Wochenschau
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Die politische Wochenschau
vom 3. bis 9. Juli 2004
Schlagzeilen der Woche zusammengestellt von Christian Klee |
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Zitat der Woche: |
"Wir
haben erkannt, dass das Wirtschaftssystem des Kapitalismus mit seiner
Ausbeutung des wirtschaftlich Schwachen, mit seinem Diebstahl an der
Arbeitskraft des Arbeitnehmers, mit seiner Wertung des Menschen lediglich
nach Besitz und Geld, durch eine gerechte kollektivistische Wirtschaftsordnung
ersetzt werden muss, durch einen deutschen Sozialismus, der sich nicht
zum Henkersknecht des internationalen Kapitals macht." |
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Gregor Strasser |
Eine gemeinsame
Datei aller Sicherheitsbehörden soll die Beobachtung und Bekämpfung
des islamistischen Extremismus und Terrorismus erleichtern und nebenbei die
gesetzlich vorgeschriebene Trennung von Polizei und Geheimdiensten aushebeln.
Eine entsprechende Gesetzesinitiative im Bundesrat hat Niedersachsens Innenminister
Uwe Schünemann am Rande der Kieler Innenministerkonferenz angekündigt.
Die Innenminister der unionsgeführten Bundesländer unterstützen
die Initiative Niedersachsens. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Sicherheitsbehörden
zur gegenseitigen Information über alle Daten des islamistischen Extremismus
und Terrorismus verpflichtet werden. In die Datei sollen die Verfassungsschutzbehörden
von Bund und Ländern, das Bundeskriminalamt, die Landeskriminalämter
sowie sonstige Polizeibehörden der Länder, der Bundesgrenzschutz,
der Bundesnachrichtendienst, der Militärische Abschirmdienst und das Zollkriminalinstitut
Daten über Personen und Vorgänge, die im Zusammenhang mit dem islamistischen
Extremismus und Terrorismus stehen, einstellen und abrufen können. Die
gemeinsame Datei soll beim Bundesamt für Verfassungsschutz geführt
werden. In einem Lagezentrum in Berlin werden fortan Vertreter von BKA, VS,
MAD und BND die eingehenden Informationen gemeinsam auswerten. Bekanntermaßen
dürfte es nicht bei der Fixierung auf „Islamisten“ bleiben,
sondern sehr bald werden durch diese Vernetzung sämtlicher Polizei- und
Geheimdienststellen auch Informationen über linke wie rechte „Staatsfeinde“
ausgetauscht werden.
Zwar konnte Schily sich nicht mit seiner Forderung nach Weisungsbefugnis des BKA gegenüber den LKA und mit der gewünschten Zentralisierung des Verfassungsschutzes durchsetzen, aber die Union brachte aber die Einrichtung eines Bundespolizeipräsidiums ins Gespräch. Die neue Einrichtung soll die Ermittlungsabteilungen von Bundeskriminalamt, Bundesgrenzschutz und Zollfahndung in einer Bundeskriminalpolizei zusammenfassen. Als Exekutive stünden dann entweder die zur Kooperation angehaltenen Landeskriminalämter oder der BGS zur Verfügung. Dieter Wiefelspütz als innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion kündigte bereits an, man strebe danach, dem BKA die Kompetenz zu präventiven „Vorfeldermittlungen“ zu verleihen. Bislang durfte die Polizei nur bei unmittelbar bevorstehenden Straftaten tätig werden (Gefahr im Verzug). Reinhard Heydrich und Gestapo-Müller hätten ihre helle Freude an dieser Bundesrepublik.
