Wochenschau
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Die politische Wochenschau
Schlagzeilen der Woche zusammengestellt von Christian Klee |
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Zitat der Woche: |
"Weil
es um Sein oder Nichtsein geht, bleibt Deutschland, wenn es sich
selbst erhalten will, das Schwerste nicht erspart: die Bartholomäusnacht
gegen alles, was westlich ist." |
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Ernst Niekisch |
In Bremen und Bremerhaven förderte eine wissenschaftliche „Schülerbefragung über Gewalterfahrungen und Extremismus“ interessante Details zutage. Schwerpunkt der Befragungen war die Sekundarstufe I, Oberschüler und Auszubildende wurden nur zu einem kleineren Anteil berücksichtigt. 10 % aller Befragten gaben an, sie hätten im vergangenen Schuljahr Mitschüler bedroht oder erpresst, und 5 % beteiligten sich an Diebstählen und Raub („Abziehen“). Ebenfalls 5 % der Schülerschaft können ruhigen Gewissens als gewohnheitsmäßige Gewalttäter qualifiziert werden. Leicht höher liegen die Zahlen bei Schülern aus zerrütteten Familien, mit niedrigem Bildungshintergrund und bei Nachkommen von Einwanderern. Weitaus stärker verbreitet ist die so genannte verbale Gewalt, also die soziale Isolierung und Stigmatisierung von Mitschülern. Hierin übten sich 22,2 % der Schüler aus sozial benachteiligten Familien und 29,3 % der Zöglinge mit privilegiertem Hintergrund. Die Studie ermittelte zudem, dass der Grad der schulischen Gewaltanwendung mit der Lage der „Bildungseinrichtungen“ zu tun hat. An Schulen in sozialen Problemvierteln (Arbeitslosigkeit, Armut, hoher Ausländeranteil) liegen die Prozentzahlen weitaus höher. Ferner wurde festgestellt, dass das Gewaltpotential in nicht geringem Maße vom Verhalten oder eben Nichtverhalten der Lehrerschaft abhängig ist. 12 % der Befragten räumten ein, dass sie erheblichen Gruppendynamiken hin zur Gewaltanwendung unterliegen - und diese Gruppe stellt beinahe die Hälfte aller Täter bei Diebstahl, Raub und Anwendung von Waffengewalt. Angesichts derartiger Zustände wundert es nicht, dass beinahe 90 % der Schüler den Einsatz von Gewalt zur Selbstverteidigung als legitim erachten. 8 % der Schüler führen gelegentlich oder regelmäßig Waffen mit sich, wobei die Bandbreite vom einfachen Messer bis hin zur Schusswaffe reicht. Die Verhältnisse generieren Angstzustände: Jeder dritte Schüler wagt sich nicht auf die Schultoiletten, 25 % haben Angst, den Pausenhof zu betreten und selbst in den Klassenräumen fühlen sich 7 % unsicher. Im Gegensatz zu den 70er und 80er Jahren spielen linksradikale Gruppierungen an den Schulen kaum noch eine Rolle, was wohl auf deren immer diffuseres Profil und auf die Entpolitisierung durch die kapitalistische Spaßgesellschaft zurückzuführen sein dürfte. Von den ethnisch deutschen Schülern ist beinahe jeder zweite der Ansicht, dass „Ausländer oft kriminell und primitiv seien“. Jeder sechste aller Befragten unterstützt die Platitüde „Deutschland den Deutschen - Ausländer raus!“ Die Vorbehalte gegenüber Migranten nehmen im Verlauf der Schullaufbahn stetig zu - offensichtlich ein Produkt negativer Erfahrungen. Allerdings schlagen sich diese xenophoben Positionen nur zu einem geringen Ausmaß in rechtsextremen Aktivitäten nieder. An den Oberschulen wurde jedoch - jeweils abhängig von der örtlichen Lage - ein rechtsextremes Potential von 1,5 bis 6,6 % der Schülerschaft ermittelt.
