Wochenschau

 

Die politische Wochenschau

 

vom 11. bis 17. Dezember 2004

Schlagzeilen der Woche   zusammengestellt von Christian Klee  

 

 

Zitat der Woche:
"Revolutionär ist man nicht deshalb, weil man zur Änderung sozialer Zustände Gewalt anwendet, sondern deshalb, weil man diese Zustände von Grund aus beseitigen, das bestehende Prinzip aufheben, ein neues an seine Stelle setzen will; weil man die Bestrebungen, unter Aufrechterhaltung des alten Prinzips nur reformierend an den Zuständen herumzuflicken, als unzulänglich verwirft."
- Kurt Hiller


Der Outsourcing-Boom hat im laufenden Jahr zu neuen Höhenflügen angesetzt. Laut einer Studie des Marktforschungsinstitutes Frost & Sullivan werden bis zum Jahresende insgesamt 826.000 IT-Jobs aus den Industrienationen in Billiglohnländer abgewandert sein. Hauptexporteure bei den Jobs sind die USA und Japan bzw. in Europa die BRD. Profiteure der Abwanderung von IT-Stellen sind Indien und China. Frost & Sullivan hat für seine Studie die Entwicklung in 14 Ländern, darunter Frankreich, die BRD, Hongkong, Japan, die USA und Großbritannien, in den vergangenen drei Jahren unter die Lupe genommen. Demnach ist die Zahl der IT-Jobexporte seit Beginn 2002 unaufhaltsam angestiegen - der durchschnittliche jährliche Zuwachs bei den Stellen, die von den Industrie- in Entwicklungsländer gingen, lag bei 5,9 %. Neben den Kostenvorteilen wurde das Outsourcing vor allem durch staatliche Unterstützungen und Steuer-Anreize in den Billiglohnländern begünstigt. Darüber hinaus hat sich der Trend zum Outsourcing dadurch verstärkt, dass viele ausländische IT-Profis ihren Arbeitgebern in den Industrieländern den Rücken kehrten und in ihre Heimatländer zurückgingen, wo sie dieselbe Arbeit zu einem geringeren Gehalt verrichteten. Die Länder, in die die IT-Jobs gehen, sind Indien, China, Brasilien, Mexiko, Malaysia, Polen, Rumänien und Russland. Dabei führt Indien als größter Importeur von IT-Jobs weit vor China - gegenwärtig werden doppelt so viele Stellen in den Subkontinent wie in das Reich der Mitte ausgelagert.

Im „Neuen Deutschland“ vom 11. Dezember befasste sich Herbert Hölz mit den Theorien des linken Autoren Robert Kurz: „Tägliche Meldungen über den Kulturverfall - von Messerstecherei über Vergewaltigung kleiner Mädchen und Jungen, den gezielten Mord an Konkurrenten bis hin zu Kannibalismus - haben den studierten Philosophen und Historiker Robert Kurz veranlasst, nach den Wurzeln des Übels zu fahnden. Der freie Publizist befasst sich schon seit langem mit der Krise der Warengesellschaft; sie ist Gegenstand der von ihm mitbegründeten Theoriezeitschrift „Exit“. Bereits in dem vergangenes Jahr erschienenen Buch »Weltordnungskrieg« hat er aufgezeigt, dass der Globalisierung des Kapitals immer mehr soziale Zerrüttung und moralische Verwilderung folgen und sich eine substaatliche Terror- und Plünderungsökonomie herausbildet, verbunden mit einer gesellschaftlichen Verwirrung, da sich viele nicht erklären können, was da vor sich geht. (...) Wir leben in einer Welt der schönen Bilder. Kurz setzt dieser in seinem neuen Buch »Blutige Vernunft« eine scharfe Kritik des Kapitalismus und der westlichen Werte entgegen. Er zeigt die »Entmenschung des Menschen« in der Warengesellschaft, in der selbst der »Kannibale von Rotenburg« nicht als Ausnahme abzutun sei. »Zumindest hinsichtlich der Phantasien handelt es sich keineswegs um einen absoluten Ausnahmefall. In der postmodernen Normalität tummeln sich solche Figuren geradezu und haben bereits eine Art Modetrend etabliert.« Kurz kritisiert den theoretischen Stillstand, auch unter den Linken. Er will provozieren, um gegen »höfische Zeremonien des bezopften offiziellen Wissenschaftsbetriebs« anzugehen, der unangenehme Inhalte ausblende, dafür mit der Personalisierung von Inhalten und Auseinandersetzungen aufwarte. Philosophen würden wie Fußballstars antreten. „Statt die Kritik gegen das Wesen des Kapitals selbst als Unwesen zu richten und sie damit kategorial zuzuspitzen, wird die demokratische Bräsigkeit zum Ideal erhoben.“ Der Schein werde für die Wirklichkeit genommen. Es werde über Erscheinungsformen wie Rassismus, Ausgrenzung, Unterdrückung, Militäraktionen usw. diskutiert, doch der Sache nicht auf den Grund gegangen. Statt Polaritäten wie Markt oder Staat, Vernunft oder Irrationalismus, Zivilisation oder Barbarei, Natur oder Kultur, Demokratie oder Diktatur, Freiheit oder Knechtschaft, Aufklärung oder Gegenaufklärung einseitig zu sehen, müsse der gemeinsame Bezugspunkt, die innere Durchdringung im Wert-Abspaltungsverhältnis, analysiert werden. In 20 Thesen gegen die so genannte Aufklärung und die »westlichen Werte« entwickelt Kurz eine radikale Kritik an den Aufklärern des 18. Jahrhunderts als den geistigen Vätern kapitalistischer Warengesellschaft und eine Analyse der Geschichte als einer Fetischgeschichte, die im Kapitalismus zur vollen Reife gelangt sei. Das führt ihn zu der umstrittenen These, nach der die »unbewohnbaren Ruinen der abendländischen Subjektivität« nicht »nach einer geschmackvollen, intellektuellen Innenarchitektin« verlangen, »sondern nach dem Baggerfahrer und der Abrissbirne«. Er verlangt, heilige Kühe zu schlachten und radikale Begriffszertrümmerung, da der wesentliche Punkt sei, die »bürgerliche Subjektform der Moderne mitsamt ihrer Wurzel auszureißen, radikal zu negieren und ersatzlos zu überwinden«. Zugleich fordert Kurz, die Artefakte der Geschichte, die intellektuellen Reflexionen, künstlerischen Produkte und die Kultur- und Produktionstechniken zu prüfen, ob sie weiterentwickelt oder abgeschafft werden müssen. Schon im Essay »Subjektlose Herrschaft« von 1993 wurden die Grundgedanken deutlich, die Kurz zu seiner radikalen Kritik aus der Sicht einer emanzipatorischen Antimoderne an der Menschenfeindlichkeit des Kapitalismus führten, aus der die Individuen zu befreien sind, um sich selbstbewusst in einer Assoziation freier Individuen zu organisieren. Zu kurz greifen seiner Meinung nach alle Theorien, die nach einem bestimmten emanzipatorischen oder revolutionären Subjekt zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse suchen, wie die kritische Theorie oder der untergegangene Arbeiterbewegungsmarxismus. Strukturalismus und Systemtheorie wiederum, die Subjekte in den Systemstrukturen aufgehen lassen, sind für ihn sogar Teil einer positiven Stellung zum Kapitalismus, da sie die Strukturen der Warenproduktion als gegeben hinnehmen. Ausgangspunkt einer radikalen Kritik sei, so Kurz, der Marxsche Fetischismusgedanke, wobei die Warenform »die letzte und höchste Fetischkonstitution der menschlichen Vorgeschichte« ist, »deren praktisches Versagen den Horizont des Fetischismus überhaupt aufsprengt«. Warenproduktion ist die Herstellung von Erzeugnissen für andere, denen sie durch Tausch nach Wert vermittelt werden. So scheint es, als ob die gesellschaftliche Gleichheit der menschlichen Arbeiten sich in den Produkten ausdrücke, als ob es nicht um gesellschaftliche Verhältnisse, sondern um Sachen ginge. Dieser von Marx charakterisierte Warenfetischismus vermittelt den Menschen den Eindruck, ihre gesellschaftlichen Beziehungen seien in den Produkten entfremdet. Sie erscheinen als Bewegungen von Sachen, unter deren Kontrolle sie nun stehen, statt sie zu kontrollieren. Dieser Fetisch, der Symbole für real erklärt, täuscht die Menschen über den wirklichen Charakter ihrer Beziehungen und über deren mögliche Gestaltbarkeit hinweg. Eine Kritik des Warenfetischismus ist so eine doppelte Aufgabe. Sie hat erstens den wirklichen Charakter der gesellschaftlichen Beziehungen aufzudecken und zu zeigen, wie alles in Geldform gepresst und zur Ware wird. Zweitens ist damit seine mögliche Überwindung in einer menschlichen Gesellschaft zu diskutieren, da die Fetischgesellschaft nur die Vorgeschichte der Menschheit sein sollte. Beiden Aufgaben stellt sich Kurz. Die Substanz seiner Kritik: Erstens führt die Wertvergesellschaftung, in der alles, auch der Mensch, zur verwertbaren Ware wird, zu einem Selektionsmechanismus, der nur den als Menschen anerkennt, der den kapitalistischen Verwertungsbedingungen entspricht. Diesem erst stehen Menschenrechte zu. Anderen werden sie abgesprochen; sie werden psychisch und physisch bekämpft, zerbombt, vernichtet. Die »blutige Vernunft« der auf dem Warenfetischismus aufbauenden Konstruktion ist überall dort zu verfolgen, wo westliche Werte Maßstab des Handelns sind. Zweitens reiche es nicht aus, Arbeits- oder Systemkritik zu üben, da die gesamte Gesellschaft der Fetischkonstruktion unterliege. Die Menschen funktionieren als automatische Subjekte in den Systemen der Wertevergesellschaftung. Für Kurz ist ein Subjekt »ein bewusster Aktor, der sich seiner eigenen Form nicht bewusst ist«. Wertekritik oder generell Subjektkritik ist zu betreiben, um den Fetischismus zu überwinden. Drittens ist das Abspaltungsverhältnis »das Zentralverhältnis der modernen Fetisch-Konstitution, das ein Wertverhältnis überhaupt erst möglich macht«. Das unbewusst agierende Subjekt ist weiß, männlich, aufklärerisch bedingt vernünftig und westlichen Werten verpflichtet. Wer als Mensch gelten will, muss sich dem - nach herrschender Ideologie - anpassen, so die vermännlichte Karrierefrau, der kulturell anders verwurzelte Zuwanderer, der rassisch Andersartige. Alles andere wird ausgegrenzt. Viertens ergibt sich daraus eine Kritik der Aufklärung, deren Begründer die Wertevergesellschaftung zur ultima ratio jeder Vernunft erklärten und zu deren Durchsetzungsideologen wurden. In der »unmittelbaren Identität von wertförmiger Vernunft und Vernichtung kann auch der Macher mit dem Denker zusammenfallen. Die bürgerliche Einheit von Theorie und Praxis ist das Vernichtungslager, die Atomexplosion, das Flächenbombardement. Darin besteht der verborgene gemeinsame Nenner von Kant, Hitler und Habermas«.“