Ungemach kommt auch aus Bayern: Der bisherige Fingerabdruck soll nach Auffassung von Innenminister Günther Beckstein (CSU) bundesweit durch einen DNA-Test abgelöst werden. Dieser Test sei der Fingerabdruck des 21. Jahrhunderts, hieß es von dem Schily-Konfidenten. Durch den genetischen Fingerabdruck seien schon viele Straftaten aufgeklärt worden. Deshalb rechnet Beckstein damit, dass die in Kiel tagende Innenministerkonferenz die Nutzung dieser Methode generell bestätigen werde. Bislang wird der genetische Fingerabdruck nur bei Verdacht auf schwere Straftaten genommen. Kollege Schünemann aus Kiel fing den Ball auf: Auch die SPD-regierten Länder hätten anerkannt, dass die DNA-Analyse eine normale erkennungsdienstliche Maßnahme zur Aufklärung von Straftaten sei, und würden einer Initiative des Bundesrates zustimmen. "Die Gleichstellung von DNA-Analyse im nichtcodierten Bereich mit den sonstigen erkennungsdienstlichen Maßnahmen ist kriminalistisch sinnvoll und verfassungsrechtlich zulässig. Die Genanalyse kann nun zum Standardmittel der Ermittlungsarbeit der Polizei werden, so wie es bislang der Fingerabdruck war." Die Innenministerkonferenz in Kiel erweiterte auch die Aufbewahrungszeit für DNA-Prints von 10 auf 20 Jahre. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes sind in Gen-Datenbanken bislang rund 300.000 Personen erfasst sowie etwa 58.000 Tatortspuren. Mit Hilfe der Dateien konnten bundesweit 13.700 Straftaten aufgeklärt werden. Bislang sind DNA-Analysen nur auf freiwilliger Basis oder auf richterliche Anordnung bei schweren Straftaten möglich.
Das Bundesjustizministerium will den so genannten großen Lauschangriff auf mehr Berufsgruppen ausweiten, aber nur noch bei besonders schweren Straftaten wie Mord und Totschlag zulassen. Künftig sollen anders als bisher auch bei Ärzten, Anwälten, Steuerberatern, Drogenberatern und Journalisten Wanzen installiert werden können. Begründet wird dies wie üblich mit der terroristischen Bedrohung. Der Entwurf des Ministeriums deckt sich laut Zypries mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, welches den Großen Lauschangriff in seiner jetzigen Form für verfassungswidrig erklärte. Entsprechend gelten weiter als absolut geschützte Bereiche der „Kernbereich privater Lebensgestaltung", das Beichtgespräch sowie das Verteidigergespräch. Darüber hinaus gebe es aus verfassungsrechtlicher Sicht keinen Grund, eine bestimmte Berufsgruppe generell auszuschließen. Parallel zur Verwanzung steht Polizei und Geheimdiensten natürlich die Telekommunikationsüberwachung zu Gebote. Allerdings musste der auch von Bundesinnenminister Schily warmherzig unterstützte Entwurf nach einem Aufschrei der Empörung bei Juristen, Politikern und den betroffenen Berufsgruppen vorerst zurückgezogen werden.
Die Regierungskrise in Italien forderte ihr erstes Opfer: Auf Druck der Alleanza Nazionale und der Christdemokraten nahm der umstrittene Wirtschafts- und Finanzminister Giulio Tremonti seinen Hut. Berlusconi denkt allerdings nicht daran, den Machtambitionen vor allem der Postfaschisten entgegen zu kommen. Nachdem der ohnehin der Mitte-Links-Opposition nahe stehende EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti den Posten ablehnte, übernahm Italiens Regierungschef das Wirtschaftsministerium höchstpersönlich. Auch die Lega Nord zeigte sich weiterhin unzufrieden und forderte nachdrücklich die Umsetzung der zugesagten föderalistischen Reform Italiens ein. Nun gingen wiederum die Christdemokraten unter ihrem bislang eher unscheinbaren Vorsitzenden Marco Follini auf die Barrikaden. Sie setzten Berlusconi eine Frist von 8 Tagen zur Berufung eines Wirtschaftsministers, widrigenfalls sie die Regierung verlassen würden. "Wir haben kein Interesse, eine Koalition fortzusetzen, in der ein Mann alle Entscheidungen und Ämter an sich reißt." Auch Alleanza-Chef Gianfranco Fini forderte nachdrücklich die Neubesetzung des Wirtschaftsministeriums, die gemeinsame Ausarbeitung eines Haushaltsplanes und einen verbindlichen Koalitionsvertrag über angestrebte Reformen, der zudem die Wirtschaftspolitik für die nächsten 3 Jahre festlegen soll. Bedingungslose Unterstützung für den Regierungschef kam von der Lega Nord, deren Konflikt mit den Christdemokraten weiter eskalierte. Während Bossi-Vize Roberto Calderoli seinen Koalitionspartner Marco Follini mit dem kommunistischen Guerillaführer Che Guevara verglich, brachten mehrere christdemokratische Abgeordnete in der Kammer 50 Abänderungsanträge zur Verwässerung der Föderalismusreform ein, die von der Lega als Bedingung für ihren Verbleib in der Regierung betrachtet wird. Sollte das Reformpaket nicht im September den Vorstellungen der Regionalisten gemäß umgesetzt werden, ist ihr Austritt aus der Regierung vorprogrammiert.