Die maoistischen Rebellen in Nepal brachen ihre Friedensverhandlungen mit der monarchistisch-reaktionären Regierung in Kathmandu ab. Damit ist der seit 9 Monaten gültige Waffenstillstand hinfällig, und sofort flammten die Kampfhandlungen zwischen Guerrilleros und Sicherheitskräften wieder auf. Die Regierung und die hinter ihr stehenden klerikal-feudalistischen Parasitenkasten waren nicht bereit, die Forderungen der Rebellen nach Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung zu erfüllen; umgekehrt lehnten die Maoisten jede Mitarbeit in einer Übergangsregierung ab. Vorbedingung der Regierungsseite war zudem die vollständige Entwaffnung der Maoisten, die zwei Drittel des Landes kontrollieren. In der westlichen Presse „vergaß“ man zu erwähnen, dass der Wiederaufnahme des Partisanenkampfes durch die maoistische Volksbefreiungsarmee massive Übergriffe und Massaker der Regierungstruppen und der Polizei vorausgingen. Der seit 1996 andauernde Bürgerkrieg forderte bisher 7800 Menschenleben. Angesichts der eskalierenden Lage warnte das Auswärtige Amt nachdrücklich vor Reisen in die nepalesischen Aufstandsgebiete.
Die Rürup-Kommission zur „Reform“ der Rentenversicherung legte ihre gegen die Stimmen der in dem Gremium vertretenen Gewerkschaftsmitglieder verabschiedeten Vorschläge vor und heizte damit die Debatte um den sozialen Kahlschlag in der BRD weiter an. Das gesetzliche Renteneintrittsalter soll von derzeit 65 auf 67 Jahre angehoben werden. Dies soll aber erst von 2011 bis 2035 in kleinen Schritten von einem Monat pro Jahr erfolgen. Für eine längere Lebensarbeitszeit müssten Anreize für Arbeitnehmer geschaffen werden. Auch bei 67 Jahren soll wie bisher ein um 3 Jahre vorgezogener Rentenbezug möglich sein unter Inkaufnahme von Abschlägen. Bei der Rentenanpassungsformel soll die Berechnungsgrundlage umgestellt und ein Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt werden. Der Nachhaltigkeitsfaktor bewirkt, dass die jährliche Rentenanpassung reduziert wird, wenn immer weniger Beitragszahler immer mehr Rentner versorgen müssen. Die Rentenanpassung soll sich künftig an der Entwicklung der versicherungspflichtigen Entgelte orientieren statt an den Bruttoeinkommen aller Beschäftigten. Die Kommission geht davon aus, dass die Rentenanpassung 2004 um ein halbes Jahr auf Januar 2005 verschoben wird. Damit könnte der Beitragssatz dauerhaft um 0,1 bis 0,2 % gesenkt werden. Dies ist noch offen, aber sehr wahrscheinlich. Zu den Auswirkungen gehört, dass das Niveau der Brutto-Standardrente von derzeit 48 % der durchschnittlichen Bruttolöhne bis zum Jahr 2030 auf 41,6 % sinkt. Der Bremer Sozialwissenschafter Winfried Schmähl konstatierte, die Umsetzung der Vorschläge würde einen Rückfall ins 19. Jahrhundert bedeuten, als der Staat sich lediglich um die Vermeidung von Altersarmut kümmerte. Seinen Berechnungen zufolge werden die Renten bis 2030 auf unter 50 % der Nettolöhne sinken, und zwar nicht zuletzt durch eine zu erwartende Besteuerung. Ein Rentner, welcher derzeit 1200 Euro Altersgeld bezieht, würde bei konsequenter Umsetzung des Maßnahmenpaketes und Einführung von Besteuerung im Jahre 2030 nur noch 860 Euro bei heutigem Geldwert bekommen. Zu allem Überfluss muss der Rentenaspirant bereits heute 26 Jahre lang arbeiten, um wenigstens eine Rente auf Sozialhilfeniveau zu erhalten. Bis 2030 wird sich diese Mindestarbeitszeit auf 37 Jahre erhöhen.