Im Gazastreifen verübten die Hamas und Aktivisten der Fatah einen erfolgreichen Anschlag: Die Untergrundkämpfer unterminierten einen israelischen Kontrollposten an der Grenze zu Ägypten und zündeten 1,5 Tonnen Sprengstoff. Bei der Operation fanden 5 israelische Soldaten und 2 der Attentäter den Tod, zudem wurden 8 Israelis verletzt. Die israelische Seite reagierte mit Luftangriffen auf Ziele in Gaza-Stadt und griffen mit Bodentruppen das Flüchtlingslager Chan Junis an. Hier verloren bei mehrtägigen Razzien und Gefechten die Angreifer 11 Verwundete und die palästinensischen Milizen 5 Gefallene und 17 Verletzte. Zudem scheiterte ein Mordanschlag des Mossad auf einen in Damaskus residierenden Hamas-Führer. Aus Furcht vor einem Blutbad, ausgelöst durch einen israelischen Militärschlag, sagte die Hamas die Feierlichkeiten im Stadion von Gaza anlässlich ihres 17. Gründungsjubiläums ab. Für Irritation auf israelischer Seite dürften Pressemeldungen sorgen, nach denen sowohl die EU als auch die USA diskrete Verhandlungsfühler zum Hamas-Politbüro in der syrischen Hauptstadt aufgenommen haben. Für Tel Aviv stellte Shimon Stein, israelischer Botschafter in Berlin, noch einmal klar, dass auch bei einer Verhandlungslösung im kommenden Jahr Annexionen im Westjordanland und keinesfalls ein Rückzug auf die Grenzen von 1967 zu erwarten sind. Gemeint sind 3-4 % der Fläche, auf denen sich 80 % der jüdischen Siedlungen befinden. Immerhin erklärte sich Sharon bereit, die Räumung des Gazastreifens und von 4 Siedlungen im Westjordanland mit der palästinensischen Seite zu koordinieren. Die palästinensische Seite akzeptierte diese Möglichkeit für Gaza, lehnte aber auch nur Diskussionen um Gebietsabtretungen auf der Westbank kategorisch ab. Der in Israel inhaftierte palästinensische Politiker Marwan Barghouti hat inzwischen seine Kampfkandidatur bei der Präsidentenwahl zurückgezogen, um das Fatah-Lager nicht unnötig zu schwächen.