Nachdem bereits in der Vorwoche der Oberste Gerichtshof Israels Kritik am Verlauf der durch das Westjordanland gezogenen Apartheidmauer äußerte und dessen Abänderung forderte, urteilte nun auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag. Der UN-Sicherheitsrat hatte den IGH bereits im Dezember beauftragt, die völkerrechtliche Legitimität des Sperrwalls zu prüfen. Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung annektiert Israel durch den Mauerbau nicht unerhebliche Teile des Westjordanlandes und ruiniert die Lebensgrundlage von Zehn-, wenn nicht Hunderttausenden von Palästinensern. Nach mehrmonatigen Beratungen kamen die Haager Richter zu dem Schluss, die Mauer beeinträchtige die Rechte der palästinensischen Bevölkerung und könne auch nicht mit der Sicherheit Israels gerechtfertigt werden. Palästinenserpräsident Arafat reagierte mit Freude und kündigte an, vom UN-Sicherheitsrat eine Resolution zu erwirken, welche Tel Aviv zum Abriss der Sperranlage verpflichtet. Diese Hoffnung erscheint uns doch reichlich illusorisch, denn zum einen hat Israel den Internationalen Gerichtshof nie anerkannt, zum anderen setzt es sich geradezu gewohnheitsmäßig über UN-Resolutionen hinweg und last but not least sitzt im UN-Sicherheitsrat die notorisch israelfreundliche Vetomacht USA. Bezeichnenderweise stimmte im IGH auch nur ein aus den USA stammender Richter gegen den Beschluss.
Nur zwei Monate dauerte es, bis Polen die segensreichen Auswirkungen der EU-Osterweiterung zu spüren bekommt: Infolge der Nachfrage bundesdeutscher Lebensmittelgrossisten, die zwecks größerer Profitspanne aus den billigen Agrarmärkten im Osten importieren, was das Zeug hält, sind die Nahrungsmittelpreise teilweise dramatisch angestiegen. Nach Statistiken der Zentralbank in Warschau ist Geflügel um 22 Prozent %, Rindfleisch um 21,7 % und Schweinefleisch um 9,4 % teurer geworden. Aufgrund von neuen Einfuhrzöllen und EU-Bestimmungen stiegen die Preise von Reis um 27,7%, von Bananen um 18 %. Die Zentralbank musste angesichts des steigenden Inflationsrisikos den Diskontsatz bereits um einen halben Prozentpunkt erhöhen. Zwar profitiert die Not leidende polnische Landwirtschaft von den höheren Preisen, aber die ohnehin schon in bitterster Armut dahinvegetierenden städtischen wie ländlichen Unterschichten sehen sich einer weiteren Verschärfung ihres Existenzkampfes gegenüber.