Innerhalb von SPD und Gewerkschaften regt sich Widerstand gegen den sozialreaktionären und neoliberalen Kurs der Bundesregierung. Der SPD-Sozialexperte Ottmar Schreiner erklärte die aktuelle Arbeitsmarkt-Politik der rot-grünen Bundesregierung unumwunden für unsinnig. "Schon der Ansatz der Reformpolitik ist falsch, und die Ausgestaltung sorgt für weiter steigende Arbeitslosigkeit." Die immer neuen Einschnitte für die Bürger erstickten die Binnenkonjunktur und produzierten dadurch nur immer mehr statt weniger Arbeitslose. Es müsse alarmieren, wenn selbst die Bundesanstalt für Arbeit trotz aller "Reformitis" im Winter 5 Millionen Arbeitslose nicht mehr ausschließe. Dennoch sei das nachvollziehbar. Denn die Prämisse für die aktuelle Reformpolitik stimme schlichtweg nicht, nämlich dass die dramatisch steigenden Lohnnebenkosten Hauptgrund für den Beschäftigungseinbruch seien und deshalb spürbar gesenkt werden müssten. Tatsächlich sind die Lohnnebenkosten nach Angaben Schreiners in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Zwar hätten die Sozialabgaben leicht zugelegt. Aber die betrieblichen und tarifvertraglichen Lohnnebenkosten seien so stark gesunken, dass dies mehr als kompensiert worden sei. Wenn man jetzt mit Hinweis auf angeblich steigende Lohnnebenkosten Kranken und Versicherten, Arbeitslosen, Rentnern und Beitragszahlern erhebliche finanzielle Reformopfer abverlange, verschärfe man vor allem eine der wirklichen Hauptursachen der Arbeitslosigkeit, nämlich die schwache Binnenkonjunktur. Die Bürger seien inzwischen zudem so verunsichert, dass sie - so weit sie überhaupt noch könnten - sparten, um für ihre unsichere Zukunft vorzusorgen. Neben dem eingefleischten Schröder-Gegner Schreiner attackierte auch der designierte IG Metall-Bundesvorsitzende Jürgen Peters den Kurs der Bundesregierung und der SPD-Parteiführung. Eine „neoliberale Denke“ fresse sich immer weiter durch die Partei. Wenn die SPD das Thema soziale Gerechtigkeit aufgebe, entsorge sie einen wichtigen Teil ihrer Geschichte und ihres Wesens und werde sich in absehbarer Zeit nicht mehr von den Unionsparteien oder den Liberalen unterscheiden. "Ob sich dann noch die natürliche Bindung zwischen uns aufrechterhalten lässt, bezweifle ich.“
Die beiden kolumbianischen Guerrillaorganisationen FARC und ELN haben ihre Befehlsstrukturen vereint. Zu dem Schritt habe man sich entschieden, da unter dem amtierenden Präsidenten Alvaro Uribe Vélez keine politische Annäherung möglich sei, heißt es in dem gemeinsamen Kommuniqué der Organisationen. Solange Uribe an der Macht sei, werde weder von der FARC noch von den ELN eine Initiative für Friedensgespräche ausgehen. Der amerikafreundliche Rechtaußen Uribe hatte die Präsidentschaft im August 2002 übernommen. Die linksgerichtete Guerrilla erkennt ihn als Präsidenten nicht an, weil nur knapp 50 % der Stimmberechtigten an den Wahlen teilgenommen hatten, wovon gut die Hälfte für den ehemaligen Bezirksgouverneur stimmte. Nach einer deutlichen Verschärfung der innenpolitischen Situation in Kolumbien seit der Amtsübernahme von Uribe legten sich die beiden bewaffneten Organisationen nun auf gemeinsame politische Ziele fest. Demnach wollen FARC und ELN künftig alle politischen Prozesse fördern, die zu einem Frieden mit sozialer Gerechtigkeit führen. Zudem sollen die Gespräche über einen Austausch der Gefangenen beider Seiten fortgeführt und die Privatisierungspolitik der Regierung Uribe bekämpft werden. „Wir appellieren an die kolumbianische Bevölkerung und an die internationale Gemeinschaft, die von Grund auf undemokratische Politik der amtierenden Regierung zu verurteilen“, hieß es in dem gemeinsamen Aufruf der beiden Organisationen.