Das Unternehmensranking "Top 100 des Ostens", das von der Berliner Morgenpost exklusiv erhoben wird, warf ein bezeichnendes Licht auf die Lage der neuen Bundesländer: Auch 15 Jahre nach der Wende fehlt dort das Fundament, auf das jede Wirtschaftsregion angewiesen ist, wenn sie ihre ökonomische Rückständigkeit abschütteln will - ein robuster Unternehmenssektor hat sich zwischen Ostsee und Erzgebirge bislang nicht herausgebildet. Vielmehr belegt das Ranking eindrucksvoll, dass die ostdeutsche Firmenlandschaft nach wie vor viel zu kleinteilig ist. So genügt bereits ein Umsatz von soeben rund 130 Millionen Euro, um im Top-Segment der ostdeutschen Wirtschaft gelistet zu sein. Statt aus eigenständigen Konzernen besteht der Firmensektor Ost darüber hinaus überwiegend aus verlängerten Werkbänken mit eingeschränkter Entscheidungsbefugnis. In diese Kategorie entfällt etwa jede zweite Gesellschaft in den "Top 100" - etwa BASF in Schwarzheide, Opel in Eisenach oder Rolls Royce in Dahlewitz. Eigenständige Konzernunternehmen, die wie Jenoptik in Jena im internationalen Wettbewerb stehen, sind im Osten hingegen dramatisch unterrepräsentiert. Zusammen haben die 100 umsatzstärksten Ost-Unternehmen 2003 einen Umsatz von rund 64,6 (2002: 59,1) Milliarden Euro erwirtschaftet. Gegenüber dem Vorjahr entspricht das zwar einem Wachstum um beachtliche 9,2 %. Trotzdem: Damit ist die in den neuen Ländern und in Ost-Berlin ansässige Firmenelite nicht einmal so groß wie die Münchener Siemens AG, die im Vergleichszeitraum rund 74,2 Milliarden Euro erlöste. In der BRD wiesen 2003 insgesamt rund 50 Konzerne einen Umsatz in mindestens zweistelliger Milliardenhöhe aus - in dieser Liga spielt kein einziges Unternehmen aus den neuen Ländern. Der dortige Spitzenreiter, der Berliner Energiekonzern Vattenfall, meldete knapp 8,5 Milliarden Euro Umsatz - und das auch nur, weil der Hamburger Versorger HEW konsolidiert ist. Mit diesem Volumen rangiert die Vattenfall-Gruppe, zu der auch die Braunkohleindustrie in der Lausitz, der Berliner Versorger Bewag und der ostdeutsche Stromverbund Veag zählen, gesamtdeutsch gerade auf Platz 60. Die Zwickauer VW-Sachsen-Gruppe, mit 4,3 Milliarden Euro die Nummer zwei im Osten, kommt bei einer nationalen Betrachtung lediglich auf Rang 124. Auf Platz 157 wiederum liegt der Leipziger Ferngastransporteur Verbundnetz Gas AG (VNG), der im Osten auf dritter Stelle steht. Insgesamt gibt es lediglich 14 (2002: 13) ostdeutsche Umsatzmilliardäre - darunter vier Energieversorger. Nur 32 (2002: 26) Unternehmen haben im vergangenen Jahr einen Umsatz von 500 Millionen Euro und mehr gemacht. Besorgniserregend bleibt auch die vergleichsweise geringe Zahl der Arbeitplätze in den ostdeutschen Großbetrieben. Die "Top 100" beschäftigten im vergangenen Jahr gemeinsam knapp 205 000 (2002: 201 000) Mitarbeiter. Davon war allerdings fast jeder Vierte beim Berliner Dienstleister Dussmann angestellt, der zwar seinen Sitz in Ostdeutschland hat, dort aber nur einen Bruchteil seines Geschäfts macht. Allein auf der Lohn- und Gehaltsliste von Siemens stehen 417 000 Beschäftigte. Über die vergleichsweise beste Ausstattung mit Großbetrieben verfügt der Freistaat Sachsen. Jedes dritte Unternehmen in den "Top 100" hat dort seinen Sitz. Aber auch das öffentlich eher als strukturschwach wahrgenommene Mecklenburg-Vorpommern schneidet erstaunlich gut ab: Es ist in dem Ranking mit 16 Gesellschaften vertreten, obwohl dort nur knapp 12 % der Ostdeutschen leben. In Brandenburg und Ost-Berlin hingegen sind die relativ wenigsten Großunternehmen des Ostens beheimatet.

In ihrem weltweit veröffentlichten Bericht „Paying the Price - Why rich countries must now invest in a war on poverty“ weist die internationale Hilfsorganisation Oxfam darauf hin, dass die reichen Länder gegenwärtig (gemessen am Anteil des Bruttoinlandsproduktes) nur noch halb soviel Entwicklungshilfe leisten wie in den 60er Jahren. Zugleich habe sich jedoch deren eigener Wohlstand verdreifacht. Den immer spärlicher fließenden Entwicklungshilfegeldern an die armen Staaten (Low Income Countries, LIC), stehen heute 100 Millionen US-Dollar gegenüber, die sie pro Tag für ihren Schuldendienst aufbringen müssen. Oxfam rechnet vor, dass die LICs für jeden Dollar, den sie an Entwicklungshilfe erhalten, 1,44 Dollar an Schuldendienst zurückzahlen. Damit rücken die Millennium-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen zur Halbierung der weltweiten Armut bis 2015 in schier unerreichbare Ferne. Die Hilfsorganisation machte deutlich: Wenn gegenwärtige Trends nicht sofort umgekehrt würden, sterben bis 2015 mindestens 45 Millionen Kinder mehr an armutsbedingten Ursachen und bleiben weitere 97 Millionen Kinder ohne Bildung. Dabei hatten sich die entwickelten Industriestaaten bereits im Jahr 1970 verpflichtet, 0,7 % ihres jeweiligen BIP für Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen. Keiner der reichen Staaten hat nach Oxfam-Angaben in den seitdem vergangenen 34 Jahren seine Verpflichtung erfüllt. Bei vielen dieser Staaten existiere nicht einmal ein Zeitplan zur Erreichung dieses Zieles. Zudem gingen nur 40 Prozent der als Entwicklungshilfe deklarierten Finanzhilfen der reichen Staaten tatsächlich in die armen Länder, und dazu meist noch verzögert. Als Beispiel wird genannt, dass die USA für Entwicklungshilfe 2003 mit gerade 0,14 % des Bruttoinlandsproduktes nur ein Zehntel von dem ausgaben, was sie für den Krieg im Irak bereitgestellt haben.

Der konservative Oppositionspolitiker Traian Basescu hat trotz massiver Intervention des der Bundesregierung nahe stehenden WAZ-Konzerns auf Seiten der regierenden Sozialisten die Präsidentenwahl in Rumänien gewonnen. Sein Kontrahent, der sozialistische Ministerpräsident Adrian Nastase, räumte bereits seine Niederlage ein. Als ausschlaggebend erwies sich die wuchernde Korruption in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Justiz. Auf Basescu, den Bürgermeister von Bukarest, entfielen nach Auszählung von 98,76 % der Stimmen 51,23 %. Nastase erreichte 48,77 %, wie das Zentrale Wahlamt in Bukarest erklärte. Der Wahlsieg Basescus hat auch Auswirkungen auf die Regierungsarbeit: Da im Parlament keine der Parteien über eine Mehrheit verfügt, darf der Präsident einer Partei seiner Wahl den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse könnte der Partei der ungarischen Volksgruppe oder der nationalistischen Großrumänienpartei die Rolle des Züngleins an der Waage zukommen. Kleine Anekdote am Rande: Nachdem der scheidende Staatspräsident Iliescu den Nationalistenführer Corneliu Vadim Tudor mit dem rumänischen Verdienstorden ehrte, gab der amerikanische Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel, antiarabischer Rassist und zionistischer Hardliner, seine entsprechende Auszeichnung unter Protest zurück.