Die Furcht vor Versorgungsengpässen hat den Ölpreis auf ein neues Monatshoch getrieben. Für ein Barrel der Referenzsorte Light Sweet Crude wurden zur Eröffnung des Handels in New York am Dienstag 39,03 Dollar (31,71 Euro) gezahlt, um 64 Cent mehr als vor dem verlängerten Feiertagswochenende in den USA am Freitagabend. In London verteuerte sich das Barrel Brent bis zum späten Nachmittag um 47 Cent auf 36,77 Dollar. Händler machten den jüngsten Ausfall einer Ölpipeline in Irak am Wochenende und die drohende Pleite des größten russischen Ölexporteurs Yukos für den Preisanstieg verantwortlich. In Nigeria stoppte zudem die Total-Tochter Elf nach Arbeiterprotesten die Förderung. Die anhaltende Gewalt im Irak und die Probleme mit Yukos ließen die Preise steigen, sagte ein Händler von GNI-Man Financial in London. Auch der drohende Arbeitskampf in Nigeria treibe die Preise. Die wichtigste Ölgewerkschaft des westafrikanischen Landes hatte am Wochenende mit Arbeitskampfmaßnahmen gedroht, sollte Staatspräsident Olusegun Obasanjo nicht seine Pläne zum Verkauf der größten Raffinerien fallen lassen. Trotz hoher staatlicher Investitionen erreichen die vier vernachlässigten Anlagen bei weitem nicht ihre Kapazität von 445.000 Barrel pro Tag. Das mit einem Tagesexport von 2,5 Millionen Barrel sechstgrößte Ölexportland der Welt leidet daher unter knappen Vorräten und hohen Treibstoffpreisen und ist auf den Import von Mineralölerzeugnissen angewiesen. Nach Protesten seiner Arbeiter gegen die niedrigen Löhne stoppte der französische Total-Konzern die Öl- und Gasförderung in Nigeria. "Aus Sicherheitsgründen mussten wir die Produktion seit Freitagmittag unterbrechen", sagte der Geschäftsführer der nigerianischen Total-Tochter Elf Petroleum Nigeria, Emmanuel Chiakana. Die Unternehmensleitung führe Gespräche mit der Belegschaft und dem nigerianischen Arbeitsminister. Elf als fünftwichtigster Rohölproduzent des Landes fördert in Nigeria nach eigenen Angaben täglich 215.000 Barrel Öl. Ein genereller Streik in der Ölbranche, über den die Gewerkschaft in spätestens drei Wochen entscheiden will, würde in Nigeria auch den US-Konzern ExxonMobil treffen. Bemerkbar macht sich auch die Streikbewegung der norwegischen Ölarbeiter gegen das Sozialdumping der Regierung in Oslo.
Der Verteidiger des ehemaligen irakischen Staatschefs Saddam Hussein hat sich beklagt. Die USA und die neue Bagdader Führung verweigern ihm den Kontakt mit seinem Mandanten. So sei Saddam bei seiner Anhörung vor dem Sondertribunal am Donnerstag ohne jegliche Rechtsvertretung geblieben, sagte der Jordanier Mohammed Rashdan dem Nachrichtenmagazin "Focus". Und bei dem bisher einzigen Saddam gestatteten Brief an seine Familie habe die Militärzensur nur 17 von 100 Wörtern durchgehen lassen. Rashdan, der von Saddams Ehefrau Sadjida beauftragt wurde, machte seine Teilnahme an dem geplanten Prozess gegen den gestürzten irakischen Präsidenten davon abhängig, dass er zuvor die Erlaubnis bekomme, mit seinem Mandanten zu reden. „Ich habe monatelang versucht, mit ihm in Kontakt zu treten." Sogar an US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld habe er geschrieben, doch habe dieser dann den Erhalt des Briefes bestritten. „Die Amerikaner lügen am laufenden Band." Dass der Irak von US- und anderen Truppen überfallen worden sei, ändere im Übrigen nichts daran, dass Saddam rechtlich gesehen immer noch Staatsoberhaupt sei. Die neue irakische Führung, von der viele Mitglieder eine doppelte Staatsbürgerschaft besäßen, sei nicht durch Wahlen legitimiert. Sie habe auch kein Recht, Sondertribunale einzusetzen. Der Anwalt kündigte an, in dem Prozess auch die Frage nach dem Krieg zu stellen. Geklärt werden müsse, ob eine Supermacht das Recht habe, die Regierung eines anderen Landes aus dem Amt zu jagen.
Der Iran wird nach den Worten des Chefs des israelischen Militärgeheimdienstes, General Aharon Seevi Farkash, bis 2007 über die Atombombe verfügen. "Der Iran hat nicht die Absicht, sein Atomprogramm zu beenden", sagte Seevi Farkash im staatlichen israelischen Fernsehen. "Und wenn es ihm gelingt, es bis Frühjahr 2005 fortzusetzen, wird er in den darauf folgenden zwei Jahren die Atombombe besitzen." Dies sei nicht nur für Israel, sondern für die ganze Welt beunruhigend. Dem Vernehmen nach bereiten sich die israelischen Streitkräfte, wie üblich mit freundlicher Genehmigung der USA, auf einen Militärschlag gegen die Atomanlagen des Mullah-Regimes vor. Während Tel Aviv ein großes Wehklagen über die iranischen Absichten anstimmt, lehnte es einen Vorstoß der Internationalen Atomenergie-Organisation ab, den Nahen Osten zur atomwaffenfreien Zone zu erklären und sein eigenes Massenvernichtungspotenzial von ca. 200 Sprengköpfen zu vernichten.