In der irakischen Hauptstadt Bagdad demonstrierten die amerikanischen „Befreier“ einmal mehr, wie sie sich den neuen demokratischen Musterstaat vorstellen: Die kommunistisch beeinflusste Arbeitslosengewerkschaft UUPI machte mit einem Sitzstreik auf die absolute Tatenlosigkeit der Kolonialherren gegenüber der katastrophalen humanitären, wirtschaftlichen und sozialen Situation aufmerksam. Die Reaktion der Yankees bestand darin, UUPI-Generalsekretär Qasim Hadi und 54 Gewerkschaftsaktivisten zu inhaftierten. Seit ihrer Verhaftung sitzen die kommunistischen Aktivisten in einem amerikanischen Konzentrationslager, womöglich im berüchtigten Camp Cropper. In der Tat können die neuen Herren keine starke Gewerkschaftsorganisation und keine starken sozialen Bewegungen gebrauchen, wenn sie beabsichtigen, den vorwiegend staatlichen Industrie- und Erdölsektor an das internationale Globalisierungskapital zu verschleudern. Zur Absicherung ihrer Herrschaft bauen die Amerikaner derzeit ein Spitzelnetz auf - unter Übernahme von Mitarbeitern der zahllosen irakischen Inlandsnachrichtendienste. Wir gestatten uns die Anmerkung, dass die irakischen Kommunisten, bis zur Machtergreifung der Baathisten Ende der 60er Jahre die stärkste KP des Nahen Ostens, in mehrere Fraktionen zerfallen sind. Während ein Flügel mit den Besatzern zusammenarbeitet, verurteilt der andere, dem auch die UUPI zuzurechnen ist, den Angriffskrieg und die neue Kolonialisierung des Landes mit Entschiedenheit.
In der schiitischen Hochburg Najaf kam es zu einer unerwarteten Eskalation der Lage: Zunächst erfolgte ein Bombenanschlag auf Ajatollah Mohammed Sayid el-Hakim, welcher leicht verletzt wurde. Sayid el-Hakim ist ein Onkel des Vorsitzenden des Hohen Rates der Islamischen Revolution SCIRI, Mohammed Bakr el-Hakim. Nur wenige Tage später zündeten Unbekannte eine Autobombe vor der Imam Ali-Moschee, gerade als die Gläubigen das Gebet beendet hatten und den Heimweg antraten. Es gab um die 200 Verwundete und 124 Tote, unter denen sich auch Mohammed Bakr el-Hakim befand. Die Kollaborateure vom Irakischen Nationalkongress lasteten dem baathistischen Widerstand die Täterschaft an, die anglo-amerikanischen Besatzer wiederum islamistischen Terroristen. Die Hintergründe sind bislang vollkommen unklar. Innerhalb der schiitischen Bevölkerungsgruppe gibt es erhebliche Spannungen. Der SCIRI arbeitet trotz aller Kritik an der westlichen Besatzungsherrschaft mit dem irakischen Übergangsrat zusammen, was ihm vor allem von den Hardlinern um Ajatollah Moqtata el-Sadr angelastet wurde. Sadr bezieht eine weitaus militantere und nationalistischere Position als der SCIRI. Er bekennt sich demonstrativ zu seinem Arabertum und lehnt die unkritische Übernahme iranisch-theokratischer Modelle ab. In der irakischen und arabischen Öffentlichkeit ist man vielerorts der Ansicht, die Amerikaner oder der israelische Geheimdienst hätten den über gute Verbindungen nach Teheran verfügenden Bakr beseitigt, der sich in seinen letzten öffentlichen Äußerungen mit unerwarteter Schärfe gegen Israel und den Westen wandte. In der Tat nutzten fremde Herren in der irakischen Geschichte oft genug eine Politik des „teile und herrsche“ und spielten zwecks Zementierung ihrer Macht die verschiedenen religiösen, politischen und ethnischen Gruppen gegeneinander aus. Wie dem auch sei, die iranische Führung weiß, was sie an Bakr verloren hat und ordnete eine dreitägige Staatstrauer an.
