK indes mit einem Einmarsch von Ankaras Truppen in den Nordirak gedroht. Dort befinden sich in den schwer zugänglichen Kandil-Bergen an der iranischen Grenze die Guerillalager der PKK. Bereits jetzt sind mit Duldung der USA, der irakischen Regierung und der irakisch-kurdischen Parteien rund 1.500 türkische Soldaten grenznah im kurdischen Nordirak stationiert, um das Einsickern von PKK-Kämpfern in die Türkei zu verhindern. Die USA sicherten der Türkei bedingte Unterstützung im Kampf gegen die PKK zu, wenn dies innerhalb der Grenzen der Türkei geschehe. Unterdessen appellierte Murat Karayilan von der Führung des Kurdistan-Volkskongresses Kongra-Gel in einem Interview mit AP an Washington, sich für die Rechte der Kurden einzusetzen. „Wir bemerken einen Wandel in der Politik der USA, die nun demokratische Regierungen unterstützt. Amerika kam, um den Mittleren Osten zu verändern, und die Kurden spielen dabei eine wichtige Rolle. Wir wollen auf demokratische Weise leben und eine demokratische kurdische Bewegung aufbauen, während wir extreme sozialistische Ideen aufgegeben haben.

 

Einkommensungleichheit und Armut haben im vergangenen Jahr in den neuen Bundesländern nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) weiter zugenommen. Ursache dafür ist vor allem die in den neuen Bundesländern stark gestiegene Arbeitslosigkeit. Im Westen sind Einkommensungleichheit und Armut hingegen konstant geblieben. Bei den real verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte hat Ostdeutschland im Jahr 2004 mit durchschnittlich 15.500 Euro pro Jahr lediglich 80 % der westdeutschen Einkommen erreicht und ist damit wieder auf das Niveau von 1994 zurückgefallen. Die Armutsquote ist in den neuen Ländern auf 20 % gestiegen, während sie in den alten Ländern bei 15 % und im Bundesdurchschnitt bei 16 % liegt. Besonders deutlich zeigt sich das Auseinanderdriften zwischen Ost und West bei der Verteilung der am Markt erwirtschafteten Einkommen. Dabei werden Erwerbseinkommen, Kapital- und Renteneinkünfte sowie private Zuwendungen berücksichtigt, nicht aber öffentliche Leistungen. So entsprachen die Einkommen in Ostdeutschland im Mittel mit 11.500 Euro 2004 nur noch 63 % des westdeutschen Markteinkommens und damit dem niedrigsten Wert seit dem Mauerfall. Eines der größten Probleme bleibt die Arbeitslosigkeit. In Haushalten mit Personen im Alter von 20 bis 60 Jahren waren 2004 über 40 % der Menschen in den neuen Ländern und knapp 20 % im der Alt-BRD entweder selbst ohne Arbeit oder von der Arbeitslosigkeit eines Familienmitglieds betroffen.

 