Die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit ging erneut nur minimal zurück. Im Juni zählte die Bundesagentur für Arbeit 4,233 Millionen Stellenlose, 59.700 weniger als im Mai. Rechnet man die Zahl der derzeit in Trainingsmaßnahmen befindlichen und aus der Statistik gestrichenen 80.000 Personen hinzu, hat die Arbeitslosigkeit gegenüber dem Vormonat sogar zugenommen und liegt damit auf einem neuen Monatsrekord seit der Annexion der DDR. Die Kluft zwischen dem Arbeitsmarkt im Osten und im Westen hat sich im Juni erneut verbreitert. Die nach wie vor dramatische Situation auf dem Arbeitsmarkt im Osten, wo die Zahl der Stellensuchenden zunahm, zeigt sich in der Arbeitslosenquote, die im Juni 18,1 % betrug. Für den Westen errechneten die Statistiker der BA eine Quote von 8,1 %. Bundesweit lag die Arbeitslosenquote bei 10,2 %. Der Verlust von Arbeitsplätzen setzt sich laut BA nahezu unvermindert fort, außerdem meldeten die Unternehmen den Arbeitsämtern 24 400 Lehrstellen weniger als im Jahr zuvor. BA-Vize Heinrich Alt bezeichnete die Lage am Lehrstellenmarkt als angespannt. Die rechnerische Lücke zwischen vakanten Lehrstellen und unvermittelten Bewerbern betrug im Juni 176 900. Ein Bericht der „Wirtschaftswoche“ vom 8. Juli offenbart den systematisch verschleierten Ernst der Lage: Zu den gemeldeten Erwerbslosen müssen noch hinzugezählt werden: 868.000 Personen in Maßnahmen der Bundesagentur, weitere 390.000 in Beschäftigungsprogrammen der Kommunen, rund 1,077 Millionen in den Vorruhestand abgedrängte Erwerbslose, 75.000 Kurzarbeiter und eine Stille Reserve aus nicht Arbeit suchend gemeldeten Arbeitslosen von 2 Millionen. Macht summa summarum 8,643 Millionen Arbeitslose, Quote 18,8 %. Alleine in Hamburg wird die Erwerbslosenzahl nach Angaben des „Hamburger Abendblattes“ um geschlagene 31 % nach unten manipuliert. Unter Umständen könnte die Gesamtzahl noch höher liegen, denn die Bundesagentur streicht auch die 382.000 unvermittelbaren und auf ihre Verrentung wartenden Erwerbslosen aus der Statistik, ebenso die Teilnehmer an Integrationskursen (20.000) und 160.000 krank gemeldete oder in Reha-Maßnahmen befindliche Personen. Damit wären wir bereits bei weit über 9 Millionen Arbeitslosen.