Afghanistan hat sich in den vergangenen drei Wochen infolge einer Großoffensive der angeblich geschlagenen Taliban und verbündeter Warlord-Truppen in einen Hexenkessel verwandelt. Nachdem im Südosten und Osten starke Taliban-Verbände über die pakistanische Grenze einsickerten und u.a. bei Terwah eine Garnison der Regierungstruppen dem Erdboden gleichmachten, setzten flankierend Raketenangriffe auf die ostafghanische Provinzhauptstadt Khost ein. Die Amerikaner und ihre Kollaborateur-Truppen reagierten mit einer aus der Luft massiv unterstützten Gegenoffensive. In sämtlichen Provinzen in der Grenzregion zu Pakistan toben erbittere Kämpfe, die in den vergangenen 3 Wochen insgesamt um die 300 Todesopfer forderten. Das Marionettenregime unter Hamid Karzai steht bereits so stark unter Druck, dass es mit den Taliban Verhandlungen aufgenommen hat, um den Konflikt auf politischem Weg zu lösen.
Bekanntlich beschloss die Regierung der rosa-grünen Imperialisten Schröder, Fischer und Konsorten die Ausweitung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr über das relativ sichere Kabul hinaus. Unter dem Tarnmantel eines Wiederaufbauteams sollen Bundeswehr-Söldner nach Kunduz geschickt werden, wohl, um dem Siemens-Konzern auch dort lukrative Infrastrukturaufträge zu sichern. Auch in der Chefetage bei RWE und Ruhrgas wird man sich die Hände reiben, denn die Stadt befindet sich deutlich näher an den vermuteten afghanischen Erdöl- und Erdgasvorkommen. Bei Kunduz handelt es sich um eine wirtschaftliche Schlüsselposition und um einen Verkehrsknoten. Hier befindet sich ein traditionelles Zentrum der Baumwoll- und Textilienverarbeitung. Die Stadt verfügt über einen Flugplatz und liegt an der für die Versorgung der Landeshauptstadt wichtigen Straße nach Süden. Außerdem stellt die Region den Schwerpunkt des afghanischen Opiumanbaus dar.
In
der August-Nummer des brasilianischen Magazins „Folha“ erschien
ein bemerkenswerter Aufsatz aus der Feder von Robert Kurz: „SCHLUSS MIT
LUSTIG. Die Wende des westlichen Zeitgeistes: Von der Selbstverantwortung zurück
zum zwanghaften Autoritarismus“: „Wenn die Verhältnisse
sich ändern, dann folgen früher oder später auch die Ideen. Dieses
Essential kritischer Theorie bezieht sich keineswegs bloß auf eine Veränderung
zum Guten. Innerhalb der kapitalistischen Entwicklung ist immer wieder das Phänomen
zu beobachten, dass sich zusammen mit den Verhältnissen auch die Ideen
verschlechtern. In der Prosperität hat Menschenfreundlichkeit Konjunktur,
man ergeht sich in frohen Zukunftserwartungen und Utopien der "Entwicklung",
der Befreiung, der Erhebung des Menschengeschlechts usw., allerdings ohne die
zugrunde liegende gesellschaftliche Form in Frage zu stellen. Warum auch, ist
diese doch gerade die Form der Prosperität. Wer gut gegessen hat und satt
ist, kann gar nicht anders, als optimistisch zu denken und ein allgemeines Wohlwollen
an den Tag zu legen. In der Krise dagegen verändert sich die Perspektive
grundsätzlich. Wer schlecht isst oder davon bedroht ist, in Zukunft schlecht
essen zu müssen oder gar hungrig zu bleiben, verliert das Wohlwollen und
den Optimismus. Aber gerade dann wird die zugrunde liegende gesellschaftliche
Form erst recht nicht in Frage gestellt, obwohl sie doch jetzt die Form der
Krise ist. Stattdessen haben Ideologien des Pessimismus, der Menschenfeindlichkeit
und des Misstrauens Konjunktur. Man kann es auch so sagen: Wenn es bergab geht,
dann fällt die Maske, und die unverhüllte Brutalität der herrschenden
Logik und ihres ökonomischen Terrors kommt zum Vorschein. Dieser Wechsel
zum Schlechteren erscheint in den Aussagen der Politik ebenso wie im Diskurs
der Medien, in den institutionellen Direktiven und in der "Philosophie"
des Managements.