Laut den Ärzten zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) ist der weltweite Anstieg von Krebserkrankungen auf den radioaktiven Fallout der Atombombentests der Jahre 1959 bis 1963 zurückzuführen. Darauf weist die Medizinervereinigung am Donnerstag hin. Anlass ist, dass sich am 16. Juli der Tag des ersten Atomtests einer Plutoniumbombe zum sechzigsten Mal jährt. Die IPPNW sprechen von Forschungsergebnissen nach denen bisher bis zu 65,1 Millionen Menschen durch künstliche radioaktive Strahlung umkamen. Mit künstlich ist gemeint, dass es sich nicht durch natürliche Strahlung aus der Umwelt handelt, sondern um solche aus Atomtests, Atombombenabwürfen und Strahlung die beim Betrieb von Atomkraftwerken frei wird. Vor fast 60 Jahren, am 16. Juli 1945, wurde in Alamogordo in der Wüste Neumexikos in den USA mit „Trinity" die erste Plutoniumbombe gezündet nach der Wasserstoffbombe auf dem Bikiniatoll im Vorjahr. Nach Informationen der IPPNW haben seitdem die fünf Atomwaffenstaaten USA, UdSSR, Frankreich, Großbritannien und China 2.045 Atomwaffentests in der Atmosphäre und unterirdisch durchgeführt. Bis 1998 habe es alle anderthalb Wochen einen Test gegeben. Indien und Pakistan hätten zusätzlich zwölf Tests durchgeführt. Dabei hätten vor allem die oberirdischen Tests für radioaktiven Fallout gesorgt. Die IPPNW verweisen unter anderem auf Ergebnisse der Europäischen Kommission für Strahlenrisiken (ECRR). Laut diesen sind neben den 61,7 Millionen Erwachsenen auch 1,5 Millionen Kinder und 1,9 Millionen Babys im Mutterleib durch die künstliche Strahlung umgekommen. Die Wissenschaftler vom ECRR gehen laut IPPNW außerdem davon aus, dass die zivile Atomkraftnutzung in den letzten Jahren bald für einen weiteren Anstieg von Krebs und anderen Krankheiten sorgen wird. Die gegenwärtige Situation ist nach Ansicht der Mediziner auch aus anderen Gründen besonders gefährlich. Durch die Forschung der USA an „Bunker-Bustern" und „Mini-Nukes" entstünde ein Arsenal an Atomwaffen, dass vorrangig zum Einsatz und nicht zur Abschreckung gedacht sei. Staatschefs und Militärs würden daher zu der Annahme verleitet die Atomwaffeneinsätze seien kontrollierbar und die Hemmschwelle sie einzusetzen würde sinken. Währenddessen gibt es laut IPPNW immer mehr Staaten die Atomwaffen bauen wollen, da sie sich dadurch Sicherheit vor den Atommächten versprechen. Nach Informationen der IPPNW gibt es zurzeit noch 28.000 Atomwaffen mit zusammengenommen 7500 Megatonnen Sprengkraft. Die Zerstörungskraft dieser Waffen reiche für die mehrmalige Vernichtung allen Lebens auf der Erde und entspreche 2500 zweiten Weltkriegen.

 

In der UN-Vollversammlung begann die Debatte um die Reform des UN-Sicherheitsrates. Der brasilianische UNO-Botschafter Ronaldo Sardenberg stellte einleitend den Vorschlag der so genannten G-4-Gruppe vor, der neben seinem Land noch die BRD, Indien und Japan angehören. Der Sicherheitsrat besteht derzeit aus 5 ständigen Mitgliedern mit Vetorecht (USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China) sowie 10 jeweils auf ein Jahr gewählten Mitgliedsstaaten. Dem G-4-Entwurf zufolge soll er auf 25 Staaten erweitert werden, und zwar durch 4 rotierende und 6 ständige Mitgliedschaften. Als ständige Mitglieder ohne Vetorecht sind – auch wenn sie es nicht offen aussprechen - die G 4 sowie zwei afrikanische Länder vorgesehen. Für die Reform wird eine Zweidrittelmehrheit unter den 191 UNO-Staaten benötigt, ebenso die Zustimmung aller Vetomächte. Der Vorschlag wird ausdrücklich von Frankreich und Großbritannien unterstützt, stößt jedoch auf erheblichen Widerstand. Eine Gruppe von 119 Ländern um Argentinien, China, Italien, Kanada, Mexiko, Pakistan, Spanien und Südkorea will den Sicherheitsrat lediglich um 10 rotierende Sitze vergrößern. So sollen die nur auf eine Erweiterung der undemokratischen Exklusivstruktur zielenden Großmachtambitionen der G-4 abgeblockt werden. Zudem kritisierte die Gruppe, dass auch die G-4 nichts an der mangelnden Transparenz und Rechenschaftspflicht des UN-Sicherheitsrates sowie der Vereinten Nationen insgesamt ändern wollen. Weitere Motive sind politisch und historisch begründet: Italien und Spanien wollen verhindern, dass die BRD als drittes EU-Land in das wichtigste UNO-Gremium aufrückt und so eine weitere Stärkung Berlins in Europa zu vermeiden. Gegen die Aufnahme Indiens opponiert vor allem dessen Rivale Pakistan. Während China und Südkorea einen ständigen Sitz für Japan verhindern wollen, bemüht sich Mexiko, Brasilien eine Dauermitgliedschaft zu verwehren. Ferner fordern die 54 Mitgliedsstaaten der Afrikanischen Union die Zusatzregelung, dass die im G-4-Vorschlag genannten neuen ständigen Mitglieder ebenfalls das Vetorecht erhalten, um die Dominanz der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges zu brechen. Zu den Anliegen der AU gehören zwei ständige und 2 rotierende Ratssitze für Afrika. Russland wiederum unterstützt zwar eine ständige Mitgliedschaft der Bundesrepublik, ist aber andererseits gegen eine Ausweitung des Vetorechtes und gegen eine zu große Erweiterung des Sicherheitsrates, der Gefahr laufe, sich in einen Debattierklub zu verwandeln. In Washington stößt man sich offenbar am selbstbewussten Auftreten der G-4, darunter die Verliermächte des Zweiten Weltkrieges, und kündigte an, gegebenenfalls den Vorstoß durch ein Veto zu Fall zu bringen. Auf US-Druck verzichteten die 4 Bewerber bereits im Vorfeld für mindestens 15 Jahre auf ein eigenes Vetorecht.