Während Millionen von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern vor dem Abgrund stehen und das Kapital auf weiteren Sozialabbau drängt (die „Standortlüge“), läuft der Exportmotor des Modells Deutschland auf Hochtouren. Von April bis Mai sind die Ausfuhren saisonbereinigt um 3,9 % gestiegen, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Mit 60,8 Milliarden Euro überstiegen die Exporte das Niveau vom Mai 2003 um 11,8 %. In der Handelsbilanz verzeichnete die BRD damit ein Plus von 14,2 Milliarden Euro und in der Leistungsbilanz einen Überschuss von 8,8 Milliarden Euro. Von der Nachrichtenagentur Reuters befragte Volkswirte hatten im Schnitt einen Handelsbilanzüberschuss von 13,5 Milliarden Euro prognostiziert. Überdurchschnittlich liefen die Exporte in die EU und die Länder der Euro-Zone. Die deutschen Ausfuhren dorthin kletterten im Mai um jeweils knapp 14 % zum Vorjahr. Das Plus der Exporte in Drittländer wie etwa den USA lag insgesamt bei 8,5 %. In den Monaten Januar bis Mai lagen die Exporte damit gut 10 % über dem Niveau des Vorjahres und stellen die tragende Stütze der Wirtschaftsentwicklung dar. Zahlen der Bundesbank zufolge ist der Bestand ausländischer Direktinvestitionen alleine in NRW von rund 172,4 Milliarden Euro im Jahr 2001 um 8 % auf 186,1 Milliarden Euro im Jahr 2002 gestiegen. Der Anteil NRWs an den Auslandsinvestitionen insgesamt (507 Milliarden Euro in 2002 nach 481,5 Milliarden Euro in 2001) wuchs von 35,8 auf 36,7 %. Nach Zahlen des Landesamtes für Datenverarbeitung und Statistik lagen die Ausfuhren im März 2004 bei 11,6 Milliarden Euro. Das waren 12,9 % mehr als im März 2003. Die Versendungen in die EU-Mitgliedstaaten erhöhten sich um 5,7 % auf 7,7 Milliarden Euro, die Exporte in Länder außerhalb der EU sogar um 30,1 % auf 3,9 Milliarden Euro. Wirtschaftsminister Schartau (SPD) jubilierte: „Dies zeigt: Nordrhein-Westfalen steht im internationalen Standortwettbewerb gut da und übt große Anziehungskraft auf ausländisches Investitionskapital aus. Diese sehr positive Entwicklung gibt der Konjunktur in NRW wichtige Impulse. Sie unterstreicht, dass die Unternehmen NRWs international hervorragend positioniert sind und konkurrenzfähige Spitzenprodukte erzeugen. Wenn die Firmen des Landes konsequent ihre Chancen auf ausländischen Märkten nutzen, dann nutzt das der ganzen Wirtschaft." Offenbar interessiert es den Sozialdemokraten Schartau eben sowenig wie das bundesrepublikanische Kapital, dass gleichzeitig an Rhein und Ruhr alleine die Zahl der registrierten Arbeitslosen jenseits der Marke von 800.000 liegt. Hauptsache der Exportmotor läuft und die Unternehmerprofite florieren.
Die Zahl der Zwangsversteigerungen ist im ersten Halbjahr 2004 auf ein Rekordhoch gestiegen. Die Zahl der angesetzten Immobilientermine übertraf mit mehr als 47 000 Fällen die Rekordmarke aus dem ersten Halbjahr 2003 von rund 46 000. Die Summe der Verkehrswerte sei dabei um 6,9 % auf 9,4 Milliarden Euro gestiegen, teilte der Verlag für Wirtschaftsinformationen Argetra in Ratingen bei Düsseldorf mit. Unter den 40 wichtigen Städten nimmt Frankfurt mit einer Zunahme der Termine um 116 % auf 305 Fälle eine Spitzenposition ein. In absoluten Zahlen hat Leipzig mit 2492 Fällen (plus 13 Prozent) die Nase vorn. Hamburg verzeichnet einen Anstieg von 23 % auf 301, Berlin um knapp 9 % auf 1702. Auf Länderebene liegen Schleswig-Holstein/Hamburg (plus 26,7 %), Niedersachsen/Bremen (plus 9,8 %), Sachsen/Thüringen (plus 9,6 %), Berlin/Brandenburg (plus 7,9 %) und Hessen (plus 2,7 %) deutlich über dem Bundesschnitt von plus 1,9 %. Verantwortlich für die Zunahme der Zwangsversteigerungstermine ist die wirtschaftliche Situation.