Bundesinnenminister Otto Schily hat das neue Terrorismus-Abwehrzentrum in Berlin vorgestellt. Künftig arbeiten hier laut Presseerklärung „das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz in der „Spezial- und Analyseeinheit Internationaler Terrorismus" zusammen. Neben täglichen Lagebesprechungen hat das Gemeinsame Terrorismus-Abwehrzentrum folgende Aufgaben: der kontinuierliche Austausch von Fallauswertungen, Analysen, Gefährdungsbewertungen,
operativen Informationen und insbesondere von Auswertungen des islamistisch-terroristischen Personenpotenzials. Ziel ist es, die vorhandenen Ressourcen zu bündeln und Synergieeffekte zu erreichen, zum Beispiel bei der Internet-Recherche, Übersetzungen und der Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Hierbei steht im Vordergrund, terroristische Strukturen zu erkennen, konsequente Frühaufklärung zu ermöglichen sowie einen hohen Fahndungs- und Ermittlungsdruck aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Daher werden die erforderlichen Fachkompetenzen von Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz mit der notwendigen Personalausstattung in Berlin
konzentriert. Auch der Bundesnachrichtendienst, der für die Beschaffung und Auswertung von Informationen über das Ausland zuständig ist, wird in das Terrorismus-Abwehrzentrum mit seinen Kernkompetenzen eingebunden. Darüber hinaus ist beabsichtigt, die Landeskriminalämter beziehungsweise Landesverfassungsschutzämter ebenso wie den Bundesgrenzschutz, das Zollkriminalamt, den Militärischen Abschirmdienst und nach Bedarf weitere Institutionen wie Europol oder Experten aus befreundeten Staaten in die Arbeitsabläufe zu integrieren. Die meisten Bundesländer haben ihre Mitwirkung auch schon zugesagt. Für die Bewältigung der gemeinsamen Aufgabe von Polizei und Nachrichtendiensten des Terrorismusabwehrzentrums ist es notwendig, gemeinsame Dateien zu nutzen. Daher werden zügig die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen für gemeinsame Projektdateien und eine gemeinsame Index-Datei. Die Nutzung der Dateien wird vereinfacht, beschleunigt und systematisiert
.“

Im Irak wurde erstmals ein Kandidat für die anstehenden Parlamentswahlen erschossen, und zwar handelt es sich um Sattar Jabar, Mitglied der Hisbollah-Bewegung und Kandidat der schiitischen Vereinigten Irakischen Allianz. In Bagdad fiel Kassim Mehawi, seines Zeichens stellvertretender Kommunikationsminister, einem Mordkommando zum Opfer. Am ersten Jahrestag der Festnahme Saddam Husseins sprengte sich ein Selbstmordattentäter vor einem Kontrollpunkt an der Grünen Zone im Zentrum Bagdads in die Luft und riss 13 Menschen mit in den Tod. Es folgte eine weitere Märtyreroperation, bei der es 7 Tote gab. Wechselseitige Anschläge in Sadr City und Kerbela deuten darauf hin, dass sich eine bewaffnete Konfrontation zwischen der radikalen Mahdi-Armee und gemäßigteren schiitischen Gruppen zusammenbraut. In der angeblich schon vor mehreren Wochen befriedeten Region um Falluja entbrannten heftige Gefechte, bei denen 10 US-Soldaten fielen. Die Bilanz der „Befriedungsaktion“ beläuft sich mittlerweile auf rund 2000 Tote unter der Zivilbevölkerung, 100.000 der 300.000 Einwohner sind obdachlos. Die Zahl der während der Entlastungsoperation der Rebellen gegen Mossul gefallenen Regierungssoldaten und Polizisten hat sich mittlerweile auf 150 erhöht. Berichten von amerikanischen Menschenrechtsorganisationen tun sich die US-Invasoren immer wieder durch Menschenrechtsverletzungen hervor: Prügel, Elektroschocks, Scheinexekutionen, willkürliche Erschießung von Zivilpersonen und Entzündung von Körperteilen mit brennbaren Flüssigkeiten gehören zum Alltag einer brutalisierten Soldateska, von den Verhältnissen in den Verhörzentren und Konzentrationslagern ganz zu schweigen. Aus Sicherheitsgründen wurde auf die Einrichtung von Büros zur Wählerregistrierung verzichtet, die Wahlscheinausgabe erfolgt nun in den Lebensmittelstellen. Anlässlich des organisatorischen und militärischen Versagens der Okkupanten erhob der irakische Interimspräsident al-Jawar seine Stimme und kritisierte die Auflösung der irakischen Streitkräfte und des Geheimdienstapparates nach dem Sturz Saddam Husseins. Jawar beschuldigte den Iran und Syrien, den irakischen Widerstand zu unterstützen.

Zwar soll die Zahl der täglichen Angriffe auf die Besatzer und ihre Kollaborateure von 120 auf 50 zurückgegangen sein, aber offensichtlich haben die Operationen an Wucht gewonnen. Die Personaldecke der US-Streitkräfte ist bereits so angespannt, dass die Behörden bereits dazu übergehen, Reservisten jenseits des 45. Lebensjahres und mit Familie einzuberufen. Hunderte haben Widerspruch eingelegt, Dutzende tauchten unter oder flüchteten nach Kanada. Im Irak selbst ist die Sicherheitslage der Besatzungstruppen so desolat, dass die Amerikaner vermehrt dazu übergehen, ihre Truppen aus der Luft zu versorgen - der Landweg ist nicht mehr sicher genug. Sich in Kuwait auf den Marsch an die Front vorbereitende Truppenteile durchwühlen bereits den Schrott nach Ersatzteilen, um ihre Fahrzeuge halbwegs einsatztauglich zu machen. Angesichts der andauernden Angriffe auf die Besatzungstruppen verwundert es nicht, dass die Zahl derjenigen, die der US-Armee den Rücken kehren, neue Rekordmarken erreicht. Der US-Sender CBSNews berichtete unter Berufung auf das Pentagon, dass seit Beginn des Irak-Kriegs schon über 5500 US-Soldaten desertiert sind. Laut „Seattle Times“ herrscht bei der Reserve der US-Armee bereits ein Mangel an Offizieren, insbesondere an Hauptleuten. Derzeit seien 6 046 Stellen für Hauptmann-Planstellen - fast 41 % der Gesamtzahl - nicht besetzt, berichtete die Zeitung in der vergangenen Woche. Dies führte bereits dazu, dass Offizieren, die ihre vertragliche Zeit abgeleistet haben, ein Ausscheiden aus dem Militär verweigert wurde. In diesem Jahr wurden bisher über 40 % solcher Anträge von Leutnants und Hauptleuten angelehnt. Im Jahr 2002 lag diese Quote noch deutlich unterhalb von 10 %. Die Obdachlosenunterkünfte und Suppenküchen in god´s own country berichten mittlerweile über den Zustrom einer neuen Sozialfallgruppe: Nach ihrer Entlassung aus der Armee landen immer mehr Irak-Veteranen in der Gosse. Das ist der Dank des Vaterlandes.

