Wochenschau

 

Die politische Wochenschau

 

vom 30. November bis 6. Dezember 2002

Schlagzeilen der Woche   zusammengestellt von Christian Klee  

 

Zweite Afghanistan-Konferenz bei Bonn

RIRA-Machtkampf: McKevitt isoliert

 

Zitat der Woche:
"Ich weiß nicht, was gut und böse, was erlaubt und was unerlaubt ist; ich kann weder verdammen noch loben. Es gibt kein gültiges Kriterium und kein konsistentes Prinzip in dieser Welt. Es wundert mich, dass einige sich noch der Erkenntnistheorie befleißigen. Um ehrlich zu sein, gestehe ich, dass mich die Relativität unserer Erkenntnis wenig kümmert, denn diese Welt verdient nicht, erkannt zu werden."
- E.M. Cioran

 

Auf dem Petersberg bei Bonn fand die von 32 Ländern beschickte 2. Afghanistan-Konferenz statt. Der afghanische Präsident Karsai warb um internationale Unterstützung beim Aufbau einer nationalen Armee von 70.000 Mann und einer durchsetzungsfähigen Polizei. Während auf der Polizei bereits die Bundesrepublik ihre Hand hat, dürften vom Aufbau der Regierungsarmee Briten und Amerikaner profitieren. Noch immer kontrolliert Karsai, und das auch nur unter dem Schutz der UN-Truppen, bestenfalls die Umgebung der Hauptstadt Kabul. Nach Angaben von Bundesaußenminister Joseph Fischer ist zwar keine Ausweitung des ISAF-Mandates über Kabul hinaus geplant, aber möglich sei die Stationierung anglo-amerikanischer Besatzungstruppen in den Provinzzentren. Im kommenden Jahr wird die BRD ihr Truppenkontingent am Hindukusch auf 2500 Mann verdoppeln. Auf dem Land haben die mächtigen Warlords das Sagen, und immer stärker regen sich die Kräfte, die für eine Vertreibung des vom Westen abhängigen Karsai eintreten. Bei Gefechten im Westen Afghanistans setzten die Amerikaner erstmals seit 5 Monaten wieder überschwere B-52-Bomber ein. Der Bundesausschuss Friedensratschlag wies unlängst darauf hin, dass bei der als "Krieg gegen den Terror" verbrämten westlichen Intervention in Afghanistan bereits 20.000 Menschen umgekommen sind. UNICEF und das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR meldeten, dass 50 % aller afghanischen Kinder chronisch unterernährt sind.

 

Die Waffeninspektionen der UNMOVIC-Mission im Irak sind von einer massiven Propagandakampagne der USA und Großbritanniens sowie ihrer internationalen Kollaborateure wie dem Springer-Konzern begleitet. Ungeachtet immer neuer "Dossiers" der westlichen Nachrichtendienste und Militärs über das angebliche Vernichtungspotential des den Weltfrieden bedrohenen Schurkenstaates bleibt das bisherige Resultat jedoch mehr als dürftig. Die Funde beschränken sich nach eineinhalb Wochen auf ein Dutzend Granaten mit Spuren von Senfgas-Köpfen, die im Komplex von Al Muthanna gefunden wurden. Sehr zum Unglück für die westlichen Kriegstreiber wurde dieser jedoch bereits Ende der 90er Jahre auf Geheiß der UN zerstört – man fand militärischen Schrott. Aber, Hand aufs Herz, hierum geht es schließlich nicht, sondern um die Interessen der anglo-amerikanischen Energiekonzerne und das Weltmachtstreben der USA. Die US-Regierung hat die Türkei bereits um die Erlaubnis zur Stationierung von bis zu 150 000 Soldaten auf türkischem Boden sowie um die Bereitstellung von 40 000 türkischen Soldaten für einen möglichen Krieg gegen Irak ersucht und setzt ihren Aufmarsch am Golf fort.

 

Während die kolumbianische Regierung den linken Guerrilleros ohne einen vorherigen Waffenstillstand jegliche Verhandlungen verweigert (pikanterweise wurde der letzte ausgerechnet durch eine Offensive der von den Amerikanern unterstützten Regierungstruppen Makulatur), hat sie klammheimlich Gespräche mit den rechtsgerichteten AUC-Paramilitärs aufgenommen. Die Paras kündigten an, zum 1. Dezember eine auf 2 Monate befristete Waffenruhe auszurufen. Sie bieten eine Demobilisierung ihrer weite Landesteile kontrollierenden Einheiten an und wollen unter Vermittlung der in Kolumbien als extrem rechts stehend geltenden katholischen Kirche, der Organisation Amerikanischer Staaten und der UNO mit der Regierung verhandeln. Die AUC-Mörderbanden erwarten jedoch als Gegenleistung die Anerkennung als politische und militärische Kriegspartei, was von den Guerrilleros und der kolumbianischen Linken vehement abgelehnt wird. Angesichts des exzessiven Terrors der auf unterer und mittlerer Ebene eng mit der Armee verflochtenen Paramilitärs ist diese Haltung begreiflich, zudem ist eine Unterwanderung der im Aufbau befindlichen Bürgerwehren Uribes durch AUC-Aktivisten zu befürchten, die ihren Feldzug dann unter neuem Gewand fortsetzen könnten. Im übrigen geht der Aufbau dieser Dorfwehren auf eine Studie der amerikanischen Rand Corporation, einer CIA-nahen Einrichtung der MacDonnell-Douglas-Flugzeugwerke, zurück. Gelingt der Trick, dann kann die US-Regierung den Kritikern der Zusammenarbeit mit Uribe den Wind aus den Segeln nehmen und ihre Militärhilfe für Kolumbien erhöhen. In den Aufstandsgebieten ist mittlerweile die Tendenz zu einer regelrechten Vertreibung der Bevölkerung zu verzeichnen, um die Rebellen zu isolieren und rücksichtsloser vorgehen zu können. Diese Vertreibungen erfolgen entweder durch direkte Brutalitäten der Paramilitärs oder durch Räumungsanordnungen der Behörden mit Vorwänden wie Überschwemmungsgefahr. Die Nationale Uni in Bogotá wurde von 3000 Polizisten besetzt und erlebte eine tagelange Großrazzia gegen die politisierte Studentenschaft und ihre Organe. Auch vor anderen Unis marschierten Polizei und Armee auf. Die landesweiten Proteste gegen die geplanten neoliberalen Reformen im Bildungswesen sollen unter dem Vorwand der Guerrillabekämpfung erstickt werden.