Die Arbeitsmarktreformen haben auch spürbare Auswirkungen auf die Lebensversicherer. Immer mehr Arbeitslose sind nach Angaben des Bundes Deutscher Versicherungskaufleute gezwungen, ihre Lebensversicherungen zu kündigen. Mehr als 50.000 Policen seien nach Schätzungen des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) 2003 auf Druck der Arbeitsämter gekündigt worden. „Wir spüren sowohl eine Zurückhaltung in der Vertragsanbahnung als auch die vermehrten Kündigungen.“ Im vergangenen Jahr sind wegen vorhandenen Vermögens 74 640 Anträge auf Arbeitslosenhilfe abgelehnt worden, wie die Bundesagentur für Arbeit (BA) dem Blatt bestätigte. Da rund 70 % der Arbeitnehmer eine Lebensversicherung besäßen, schätzt der GDV die Zahl der Versicherten unter den Arbeitslosen auf mindestens 50 000 Personen. Die durchschnittliche Versicherungssumme habe 2003 bei rund 21 000 Euro gelegen, so dass insgesamt ein Volumen von etwa 1 050 Millionen Euro zusammen komme. Dieser Betrag stehe den Betroffenen damit weder zur Versorgung der Hinterbliebenen im Todesfall noch im Alter zur Verfügung. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 5,5 % der Lebensversicherungen vorzeitig gekündigt, was für die Kunden regelmäßig mit Verlusten verbunden ist. Diese Quote ist das höchste Stornoniveau seit zehn Jahren.
Zur
Ankündigung der SPD, die gemeinnützige Arbeit in den Kommunen auszuweiten
und damit "weit mehr als 100.000 Jobs" zu schaffen, erklärte
PDS-Bundesgeschäftsführer Rolf Kutzmutz: „Sinn stiftende
und Existenz sichernde Arbeit - das war gestern. Heute ist nur noch von "Jobs"
die Rede, damit gar niemand erst auf die Idee kommt, etwas anderes als prekäre
Anstellung und Niedriglohn zu erwarten. Ganz in diesem Sinne verkündet
die SPD nun, "weit mehr als 100.000 Jobs" schaffen zu wollen. Fordern
und fördern wollte die Regierung die Langzeitarbeitslosen. Was denen abgefordert
wird, ist bekannt: empfindliche Abstriche bei den Lohnersatzleistungen, verschärfte
Zumutbarkeitskriterien, Anrechnung von Ersparnissen und Einkommen des Partners.
Jetzt kommt also angeblich das Fördern. An die bessere Vermittlung von
Langzeitarbeitslosen in vollwertige Arbeitsplätze wird dabei offensichtlich
weniger gedacht. Kein Wunder: Nicht mal die Bundesregierung glaubt daran, dass
Hartz IV Arbeitsplätze schafft.
Stattdessen sollen Langzeitarbeitslose künftig verstärkt gemeinnützige
Arbeit leisten - für "bis zu 2 Euro“ Stundenlohn, zusätzlich
zum ALG II. In den Kommunen und bei den Trägern sozialer Einrichtungen
sollen so Lücken gestopft werden, die die Bundesregierung mit ihrer Steuer-,
Sozial- und nicht zuletzt ihrer Arbeitsmarktpolitik erst gerissen hat. "Angebot
für eine sinnvolle Tätigkeit" nennt das der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses,
Rainer Wend von der SPD. Wohlgemerkt: Wer ein
solches "Angebot" bekommt, wird es dann annehmen müssen. Ich
nenne das: Zwangsarbeit und unverantwortliches Lohndumping.
Die Bundesregierung will mit ihrem genialen "Masterplan für Bildung,
Familie und Arbeitsmarkt", der in der Koalitionsklausur auf Schloss Neuhardenberg
ausgetüftelt werden soll, Familien- und Arbeitsmarktpolitik verknüpfen,
verkündet sie. Aber weder für Familien noch für Arbeitslose wird
es Grund zur Freude geben. Wenn gerade im Bereich sozialer Dienstleistungen
preiswerte und vom Staat subventionierte Zwangsarbeit qualifizierte, motivierte
und angemessen bezahlte Arbeit verdrängt, zeigt der Masterplan nichts weiter
als das Scheitern der Regierung auf den Feldern Bildung, Familie und Arbeit
an.“
In der BRD sind immer mehr Menschen auf Lebensmittelspenden angewiesen, weil ihre Einkünfte nicht mehr zum Einkaufen ausreichen. Ehrenamtliche Mitarbeiter der "Tafel" versorgen einem Bericht des ARD-Wirtschaftsmagazins „Plusminus“ inzwischen täglich über eine halbe Million Bedürftige mit kostenlosen Lebensmitteln, die von Herstellern und Handel gespendet werden. Mit dem neuen Arbeitslosengeld II droht nochmals ein massiver Anstieg. Im Jahr 2001 seien es noch rund 200.000 Menschen gewesen, zitiert das Magazin den Bundesverband "Deutsche Tafel". Betroffen seien vor allem Arbeitslose und deren Angehörige, Alleinstehende und Familien mit Kindern. Der Verband befürchtet, dass die inzwischen bundesweit 440 Anlaufstellen nicht mehr ausreichen, wenn Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ab 2005 zum Arbeitslosengeld II zusammengelegt werden. Sprecherin Susanne Lexa: „Der Ansturm auf die Tafeln wird mit Hartz IV rapide zunehmen. Die Reform trifft vor allem die rund 2,1 Millionen Bezieher von Arbeitslosenhilfe, die massiv schlechter gestellt werden. Gerade diese Menschen und ihre Familien werden immer stärker auf die Hilfe der Tafeln angewiesen sein."