Auf die ohnehin belasteten Beziehungen zwischen den imperialistischen Mächten USA und BRD kommt eine neue Belastung zu. Der Republikanische Anwaltsverein (RAV) hat gegen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und weitere Mitglieder der amerikanischen Regierung Klage bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe eingereicht. Der Vorwurf: Kriegsverbrechen im Irak und Folter im US-Gefängnis Abu Ghraib. Eine zweite Anzeige mit den gleichen Anwürfen gegen Rumsfeld liegt in Karlsruhe von der US-Menschenrechtsorganisation Zentrum für Verfassungsrechte (CCR) vor. Die Bundesanwaltschaft prüft derzeit die 170 Seiten umfassende Schrift darauf, ob ein Ermittlungsverfahren gegen den US-Verteidigungsminister eingeleitetet werden muss. Hintergrund ist ein relativ junges Gesetz, das Ende Juni 2002 in Kraft trat. Das so genannte Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) erlaubt die juristische Aufarbeitung von Völkermord (Paragraph 6), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7) oder Kriegsverbrechen (§§ 8-12) - auch wenn die Verbrechen in einem anderen Land begangen wurden und keinerlei Bezug zur BRD haben. Das Pentagon reagierte mit Drohungen im Stil einer Kolonialmacht: Sollte „ein abenteuerlustiger Staatsanwalt" die juristische Verfolgung Rumsfelds aufnehmen, so drohe eine weitere Belastung der Beziehungen zwischen Washington und Berlin, erklärte Rumsfelds Sprecher Lawrence DiRita. Er fügte dunkel hinzu, jede Regierung der Welt, insbesondere aber ein Nato-Verbündeter, begreife „die potenziellen Folgen für ihr Verhältnis zu den USA", sollte ein derart „leichtsinniger Prozess das Tageslicht erblicken". Rumsfeld zieht angesichts der drohenden Ermittlungen eine Absage seiner Teilnahme an der NATO-Sicherheitskonferenz in München in Erwägung.

Nach einem Bericht der Zeitschrift „Psychosoziale Umschau" ist bei der als Hartz IV bezeichneten Reform nicht die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe das Problem, sondern das zugrunde gelegte Existenzminimum. „Die Diskussionen und Protestaktionen in diesem Sommer kreisten vor allem um Hartz IV, während die Kritik an der Bemessung und der Höhe des Existenzminimums bislang kaum über Fachkreise hinaus thematisiert wurde", kritisierte der Sozialwissenschaftler Karl-Ernst Brill in seinem Beitrag. Mit Hartz IV erfolge eine Absenkung der bisherigen Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau. Künftig müssten sehr viel mehr Menschen mit dem Existenzminimum auskommen. Nach Berechnungen von Professor Matthias Frommann von der Fachhochschule Frankfurt am Main läge bei Beachtung der gesetzlichen Vorgaben sowie der Rechtsprechung des Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgerichts der Sozialhilfe-Regelsatz nicht bei 345 Euro, sondern bei 626 Euro. Zu Aussagen von Sozialrechtsexperten, die Bundesregierung habe die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe genutzt, den Regelsatz gezielt herunterzurechnen, und es gebe gewichtige Gründe, ob diese Regelsätze dem Verfassungsgebot einer ausreichenden Existenzsicherung genüge tun, erklärte der PDS-Bundesvorsitzende Lothar Bisky: „Die Berechnungen von Sozialrechtsexperten haben die von der PDS in Auftrag gegebene verfassungsrechtliche Begutachtung und unsere grundsätzliche politische Kritik an Hartz IV bestätigt: Mit den pauschalierten Regelsätzen von Hartz IV hat die Bundesregierung assistiert von Union und FDP massiv Leistungen gekürzt und zwar für alle Betroffenen - Arbeitslosenhilfe- wie Sozialhilfeempfänger/innen. Hartz IV wird damit zum Haushaltssanierungsprogramm auf dem Rücken der sozial Benachteiligten in diesem Land. Wenn die Wissenschaftler feststellen, dass der Regelsatz 448 Euro statt 345 Euro betragen müsste - ganz zu schweigen von der vollkommen ungerechtfertigten nochmaligen Herabstufung der Betroffenen in Ostdeutschland auf 331 Euro, heißt das nichts anders, als dass Hartz IV in der Tat Armut per Gesetz produziert. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe auf dem vorgesehenen Niveau der Sozialhilfe unterschreitet den Bedarf der Betroffenen und ist deshalb mit dem Grundrecht auf Menschenwürde gemäß Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes nicht vereinbar. Das hat der von der PDS beauftragte Gutachter festgestellt. Das wird nun von weiteren Experten bestätigt. Rot-Grün hat im Verein mit Schwarz-Gelb ein verfassungswidriges Gesetz beschlossen. Hartz IV wird in Karlsruhe landen und dort nicht ungeschoren davon kommen.“

Hitzewellen, wie die im Jahr 2003, die 15.000 Menschen in Europa tötete und die Temperatur in England erstmals auf über 38 Grad Celsius trieb, könnten im Jahr 2050 Normalität werden. Das sagt das Hadley Centre for Climate Change voraus. Aus seinem Report „Uncertainty, Risk and Dangerous Climate Change", der auf der Klimakonferenz von Buenos Aires vorgelegt wurde, geht hervor, dass die durchschnittliche Temperatur um 3,5 Grad Celsius ansteigen wird. Dieser Wert liegt weit über den zwei Grad Celsius, die die EU als Obergrenze für die Vermeidung von katastrophalen Folgen aus der globalen Erwärmung angesetzt hat. Außerdem sagt der Bericht, dass die Grönland-Eismassen durch den Temperaturanstieg verschwinden könnten und dadurch der globale Meeresspiegel um sieben Meter ansteigen wird. Jährlich würde er weiter um 5,5 Millimeter ansteigen, was in kurzer Zeit weite Teile Großbritanniens, einschließlich der Londoner Docklands, gefährden würde. Sei dieser Prozess einmal in Gang gesetzt, sei er nicht mehr umzukehren oder aufzuhalten. Die britische Regierung ist bereits seit längerem besorgt über die Auswirkungen der schwindenden Eismassen auf das britische Klima und gibt daher 20 Millionen Pfund für Studien aus. Das Wasser, das von dem geschmolzenen arktischen und grönländischen Eis kommt, würde den Golfstrom, der warmes Wasser in den Nordatlantik bringt, stoppen. Wenn der Golfstrom nicht mehr existiert, werden die Winter-Temperaturen in Großbritannien innerhalb von zehn Jahren absinken und dann eine konstante Temperatur von minus zehn Grad Celsius haben. Niels Reeh vom dänischen Polar-Institut studiert die Eismassen in Grönland seit 20 Jahren. Nach seiner Aussage haben die Eismassen zwischen 1995 und 1999 bereits etwa 50 Kubikkilometer jährlich verloren, genug um den globalen Meeresspiegel um 0,13 Millimeter im Jahr zu heben. Möglicherweise schmilzt das arktische Eis so weit ab, dass während eines langen Teils des Jahres Schiffe an der Nordküste Russlands entlang von Europa nach Japan und zurück fahren können. Das wird einige Transportrouten sehr verändern und das kann für Russland Vorteile haben. Insgesamt gibt es aber keinen Zweifel, dass die Risiken und Nachteile des Klimawandels massiv überwiegen.