 

Die „Linkspartei“ aus PDS und Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit nimmt allmählich Gestalt an. Als erste PDS-Landesverbände benannten sich Sachsen, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen in „Die Linkspartei. PDS“ um. Auf den vorderen Plätzen der sächsischen Landesliste befinden sich u.a. die stellvertretende PDS-Bundesvorsitzende Katja Kipping, WASG-Bundesvorstand Axel Troost, die vogtländische DGB-Chefin Sabine Zimmermann und die parteilose Grünen-Mitbegründerin Monika Knoche. Altparteigenossen der PDS bzw. SED hatten wenige Chancen und landeten bestenfalls auf den hinteren Listenplätzen. In Sachsen-Anhalt hingegen kam kein WASG-Mitglied auf einen aussichtsreichen Kandidatenplatz, was für einigen Unmut sorgte. In Niedersachsen teilen sich Diether Dehm und Dorothée Menzner (PDS), Herbert Schui und Tina Flauger (WASG) die vorderen Plätze, auf Rang 6 befindet sich mit Achim Bigus ein Aktivist der DKP. Bei der Wahlalternative wurden gegen Ende der Woche die letzten Hindernisse aus dem Weg geräumt, als sich per Mitgliederbefragung 81,78 % für das gemeinsame Antreten als Linkspartei aussprachen. Als Voraussetzung gilt jedoch die Umbenennung der PDS in „Die Linkspartei“, welche am Wochenende auf einem Sonderparteitag vollzogen werden soll. Bis zum Jahr 2007 ist eine Fusion beider Parteien angestrebt; dieser stimmten sogar 85,26 % der WASGler zu. Die Wahlalternative hat mittlerweile 7400 Mitglieder, die PDS 60.000. Meinungsumfragen zufolge ist das Potenzial der Linkspartei in konstantem Wachstum begriffen: Bundesweit wird sie mit 11 % gehandelt, im Osten wäre die Linkspartei mit 31 % derzeit stärkste politische Kraft. Durch die Fusion mit der Wahlalternative erschließen sich der Ex-PDS auch im Westen neue Wählergruppen – hier liegt sie bei 7 %. Im Saarland und in Berlin beziffern Befragungen den Stimmenanteil derweil auf rund 25 %.

 

In Tschechien dauert die Debatte um eine Versöhnungsgeste gegenüber den Sudetendeutschen an. Staatspräsident Vaclav Klaus lehnt jedes Entgegenkommen ab und erklärte, hiermit würde man eine Büchse der Pandora öffnen. Eine symbolische Geste wurde bereits im den 90er Jahren erbittert diskutiert und Anfang Juni wieder durch den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Jiri Paroubek ins Gespräch gebracht. Paroubek verhandelte diesbezüglich bereits mit seinem slowakischen Amtskollegen Mikulas Dzurinda und dem österreichischen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Auch Polen und Slowenien sollen in die Gespräche eingebunden werden. Die geplante Geste soll offenbar in Form einer geringen symbolischen finanziellen Entschädigung oder einer Medaille des tschechischen Staates erfolgen, als Zielgruppe denkt man ausschließlich an Überlebende, und zwar an Sozialdemokraten, Kommunisten und katholische Priester, die antifaschistischen Widerstand leisteten. Die konservative Opposition lehnt den Vorstoß des Premiers strikt ab und wetterte, Paroubek zerstöre den Konsens der politischen Klasse in Tschechien.