Auch mit Arbeit ist man in der BRD nicht mehr vor Armut gefeit. Rund 6,5 Milllionen Menschen arbeiten im Niedriglohnbereich. Allein in Westdeutschland gelten etwa 12 % der Vollzeit-Beschäftigten als arm. Und die Zahlen werden dramatisch steigen, wenn die Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln am 1. Januar 2005 wie geplant in Kraft tritt. Danach soll künftig jeder Arbeitslose jeden Job zu fast jeder Bezahlung annehmen müssen, auch Teilzeit- und Minijobs. Die Grenze nach unten besteht nur noch in der Sittenwidrigkeit, die bei 30 Prozent unter den ortsüblichen Tarifen liegt. Wer das nicht akzeptiert, dem werden die Sozialleistungen drastisch gekürzt. Rund 3 Millionen Menschen werden von dieser Verschärfung betroffen sein. Rechnet man die Angehörigen dazu, sind es 4,5 Millionen.
Dem MLPD-Zentralorgan „Rote Fahne“ vom 8. Juli 2004 entnehmen wir folgende Zeilen: „Je aggressiver die deutschen Übermonopole um die Beherrschung des Weltmarkts mitkämpfen, umso stärker müssen sie die Schraube der Ausbeutung anziehen. Genau das ist auch die Zwickmühle der Monopole: Ihre Regierung muss die Massen schröpfen - wenn möglich, soll dabei aber der Betrug der "gemeinsamen Interessen" von Monopolen und Massen aufrecht erhalten bleiben. Die Sozialdemokratie spielt in diesem Betrugsszenario eine wichtige Rolle: Sie predigt die Klassenversöhnung statt den Klassenkampf. Dass der Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Rogowski, Schröder nach dem Desaster der Europawahlen Durchhalteparolen auf den Weg gab, kommt nicht von ungefähr. Nur mit der SPD, die von vielen Menschen lange Jahre als "das kleinere Übel", als irgendwie mit der Arbeiterbewegung verbunden angesehen wurde, konnte ein so volksfeindliches Programm wie die Agenda 2010 auf den Weg gebracht werden. Die SPD diente bereits in der Weimarer Republik als soziale Hauptstütze der Bourgeoisie und schloss ihre Entwicklung zu einer bürgerlichem Monopolpartei spätestens mit dem Godesberger Programm 1951 ab. "Kapitalorientierte" Politik bzw. Politik im Interesse der herrschenden Monopole ist deshalb kein Betriebsunfall, sondern das Wesen dieser Partei. Sie ist nicht erst unter Schröder vom Kurs abgekommen, wie die "Wahlalternative" glauben machen will. Die "Wahlalternative" orientiert auf eine neue Partei im Bundestag, die die Anliegen der Bevölkerung auf diesem Wege durchsetzen wird. Die Grünen haben vorgemacht, wohin es führt, wenn man mit diesem Betrug in den Bundestag einzieht. (...) Wenn im staatsmonopolistischen Kapitalismus etwas im Interesse der Massen durchgesetzt werden kann, dann nicht durch den Parlamentarismus, sondern nur durch den Kampf der Massen. (...)“
Lagefeststellung Beurteilung der Situation Möglichkeiten des Handelns Entschluss Umsetzung Kontrolle