Die Gewerkschaften haben im ablaufenden Jahr ihre Tarifpolitik überwiegend in und aus der Defensive geführt. Dieses Fazit zieht das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung des DGB in seiner Jahresbilanz. Nach heftigen politischen Attacken auf die Tarifautonomie im Jahr 2003 sei in diesem Jahr der Angriff der Unternehmerseite auf zentrale Tarifstandards erfolgt, betonte WSI-Tarifexperte Reinhard Bispinck. Den Anfang hätten die Unternehmen in der Metall- und Elektroindustrie mit ihrer Forderung nach Arbeitsverlängerung gemacht, die auch ohne Lohnausgleich möglich sein soll. In den weiteren Tarifrunden sei es dann in fast allen Bereichen um Abstriche bei den allgemeinen Arbeitszeitregelungen sowie um Kürzungen von Einkommensbestandteilen gegangen, führte Bispinck aus. Der Trend zur Verbetrieblichung der Tarifpolitik habe sich nachhaltig verstärkt. Der WSI-Tarifexperte hob hervor, 2004 sei ein Jahr moderater Lohnabschlüsse gewesen. Diese hätten sich zwischen 1,5 bis maximal zwei Prozent bewegt und seien häufig noch mit Nullmonaten verbunden gewesen. Teilweise seien stattdessen lediglich Einmalzahlungen vereinbart worden. In einzelnen Branchen, etwa der Bauwirtschaft, wurden laut WSI gar keine Lohnforderungen gestellt. In der Gebäudewirtschaft habe es sogar Lohnsenkungen gegeben. Das WSI registrierte teilweise auch Einschnitte in Regelungen des Manteltarifs, wie etwa in Form von Kürzungen beim Urlaubsgeld und bei Urlaubstagen. Nur in Ausnahmefällen wie bei der Deutschen Telekom sei eine Beschäftigungssicherung durch Arbeitszeitverkürzungen mit teilweisem Lohnausgleich verabredet worden. Durch Vereinbarung von tariflichen Öffnungsklauseln sei es 2004 in zahlreichen Betrieben zu Nachverhandlungen gekommen. Die Unternehmerseite forderte dabei zur Verbesserung der Kosten- und Wettbewerbssituation Abweichungen von tariflichen und betrieblichen Standards, erläuterte Bispinck. Im Gegenzug hätten Gewerkschaften und Betriebsräte Vereinbarungen zur Beschäftigungssicherung oder zum sozialverträglichen Stellenabbau erreicht. Dieser Trend war laut WSI nicht nur in Großkonzernen wie Siemens, DaimlerChrysler und Volkswagen zu beobachten, sondern auch in kleinen und mittleren Betrieben. Allein im Bereich der Metall- und Elektroindustrie habe die IG Metall in rund 300 solcher Vereinbarungen eingewilligt. Proteste und Arbeitsniederlegungen der Belegschaften hätten jedoch dazu beigetragen, dass manche Einschnitte abgemildert oder verhindert werden konnten.

In Hessen darf die Polizei dem neuen Polizeigesetz zufolge künftig Autokennzeichen elektronisch erfassen und automatisiert mit Daten in Fahndungscomputern vergleichen. Innenminister Volker Bouffier begründete die Gesetzesänderung unter anderem damit, dass gestohlene Fahrzeuge oft zu weiteren Straftaten eingesetzt würden. Wegen der steigenden Zahl der zur Fahndung ausgeschriebenen Kennzeichen sei eine automatische Kennzeichenkontrolle sinnvoll. Autokennzeichen sollen in flüchtige Speicher von mobilen und stationären Erfassungsgeräten eingelesen und anschließend mit einer im Gerät hinterlegten Fahndungsdatei abgeglichen werden. Mit dem neuen Polizeigesetz wurden auch die Befugnisse zur Telefon- und Videoüberwachung ausgeweitet. So müssen Telekommunikationsfirmen künftig auf Weisung der hessischen Polizei Daten von Telefonteilnehmern herausgeben. Ohne richterlichen Beschluss kann die Polizei, wenn es um die Abwehr einer akuten Gefahr geht, den Standort eines Telefonteilnehmers erfahren, Gespräche mithören und Nachrichten mitlesen. Nutzen soll die hessische Polizei künftig zudem die umstrittenen IMSI-Catcher, mit denen Handys bis auf etwa 50 Meter genau lokalisiert werden können. Das neue Gesetz erlaubt es der Polizei ferner, auch strafunmündigen Kindern genetisches Material zu entnehmen, wenn der Verdacht auf schwere Straftaten besteht.

Die politische Landschaft der BRD wird wieder einmal von einer Skandalwelle erschüttert; diesmal geht es um die Doppelfunktion von Politikern, die sowohl politische Funktionen in Parteivorständen und Landtagen erfüllen, aber andererseits auf der Gehaltsliste von Wirtschaftsunternehmen stehen. Auslöser war die Affäre um Hermann-Josef Arentz, den Vorsitzenden der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft. Der christdemokratische „Arbeitnehmervertreter“ kassierte neben seinem Salär als Parteifunktionär noch vom Energiekonzern RWE (seinem vorigen Arbeitgeber), und zwar 60.000 Euro jährlich und ein erkleckliches vergünstigtes Stromdeputat und durfte daraufhin seinen Hut nehmen. Allerdings erwies sich der Fall Arentz nur als die Spitze des Eisberges. Über Zahlungen aus dem Hause RWE stolperte auch CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer, der auch nach Übernahme seines Parteiamtes innerhalb von 5 Monaten parallel ebenfalls beinahe 60.000 Euro und verbilligtes Erdgas bei seinem Ex-Arbeitgeber einstrich. Hildegard Müller, Präsidiumsmitglied der CDU und Merkel-Vertraute, steht auch weiterhin auf der Lohnliste der Dresdner Bank. Von Müller abgesehen, unterhält die Dresdner beste Beziehungen zu je einem Landtagsabgeordneten in Schleswig-Holstein, Sachsen und Thüringen sowie zu dem FDP-Bundestagsabgeordneten Daniel Bahr. Bahr ist seines Zeichens langjähriger Bundesvorsitzender der Jungen Liberalen, zu seinen Fachbereichen als Bundestagsabgeordneter gehören sinnigerweise die Privatisierung der Rentenversicherung und die Umwandlung der Bundeswehr in eine hochprofessionelle Berufsarmee. Sind Bahrs Dresdner Bank-Bezüge ausgesetzt, so lässt sich seine Fraktionskollegin Ulrike Flach mit jährlich 60.000 Euro durch den Siemens-Konzern schmieren. Durch Flach hat Siemens erhebliche Einflussmöglichkeiten, denn sie ist die Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Siemens bezahlt auch den SPD-Bundestagsabgeordneten Hans-Jürgen Uhl. Uhl ist ebenfalls kein unbeschriebenes Blatt, sondern langjähriger Spitzenfunktionär des europäischen wie des Welt-Konzernbetriebsrates von Siemens (Gewerkschaft: IG Metall). Der Sozialdemokrat ist auch Mitglied des Europaausschusses im Bundestag sowie des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - hier ist es ihm möglich, Entwicklungshilfegelder in die richtigen Kanäle, soll heißen in Aufträge für den allen humanitären Interventionen der Bundeswehr stets auf dem Fuße folgenden Siemens-Konzern (Irak, Afghanistan, Kosovo, Sudan), zu leiten. Ferner ergaben Recherchen der „Bild“-Zeitung, dass der Volkswagen-Konzern bis zu 100 Politiker auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene besticht, äh ihnen auch weiterhin Gehälter zahlt. Unter den korrupten Elementen befinden sich immerhin 12 Bundestags- und Landtagsabgeordnete wie die niedersächsischen SPD-Abgeordneten Ingolf Viereck und Hans-Hermann Wendhausen. Viereck ist zugleich auch Bürgermeister in der „Autostadt Wolfsburg“ und Fachmann für Medien- und Föderalismusfragen. Alleine Viereck und Wendhausen haben jeweils 100.000 Euro an Schmiergeldern - nennen wir die Dinge beim Namen! - eingesackt. Einer Untersuchung der Antikorruptionsorganisation Transparency International zufolge halten die Bundesbürger - wen wundert´s - ihre Parteien und Parlamente zu den korruptesten Institutionen der BRD. Parteien gelten dem Wahlvolk sogar als noch korrupter als Wirtschaftsunternehmen.