In demselben Maße, wie die Marktwirtschaft ihr Wohlstandsversprechen ganz
offenkundig bricht, werden nicht ihre Ordnungsstrukturen und ihre irrationalen
Zwänge zum Thema der Kritik gemacht, sondern es wird über die Notwendigkeit
von Menschenopfern diskutiert. An die Stelle von falschen Ideen des Glücks,
des Fortschritts und des allgemeinen Wohlstands treten Ideen des Opfers. Dabei
wird die gesellschaftliche Krise als eine Naturkatastrophe betrachtet, auf die
man nur reagieren kann wie auf ein Erdbeben: mit Notmaßnahmen, ohne die
Ursachen verhindern zu können. Ein Held, wer kräftig mit anpackt;
aber nicht etwa, um die falschen Zwänge zu durchbrechen und zu einem vernünftigeren
Einsatz der Ressourcen zu gelangen, sondern um diese Zwänge an sich selbst
und an anderen gerade in der Krise umso gnadenloser zu exekutieren. Und wie
stets in der Moderne versteckt sich das archaische Ethos von Opfer und Selbstopfer
hinter der Maske der Sachlichkeit.
In den 90er Jahren gab es ein eigenartiges Missverhältnis zwischen der
ökonomischen Verschlechterung einerseits und der ideologischen Entwicklung
andererseits. Ausgerechnet in der Krise hatten Ideen des Optimismus Konjunktur.
Der realen Verschlechterung sollte geradezu die allgemeine Emanzipation abgewonnen
werden. Weder verschärfter bürokratischer Zwang noch Gesellschaftskritik
standen auf der Tagesordnung, sondern die totale "Selbstverantwortung"
in der Krise. Lauter autonome Individuen sollten jeweils für sich allein
frisch-fromm-fröhlich-frei und vor allem "kreativ" mit allen
Problemen fertig werden. Die Devise nach den "marktwirtschaftlichen Reformen"
lautete: Der Kapitalismus soll eher noch mehr "losgelassen" werden;
aber die Individuen und Institutionen müssen lernen, besser damit zurecht
zu kommen. Propagiert wurde der Mensch als "Unternehmer seiner selbst".
Die Begriffe von Emanzipation, Freiheit, Selbstverantwortung und Reform wurden
umdefiniert und semantisch neu besetzt im Sinne eines ökonomistischen Hardcore-Liberalismus.
Nicht die alte und neue Armut sollte abgeschafft werden, sondern das Verhältnis
der Armen zu ihrer Armut sollte sich ändern. Der Imperativ lautete: Verhaltet
euch "positiv" zu den Bedingungen, wie sie der anonyme Markt euch
vorgibt. Allen wurde die Erlaubnis gegeben oder in Aussicht gestellt, ihr eigenes
Elend ganz unbürokratisch selbst zu verwalten. Der neueste "neue Mensch"
in der neuesten "Brave New World" des 21. Jahrhunderts wurde gedacht
als ein Wesen, das 24 Stunden am Tag ökonomisch denkt und träumt,
sich ununterbrochen selbst verwertet und alle Beziehungen, sogar die persönlichen
und intimen, als "Kundenbeziehungen" betrachtet.
Auch der übrig gebliebenen staatlichen Bürokratie wurde die Aufgabe
gestellt, sich nicht bloß immer weiter zu "verschlanken", sondern
auch "Bürgernähe" zu demonstrieren. Die Verwaltung sollte
sich ebenso wie die Eisenbahn, die kommunale Wasserversorgung, die Krankenhäuser
oder die Bibliotheken nicht mehr als öffentliche Infrastruktur betrachten,
sondern handeln wie ein Marktunternehmen der Service-Industrie. Den Beamten
wurde in extra Schulungen eingeschärft, sie müssten ihre Klientel
als "Kunden" behandeln und sich ein professionelles Verkäufer-Grinsen
antrainieren. Kostensenkung sollte verbunden werden mit höherer Effizienz,
bürokratische Menschenverwaltung umdefiniert werden in eine Art Geschäft
der "Beratung", um den Klienten den Weg in die glorreiche Selbstverantwortung
zu ebnen und sie in ein strahlendes Dasein als "Selbstunternehmer"
zu entlassen, die sich in Zukunft ganz ohne staatliche Hilfe freudig den Erfordernissen
des totalen Marktes hingeben würden. Geboren wurde dieser Zeitgeist der
90er Jahre nicht wie früher in den universitären Wissenschaften, in
der Literatur oder in den maßgeblichen Medien, sondern in den ideologischen
Hexenküchen der so genannten "Unternehmenskultur". Im Zuge der
neoliberalen Wende war die geistige Führung seit den 80er Jahren von der
akademischen, literarischen und journalistischen Intelligenz auf die "ökonomischen
Intellektuellen" des Managements übergegangen. Das war nur logisch:
Wenn alle Lebensbereiche gleichermaßen "ökonomisiert" werden,
dann steigt die Ökonomie zur "Königswissenschaft" auf und
nimmt einen Platz ein wie einst die Theologie und später die Philosophie.