 

Nacht-, Wochenend- und Schichtarbeit haben sich rapide ausgebreitet. 19,3 Millionen Menschen in der BRD waren 2004 von einer dieser als atypisch bezeichneten Formen der Arbeitszeit betroffen. Das sind 51 % aller abhängig Beschäftigten; 1991 waren es erst 38 %. Das zeigt eine aktuelle Analyse von Dr. Hartmut Seifert, Leiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung. Eine Aufhebung der Steuerfreiheit für Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschläge hätte für zahlreiche Beschäftigte teilweise empfindliche Einkommenseinbußen zur Folge. Besonders betroffen wären jene Beschäftigten, die regelmäßig oder ständig zu atypischen Zeiten arbeiten müssen. So leisten 4,2 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (14,1 % aller Beschäftigten) ständig oder regelmäßig Sonn- und Feiertagsarbeit. Gut 2,7 Millionen Beschäftigte (9,2 %) arbeiten ständig oder regelmäßig in der Nacht. Zwischen beiden Gruppen gibt es zudem Überschneidungen. Verschiedene Studien zeigten, dass die gesundheitlich und sozial belastende Arbeit jenseits normaler Rhythmen bei vielen Beschäftigten unbeliebt ist, so WSI-Forscher Seifert. Es sei deshalb nicht auszuschließen, dass Einkommenseinbußen die Bereitschaft zu atypischen Arbeitszeitformen schwächen und künftig den langjährigen Trend zu diesen Arbeitszeiten bremsen könnten.

 

Die fragile Waffenruhe in Palästina gerät ernstlich ins Wanken. Nachdem es in den vorigen Wochen vor allem im Gazastreifen immer wieder zu Zwischenfällen zwischen israelischer Armee, Siedlern und Palästinensern kam, erfolgte nunmehr erstmals seit 5 Monaten wieder ein Selbstmordanschlag. Der Attentäter, ein Aktivist des Islamischen Heiligen Krieges, sprengte sich in der Küstenstadt Netanja inmitten einer Gruppe Jugendlicher in die Luft und riss 3 Menschen mit in den Tod, 30 weitere wurden verletzt. Palästinenserpräsident Abbas, der noch kurz zuvor versuchte, Hamas und Jihad in die palästinensische Regierung einzubinden, verurteilte die Tat als „Verbrechen gegen das palästinensische Volk“. Bekanntlich steht die Räumung des Gazastreifens durch Israel bevor, und mit ihrem Anschlag könnten die Hardliner in der Tat erneut die Spirale der Gewalt in Gang gesetzt haben. Die israelische Armee riegelte umgehend den Gazastreifen und das Westjordanland ab, Premier Sharon befahl die Wiederaufnahme gezielter Tötungen von Jihad-Führern. Diese Maßnahmen sollen so lange fortgesetzt werden, bis beide Organisationen ihre Anschläge einstellen. Daraufhin beschoss die Hamas israelisches Territorium mit Kassem-Raketen, was von den Israelis mit massiven Hubschrauberangriffen auf Hamas-Einrichtungen im Gazastreifen (mindestens 7 Tote) beantwortet wurde. Die palästinensische Seite steht derweil am Rande eines offenen Bürgerkrieges, denn Innenminister Nasr Jussef befahl seinen Sicherheitskräften, alle Mörser- und Raketenangriffe auf israelische Ziele notfalls mit Gewalt zu unterbinden, um die Räumung Gazas nicht zu gefährden. Das Ergebnis waren Schießereien zwischen der Hamas und der Palästinenserpolizei, bei denen es eine Reihe von Toten und Verwundeten gab. Abbas wies alle Vertreter der Regierung und der Fatah an, jeden Kontakt zur Hamas abzubrechen. Presseberichten zufolge kommt es derzeit in den Reihen der Islamisten zu einem Machtkampf: Der gemäßigte Flügel ist an einer friedlichen Lösung und an einer Mitarbeit in der palästinensischen Regierung interessiert, während die Hardliner auf Gewalt setzen und die Räumung des Gazastreifens als Zeichen der Schwäche interpretieren.