Zur Mindestlohndebatte merkte die Zeitschrift „Gegenstandpunkt“ an: „Vor lauter Sorge um die konsequente und kompromisslose Durchführung der großartigen Arbeitsmarktreform wird glatt übersehen, dass der Vorschlag zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ein Dokument der Radikalität dieses Reformwerks und seiner ersten durchschlagenden Erfolge ist: Die Löhne sind auf breiter Front im freien Fall und die Arbeiter sind ohnmächtige Figuren, mit denen die Wirtschaft alles machen kann. (...) Die Unternehmer ersparen sich Lohn durch Entlassungen und setzen die verbliebene Belegschaft unter Druck: Für den Erhalt ihrer Einkommensquelle müssen Arbeiter auf Einkommen verzichten und für immer weniger Geld immer mehr arbeiten. Dieser unternehmerischen Leistung verleiht der Staat einen kräftigen Impuls. Die Regierungskoalition hat sich - unter geschlossenem Beifall von Öffentlichkeit und Opposition das Herbeiregieren von mehr Wachstum auf die Fahnen geschrieben, als entscheidendes Hindernis dafür einen "überregulierten Arbeitsmarkt" ausfindig gemacht und sich um eine entsprechende Therapie bemüht. Als Arbeitgeber in Bund und Ländern ist der Sozialstaat der Wirtschaft mit gutem Beispiel vorangegangen und hat dafür gesorgt, dass die öffentlich Bediensteten für niedrigeren Lohn länger arbeiten müssen. Den Gewerkschaften hat die Regierung mit einer "gesetzlichen Neuregelung der Tarifautonomie" für den Fall gedroht, dass diese nicht in einem verstärkten Maß den Wünschen der Unternehmerschaft nach betrieblichen Sonderregelungen zu Lasten der Arbeiter entgegenkommen. Und ihre Herrschaft über die Lebensbedingungen der Arbeitslosen hat sie dazu benützt, um mit einer ganzen Serie von Gesetzen dafür zu sorgen, dass die Arbeitslosen dem Arbeitsmarkt als willfährige Manövriermasse zur Verfügung stehen. Das Arbeitslosenschicksal hat sie so abschreckend gestaltet, dass auch die arbeitenden Bevölkerung sich der gebieterischen Devise "Hauptsache Arbeit!" weniger denn je entziehen kann und allen betrieblichen Vorschlägen zur Neufestsetzung des Verhältnisses von Lohn und Leistung aufgeschlossen gegenübersteht. Mit den Arbeitslosen hat der Staat zugleich auch die Beschäftigten verbilligt und nach Kräften seinen Beitrag dazu geleistet, dass das alte Dogma wahr wird, demzufolge der Lohn ein Gleichgewichtspreis von Angebot und Nachfrage ist. Langsam aber sicher kommt im "Hochlohnland Deutschland" die Einrichtung eines "Niedriglohnsektors" in die Gänge, neben dem es einen "Sektor" höherer Löhne immer weniger gibt. Die Debatte zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns nimmt die bereits eingetretenen Erfolge der Reformpolitik zur Kenntnis, antizipiert die weiteren Fortschritte der Verarmung, mit denen sie fest rechnet und kommt zu einem eindeutigen Befund: Ein immer größerer Teil der Arbeiterklasse kann von seinem Lohn nicht leben. Diese "Entdeckung" bezieht sich nicht auf das wachsende Heer der Gelegenheits-, Mini- und Ein-Euro-Jobber, deren Lohn schon definitionsgemäß keinen Bezug zum Lebensunterhalt hat. Die Rede ist von "regulären" Beschäftigungsverhältnissen, die ihre Inhaber 40 oder auch mehr Stunden in der Woche, also mit der gesamten Arbeitskraft in Anspruch nehmen, ihren Mann aber nicht ernähren. Vor allem im Osten der Republik, in manchen Branchen auch republikweit, hat ein Lohnniveau Einzug gehalten, das den stolzen Besitzer eines Arbeitsplatzes noch nicht einmal bei störungsfreiem Verlauf der proletarischen Existenz über die Runden kommen lässt. Das sind also die Fortschritte der lang ersehnten "Flexibilisierung des Arbeitsmarktes": Die Arbeitgeber nehmen sich und bekommen die Freiheit, die Bezahlung ihrer Beschäftigten ausschließlich nach den Bedürfnissen ihres Geschäftsgangs zu gestalten. Dieser marktwirtschaftlich grundvernünftige Zustand hat sich das Stirnrunzeln seiner politischen Mitverursacher zugezogen. (...) Erinnerungen an die längst totgesagte "soziale Frage" des 19 Jahrhunderts werden wach. Heute meldet sich allerdings nicht eine Arbeiterbewegung zu Wort, die für höhere Löhne streitet. Die Neuauflage dieser Frage bleibt der herrschenden Klasse vorbehalten und hat deshalb auch eine andere Akzentuierung: Jetzt geht es darum, wie weit man bei der fälligen Verarmung gehen will und wann die in die Wege geleitete Lohnsenkung womöglich zu viel des Guten ist. Dem braven Arbeitsmann wird zugebilligt, dass es von seiner Arbeit leben können sollte; jedenfalls hielte man das grundsätzlich für wünschenswert. Abgeklärt wird in journalistischer Runde darüber räsoniert, wie weit die Armut gehen kann, ohne den Anstand der Armen zu gefährden und eine "Teilnahme am gesellschaftlichen Leben" zu verunmöglichen, die man auch und gerade den Opfern dieser Gesellschaft nicht versagen möchte. Weil sich diese Frage nicht so leicht in Euro und Cent umrechnen lässt, legen moderne Philanthropen nach und erinnern an die zahlreichen Pflichten, die ein Arbeiter außer seiner Arbeit noch zu erledigen und von seinem Lohn zu bestreiten hat: Es gilt der Vergreisung unserer Gesellschaft entgegenzuwirken, eine Familie zu ernähren und Kinder Pisa-gemäß zu erziehen; und ganz wohl gesonnene Anwälte der Arbeiter sehen sogar in deren Konsum eine Leistung für die Binnennachfrage, die die Existenz und den Einsatz von noch mehr braven Arbeitsmännern ermöglichen soll. Eine Verelendung der arbeitenden Bevölkerung, die diese Dienste gefährdet: Das hält selbst der bürgerliche Sachverstand für "Armut", der sonst in der Tristesse proletarischer Lebensverhältnisse nur die überzogenen Ansprüche der unteren Schichten zu entdecken vermag. Damit ist auch schon die Richtschnur angedeutet, nach der dem freien Fall der Löhne eine Untergrenze gesetzt werden soll: "Existenzsichernd" sollte das Arbeitsentgelt nach Möglichkeit schon sein. Angesichts drohender Notlagen, in die die Politik die Leute stürzt, klingt der Zynismus einer