Jeweils dominierende Methoden des Managements werden zur "Leitkultur"
der ganzen Gesellschaft und bestimmen die Konjunkturen der intellektuellen Mode.
Die Unternehmen erscheinen nicht mehr als banale Stätten der Warenproduktion,
sondern werden mit universeller "Bedeutung" aufgeladen.
In der "Philosophie" des Managements drückte sich der seltsame
Zeitgeist der 90er Jahre als neuer Zwang zur Zwanglosigkeit aus. Arbeit wurde
in Freizeit und Freizeit in Arbeit umdefiniert. An die Stelle traditioneller
Strukturen der Autorität sollten "flache Hierarchien" treten,
der kantige und gefürchtete Chef von einst wurde durch frei schwebende
"Teams" ersetzt. Die distanzierte Förmlichkeit der entfremdeten
Arbeitswelt ging in einen distanzlosen familiären Ton über; alle sagten
"Du" zueinander, von der Putzfrau bis zum "kreativen" Designer,
vom Büroboten bis zum milliardenschweren Investor. Was schon bald als "Spaßrevolte"
eine ganze Jugendkultur kreierte und in Orgien des anspruchsvollen Blödelns
oder der unverschämten "Trash-Culture" durch die Medien tobte,
hatte seinen Ursprung im sozialen Design der kapitalistischen Menschenführung
durch die neuen Methoden des Managements. Aber der "Spaß" war
von Anfang an ein ziemlich krampfhafter und verlogener. Es ging eigentlich nur
darum, die für viele bereits spürbare Härte der Krise und die
Verschärfung der Konkurrenz semantisch zu maskieren. Das schmeichlerische
Postulat der "Selbstverantwortung" lief darauf hinaus, den Zwang zur
permanent gesteigerten Leistung über das Menschenmögliche hinaus als
freiwillige Selbstausbeutung zu konfigurieren. Der propagierte Freizeitwert
der Arbeit sollte die Beschäftigten dazu veranlassen, sich mittels einer
Unmenge unbezahlter Überstunden selber wie Zitronen auszupressen. Sich
selbst auf dem Altar der Betriebswirtschaft zu opfern, galt als eine Form der
Originalität von flexiblen, "souveränen" Individuen, die
nach einem frühkapitalistischen Arbeitstag in der Firma ausgelassen Tischfußball
spielen und sich überlegen, ob sie nicht noch ein paar Stündchen drauflegen
sollten, weil´s grade so schön war. (…) Überhaupt bildete
die so genannte New Economy des damals noch hoffnungsfrohen Internet-Geschäfts
den Hintergrund all dieser neuen Konzepte. Die Krise war nur deshalb kompatibel
mit dem Kult des Optimismus, weil sie in bestimmten Sektoren, die zu ökonomischen
"Leitsektoren" ausgerufen wurden, durch eine groteske Finanzblasen-Wirtschaft
scheinbar kompensiert werden konnte. Verarmung und soziale Degradation gingen
einher mit der Chance zum "schnellen Reichtum" für viele. Deshalb
bestimmten trotz Krise die Glücksritter den Zeitgeist. In diesem Klima
konnte der paradoxe Imperativ entstehen, den Niedergang als "Chance"
und die Fremdbestimmung als Selbstbestimmung zu erleben. Mit dem glitzernden
Versprechen des Finanzblasen-Booms vor Augen wollte man sich in der Unbehaustheit
geborgen fühlen und in der universellen Feindschaft der Konkurrenz Freundlichkeit
erblicken.