 

In der „junge world“ vom 13. Juli befasste sich Ernst Lohoff mit den Standpunkten der sich formierenden Linkspartei: „Die PDS, die Gewerkschaften und ihre linkskeynesianischen Stichwortgeber leugnen wie die Neoliberalen die strukturelle, fundamentale Krise der Arbeitsgesellschaft. Käme „die Politik“ nur ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nach und zwänge das Kapital zur Erfüllung seiner Ausbeutungspflicht, also zur Schaffung von Arbeitsplätzen, dann würde sich das Gespenst der Arbeitslosigkeit schon verflüchtigen. Diese Vorstellung ist nicht nur illusionär, sondern auch reaktionär. Aber auch Felix Baum leugnet in seinem Beitrag zur Debatte über das Grundeinkommen die Krise der Arbeitsgesellschaft. Er tut sie als „vermeintliche Krise“ ab. Nach „einer mehrere Jahrzehnte währenden Ausnahmesituation annähernder Vollbeschäftigung“ kehre der Kapitalismus lediglich zu seiner „Normalität“ zurück, meint er. Damit verharmlost er die historische Konstellation, mit der es kapitalismuskritische Bestrebungen heute zu tun haben. Die seit den späten siebziger Jahren zu beobachtende zyklusübergreifende Freisetzung von unverwertbarem Menschenmaterial lässt sich keineswegs mit dem aus früheren Phasen kapitalistischer Entwicklung bekannten periodischen An- und Abschwellen der industriellen Reservearmee gleichsetzen. Das Kapital hat nicht bloß vorübergehend für die Masse der Arbeitslosen keine produktive Verwendung mehr, vielmehr nimmt seine Fähigkeit zur Absorption lebendiger Arbeit immer weiter ab, und das strukturell. Der Verwertungsprozess spuckt auch in den Metropolen unweigerlich immer mehr Menschen aus, die vom kapitalistischen Standpunkt keine Daseinsberechtigung haben. Wer auf eine Trendwende spekuliert, kann lange warten, egal welche Regierung an die Macht kommt, egal welche Maßnahmen sie ergreift. Die Krise der Arbeit bildet den Hintergrund für den so genannten Umbau des Sozialstaats. Der klassische Sozialstaat funktionierte als Instanz eines repressiven Einschlusses. Das Konzept der Zwangsversicherung mit seinem ausdifferenzierten System beitragsabhängiger Leistungen bildete das Pendant zum lebenslangen Normalarbeitsverhältnis und garantierte den metropolitanen Arbeitskraftverkäufern ein Leben in gesicherter Knechtschaft. Im Zeichen der Krise der Arbeit nimmt die reguläre Arbeit hingegen zusehends den Charakter eines Privilegs an, und der Sozialstaat wird durch seine Verwandlung in eine Selektionsinstanz darauf ausgerichtet, diese Veränderung mit durchzusetzen. Hartz IV leitete in dieser Hinsicht hierzulande einen tiefgreifenden Wandel ein. An die Stelle „erarbeiteter Ansprüche“ tritt immer mehr eine Kombination aus elendsegalitaristischer Minimalversorgung und arbeitsterroristischer Schikane. Der Sozialstaat orientiert sich mit seinen Leistungen nicht mehr am Idealbild regulärer Beschäftigung für alle. Er hat vielmehr die Aufgabe, die vom kapitalistischen Standpunkt her Überflüssigen in eine wachsende Grauzone aus Unterbeschäftigung, Überausbeutung, staatlich organisierter Pseudoarbeit und Scheinselbständigkeit abzudrängen oder wenigstens kostengünstig ruhig zu stellen. In der entstehenden elendsegalitaristischen Ordnung ist eine Verteidigung sozialer Standards, die sich in erster Linie auf die Sicherung „erarbeiteter Ansprüche“ ausrichtet, überholt. Eine in sich konsistente Kritik an der herrschenden Losung: „Jeder nach seiner Leistung für den Standort“, muss stattdessen selber egalitär argumentieren, und zwar arbeitskritisch egalitär. Repressiv war der Grundsatz schon immer: „Wer sich nicht arbeitsbereit zeigt, soll auch nicht essen.