funktionalen Verelendung fast schon wieder großzügig. Andererseits muss man sich die Frage stellen, ob das System der Lohnarbeit so viel Großzügigkeit überhaupt verträgt. Vernichtet ein Mindestlohn nicht Arbeitsplätze, die sich ohne Niedrigstlöhne womöglich nicht rentieren? Ist der niedrigste Lohn nicht besser als keiner? Lautstark melden sich die Vertreter der Arbeitgeber zu Wort, warnen vor einer "Katastrophe am Arbeitsmarkt" (BDA-Chef Hundt) und weisen darauf hin, es läge doch wohl im Interesse der Arbeitnehmer selbst, der "Niedrigqualifizierten" zumal, dass sie mit billigen und, wo nötig, auch mit billigsten Löhnen das Interesse der Unternehmer an ihrer Beschäftigung erhalten bzw. überhaupt erst auf sich ziehen. So viel Rücksichtsnahme, wie ihnen eine fürsorgliche Politik angedeihen lassen will, können sich Arbeiter überhaupt nicht leisten! Das wiederum leuchtet dem Staat sofort ein, dem beim Nachdenken darüber, ob er die Verelendung der Bevölkerung in gewissen Grenzen halten soll, wieder die wachstumsfördernden Wirkungen einfallen, die er sich von der Reform des Arbeitsmarkts versprochen hat. Die Einführung eines Mindestlohns zieht er deshalb - wenn überhaupt! nur widerwillig und unter vielen Vorbehalte in Betracht. Denn wie man es auch dreht und wendet - eine Unterschranke der Verarmung stört den freien Gang der Geschäfte einfach immer. (...) Ein letztes Wort ist in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen. Eines darf - darüber sind sich alle Verantwortlichen einig - eine gesetzliche Regelung aber auf keinem Fall tun: Etwas an den Zuständen ändern, die den Ruf nach einem Mindestlohn haben entstehen lassen. Laut geworden ist der Ruf nach einem Mindestlohn zuerst und vor allem in den Reihen der Gewerkschaften, in deren Tarifbereichen die "Armutslöhne" ganz vorne liegen: Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und in die "vereinigten Dienstleistungsgewerkschaften" Verdi klagen schon seit geraumer Zeit darüber, dass ihnen in weiten Bereichen "der Verhandlungspartner abhanden gekommen ist". Sie haben Schwierigkeiten, Tarifverträge auszuhandeln und ausgehandelte Tarifverträge durchzusetzen; selbst Tariflöhne, die sich faktisch mit dem Sozialhilfesatz vergleichen, werden von den Unternehmern auf breiter Front unterlaufen. Dies verstärkt der Staat zusätzlich mit seiner Reform des Arbeitsmarkts: Er zwingt die Arbeitslosen dazu, jede Arbeit anzunehmen, und verpflichtet die Arbeitsämter darauf, auch auf Stellen zu verweisen, in denen deutlich unter Tarif bezahlt wird. Jetzt befürchten Verdi und NGG den größten anzunehmenden Unfall im gewerkschaftlichen Kampf: Womöglich ist in ihrem Bereich die Tarifautonomie auch durch noch so große Anpassungsbereitschaft an die Lohnsenkungsbedürfnisse des Kapitals nicht mehr zu retten. Weil die Gewerkschaften damit rechnen, dass der "Dumpingwettbewerb im Lohnbereich ohne eine Absicherung nach unten ins Uferlose geht" (NGG-Chef Möllenberg, Welt am Sonntag, 29.8.), wenden sie an ein höheres Wesen, von dem allein sie sich noch Abhilfe versprechen: Ausgerechnet der Staat, der den "Dumpingwettbewerb im Lohnbereich" soeben in die Wege geleitet hat, soll dem freien Fall der Löhne Einhalt gebieten und für einen Mindestlohn sorgen, der nicht die "Verarmung gesetzlich festschreibt". Und das halten Verdi und NGG dann für das Gegenteil einer gesetzlich festgelegten Verarmung: "... ein existenzsichernder Mindestlohn in Höhe von 1.500 Euro brutto. Das entspricht dem geltenden Pfändungsfreibetrag." (Möllenberg) Hingegen sehen andere Gewerkschaften, allen voran die IG-Metall, in einem gesetzlichen Mindestlohn einen "Eingriff in die Tarifautonomie" (IG-Metall-Chef Jürgen Peters, FAZ.NET, 23.8.), der nichts weniger als einen "Dammbruch im gesamten Bereich der Tarifautonomie" nach sich ziehen könnte. Die "mächtigste Einzelgewerkschaft der Welt" fürchtet, die Unternehmer könnten den "Mindestlohn mit dem untersten Tariflohn verwechseln" und hält es für ganz selbstverständlich, dass sie durch das ausgreifenden Rechtsbewusstsein der Unternehmer genauso ohnmächtig werden könnte, wie ihre Schwestergewerkschaften Verdi und NGG es erklärtermaßen heute schon sind. Treuherzig bittet sie den Staat, er möge sich angesichts von so viel Hilflosigkeit erbarmen und der Gewerkschaft eine Krücke spendieren: "Wir fordern, dass anstelle eines einheitlichen Mindestlohn der jeweils untersten Tariflohn durch Rechtsverordnung branchenweit für verbindlich erklärt wird." Wenn auch die Regierung die soeben erfolgreich auf die Zersetzung des Flächentarifvertrags hingewirkt hat den Gewerkschaften "nicht viel Hoffnung" auf die Verwirklichung dieses Vorschlags machen will, so ist sie doch grundsätzlich zur Zusammenarbeit bereit. SPD-Chef Müntefering will das Gesetz "nicht ohne Zustimmung der Gewerkschaft" erlassen und beauftragt den SPD-internen "Gewerkschaftsrat", einen Vorschlag auszuarbeiten. Schließlich profitieren von dieser Zusammenarbeit beide Seiten: Die Gewerkschaften behalten ihre Zuständigkeit über den Lohn, indem sie an der gesetzlichen Festlegung der (Mindest-)löhne mitwirken und fast schon wie eine richtige Behörde die Lebensbedingungen der Arbeiter festschreiben dürfen. Dieses ehrenwerten Status werden sie sich - da ist sich die Regierung sicher - mit entsprechendem Augenmaß in der Sache würdig erweisen; erst einmal in den Gesetzgebungsprozess eingebunden, erhalten die gewerkschaftlichen Bedenken und "Maximalforderungen" als Fußnote zur politischen Debatte den passenden Platz. Die Regierung setzt im Gegenzug darauf, dass die Gewerkschaften ihr Gemecker über die Arbeitsmarktreform einstellen und aus ihrer Basis wieder einen SPD-Wahlverein machen. Das ist der letzte Dienst, den die Arbeitervereine ihrer Regierung erweisen: Wo die Gewerkschaft zustimmt, hat das Etikett "unsozial" sein Recht verloren.“

 

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