Seit jedoch in den westlichen Ländern nach dem Untergang der New Economy
zusammen mit den Finanzblasen auch die Illusionen geplatzt sind, hat sich der
Ton des Zeitgeistes nachhaltig geändert. Plötzlich entdeckt man, dass
die New Economy und alle damit zusammenhängenden Ideen nur ein Blendwerk
waren. Das Resultat ist aber nicht etwa die Erneuerung von Gesellschaftskritik.
Stattdessen wird nur der falsche Optimismus abgeschminkt. Die Idee der "Selbstverantwortung"
verwelkt und macht der Erkenntnis Platz, dass die Realität in den Konzernen
und in der staatlichen Verwaltung nie damit übereingestimmt hat. Der Zeitgeist
der 90er Jahre war nur postmodernes Spielverhalten in einem real unbedeutenden
und ökonomisch unseriösen Sektor, der sich selbst zur "Kulturrevolution"
hochstilisierte. Jetzt kommen die Ideen des Opfers ganz ohne emanzipatorische
Maske daher. In den Unternehmen zeigt das Ancien Regime der Führungsdiktatur
im Zeichen der Angst, das nie wirklich verschwunden war, wieder selbstbewusst
Flagge. Und dieser Wandel des Denkens zeigt sich natürlich zuerst dort,
wo auch das kurzlebige Paradigma der neuen "antiautoritären Konzepte"
seinen Ausgangspunkt genommen hatte: in der "Philosophie" des Managements.
(…) Es ist nun einmal eine Tatsache: Kaum jemand ist freiwillig dazu bereit,
sein Leben restlos zu verausgaben für Zwecke, die ihm fremd sind und über
die er keine Kontrolle hat. Die wenigsten Menschen sind dazu bereit, sich in
der Krise fröhlich selber zu opfern. Der alte Traum des monströsen
Utilitaristen Jeremy Bentham (1748-1832), dass sich jedes Individuum zu seinem
eigenen Aufseher und Antreiber pädagogisieren lässt, ist unerfüllbar;
auch wenn dieser Traum in den Konzepten der New Economy fast schon Wirklichkeit
zu werden schien. Dass solche Konzepte nicht aufgehen können, war dem traditionellen
Liberalismus der Old Economy durchaus bewusst, der von Haus aus gleichzeitig
auch konservativ und autoritär war. Im liberalen Frühkapitalismus
galt die Devise: "Freiheit" für das Geld, Zwang für das
"Menschenmaterial". Wirtschaftsfreiheit und autoritärer Staat
gingen grundsätzlich Hand in Hand; Liberalismus reimte sich immer wieder
auf Pinochet.
Nicht nur in den Unternehmen, sondern erst recht in den staatlichen Sozialbehörden
der westlichen Länder ist die Stimmung zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder
preußisch geworden. Die viel zu vielen "Überflüssigen"
müssen noch härter diszipliniert und in ihr Schicksal hineingezwungen
werden als die "Beschäftigten". Wie sich bei der Geburt des Kapitalismus
äußere und innere Kolonisierung gegenseitig bedingten, so schlägt
nun der neue äußere Krisen-Kolonialismus der westlichen Weltpolizei
unter Führung der USA in einen inneren Krisen-Kolonialismus der Armutsverwaltung
um. Der sozialökonomische Prozess der Individualisierung in den westlichen
Industrie- und Dienstleistungs-Staaten wird dadurch nicht rückgängig
gemacht. Aber all die gescheiterten "Selbstunternehmer" und Glücksritter
der Selbstverwertung bekommen nun zu spüren, dass die Anonymität der
Systemzwänge in der Realität der Krise dennoch das Gesicht von Aufsehern
und Einpeitschern, von "Offizieren und Unteroffizieren des Kapitals"
(Marx) annimmt. Der alte Kasernenhofton kehrt zurück: Es wird wieder angeschnauzt,
zusammengestaucht, gedemütigt und herumgebrüllt, damit wir nicht vergessen,
was die wunderbare marktwirtschaftliche Moderne ihrem Wesen nach ist: ein gesellschaftliches
Zwangsverhältnis.“
Lagefeststellung Beurteilung der Situation Möglichkeiten des Handelns Entschluss Umsetzung Kontrolle