“ Angesichts der fortschreitenden Abtrennung der stofflichen Reichtumsproduktion von der Vernutzung der Arbeit ist seine rabiate Durchsetzung aber absurd und entwickelt geradezu mörderische Konsequenzen. Derzeit hat wieder einmal die Idee eines garantierten, arbeitsunabhängigen Grundeinkommens Konjunktur. Auf den ersten Blick scheint diese Forderung eine geeignete Antwort auf die beängstigende Perspektive zu sein. Zumindest so, wie sie derzeit diskutiert wird, hat sie jedoch eher den Charakter eines Placebos für den Widerstand. Angesichts einer fundamentalen Krise der kapitalistischen Reichtumsproduktion setzt sie nämlich an die Stelle der neokeynesianischen Illusion von der Vollbeschäftigung nur ein anderes, genauso groteskes Hirngespinst. Ihre Befürworter entwerfen vornehmlich Bilder einer freundlicheren Zukunftsgesellschaft, die zwar den kapitalistischen Arbeitsautomaten als Auslaufmodell behandelt, sein Pendant, den Warenkonsumenten, aber verewigt. Im 21. Jahrhundert soll zwar kein Mensch mehr als Warenverkäufer auftreten und seine Haut zu Markte tragen müssen, gleichzeitig sollen aber alle jederzeit als Käufer agieren können. Zunächst einmal dokumentiert die originelle Vorstellung einer Trennung der kapitalistischen Konsumtionsweise von der kapitalistischen Produktionsweise eine heillose Begriffsverwirrung. Die Fehlkalkulationen der diversen Befürworter eines Grundeinkommens beruhen auf der Übernahme des Aberglaubens, Kapital würde genauso von Natur aus Geld abwerfen wie Birnbäume Birnen. Sie verwechseln konsequent den tatsächlichen Überfluss an Gebrauchswerten mit dem Überfluss an abstraktem Reichtum, an Geld. Der spezifische Inhalt kapitalistischen Reichtums wird mit großer Selbstverständlichkeit als Inbegriff von Reichtum anerkannt. Die Diskussion über das Grundeinkommen macht freilich nicht nur den Stand der verkümmerten Theorie sichtbar. Auch praktisch läuft sie auf einen Akt vorauseilender Selbstdemontage des Widerstands hinaus. Eigentlich liegt auf der Hand, was für eine antikapitalistische Opposition angesichts von Hartz IV unmittelbar auf der Tagesordnung stünde. Sie hätte zum einen den hochgradig individualisierten Arbeitszwang zu skandalisieren, der aus der Krise der Arbeit ein pädagogisches Problem macht. Sie müsste außerdem ansprechen, wie sich der Umbau des Sozialstaats in den laufenden Angriff auf das Normalarbeitsverhältnis einfügt, etwa mit den Ein-Euro-Jobs. Hartz IV trifft nicht nur die Arbeitslosen, sondern auch die noch Beschäftigten. Und zu guter Letzt wäre der ganz banale Verteilungskampf zu eröffnen, und zwar in offensiver Gleichgültigkeit gegenüber irgendwelchen Fragen der Finanzierbarkeit. Dass die Erfüllung der unmittelbaren Bedürfnisse der Menschen, vom kapitalistischen Standpunkt aus betrachtet, zum Luxus wird, kann aus einer emanzipativen Perspektive nie ein Argument gegen diese Bedürfnisse sein, sondern immer nur eines gegen die kapitalistische Logik. Und was machen die Befürworter des Grundeinkommens? Statt entschlossen gegen die Zumutungen anzugehen und die grotesken Widersprüche des neuen Kapitalismus zu skandalisieren, akzeptieren sie den herrschenden Maßstab. Sie verschwenden ihre Energie darauf nachzuweisen, dass das Kapital sich an seinen langfristigen Eigeninteressen versündigt, wenn es sich unsozial und gegenüber den Überflüssigen wenig spendabel zeigt. Ein halbwegs »gutes Leben« und der ungestörte Fortgang des kapitalistischen Verwertungsbetriebs müssen miteinander vereinbar sein, nur so wird für die Befürworter des Grundeinkommens der Widerstand gegen die laufenden Depravierungsprozesse offenbar legitim. Auf dieser Sorte von Illusionsproduktion lässt sich nie und nimmer eine Gegenbewegung gründen. Sie hätte ihre Kapitulationserklärung bereits unterzeichnet, bevor sie sich überhaupt formierte. Die Befürworter des Grundeinkommens flüchten sich aus Scheu vor der Konfrontation mit der rauen Realität der Krise in einen Modellplatonismus, der niemandem weh tut und niemanden überzeugt.

 

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