 

Nach einer Vorstandssitzung seiner rechtsreaktionären Partei Rechtsstaatlicher Offensive PRO kündigte Parteigründer Ronald Schill seinen Verzicht auf das Amt des Bundesvorsitzenden an. Schill will sich fortan als Hamburger Innensenator und Landesvorsitzender auf die Arbeit in der Hansestadt konzentrieren. Angesichts seiner Auslassungen zum Einsatz des beim Moskauer Geiseldrama verwendeten Nervengases innerhalb der BRD ist es sicherlich auch das Beste für Staat und Gesellschaft, wenn Schill sich aus der Bundespolitik heraushält. Als Nachfolger im Parteivorsitz wird der bisherige Vize und Hamburger Bausenator Mario Mettbach gehandelt. Bundesweit hat die Partei 7100 Mitglieder, in Hamburg sind es 1200. Die organisatorischen Schwierigkeiten sind offenbar noch immer nicht überwunden: In Bremen scheiterte die Gründung eines Landesverbandes ausgerechnet im Vorfeld der Bürgerschaftswahlen daran, dass zu wenig Mitglieder erschienen.

 

Als Geste an die Briten erwägt Sinn Féin derzeit offenbar, ihre 4 Sitze im britischen Unterhaus einzunehmen. Damit begeht die reformistische Parteiführung um Gerry Adams ein wahres Sakrileg – noch nie erkannte die republikanische Bewegung die Zuständigkeit Westminsters für irische Belange an. Zudem könnte SF im nordirischen Policing Board mitarbeiten und damit die Forderung nach einer radikalen Reform der nach wie vor protestantisch dominierten nordirischen Polizei über Bord werfen. Dieses Angebot dürfte die Unzufriedenheit innerhalb der Partei und vor allem innerhalb der Provisional IRA weiter verschärfen.

 

Im irischen Gefängnis von Portlaoise zerfällt die Anhängerschaft des ehemaligen Real IRA-Kommandeurs Michael McKevitt zusehends. Dieser hatte die gegenwärtige Führung der Untergrundorganisation zur Einstellung des bewaffneten Kampfes und zur faktischen Selbstauflösung der Gruppe aufgerufen und damit dem Mund offensichtlich etwas zu voll genommen. Die RIRA-Aktivisten vor allem in Nordirland stellten sich eindeutig gegen ihren früheren Chef, dessen Initiative im luftleeren Raum verpuffte. Mittlerweile haben mehr als 10 in Portlaoise einsitzende RIRA-Kriegsgefangene McKevitt den Rücken gekehrt und sich in die Flügel der Continuity IRA und der Irish National Liberation Army verlegen lassen. In Bälde könnte sich um den bislang noch in Isohaft sitzenden Liam Campbell somit eine RIRA-Konkurrenzzelle zu den Kompromißlern um McKevitt bilden. Auch der in U-Haft befindliche mutmaßliche RIRA-Kommandeur Aidan Grew soll sich eindeutig gegen McKevitt gestellt haben. Die Spannungen haben ein derartiges Ausmaß angenommen, dass die im Gefangenen der im Waffenstillstand befindlichen INLA nach Castlerea verlegt werden, wo auch die Häftlinge der Provisional IRA einsitzen.

 

In Ballygowan/Down wurde der schwer an Arthritis erkrankte Mark Apsley nach einem Disput mit der UDA von derselben erschossen. Im Jahr 2002 waren loyalistische Paramilitärs Polizeiangaben zufolge für dreimal mehr Fälle von Schusswaffengebrauch gegen die Sicherheitskräfte verantwortlich als ihre republikanischen Widersacher. Ein Bombenanschlag der UDA auf John White, den Kompagnon des Renegaten Johny Adair, scheiterte. In der Stadtmitte Belfasts fing die Polizei ein Kommando republikanischer Hardliner ab, das eine Autobombe plazieren wollte. Ein Paramilitär wurde angeschossen und schwer verletzt – er war unbewaffnet. Es handelt sich bereits um die vierte sichergestellte Sprengladung in der nordirischen binnen 7 Monaten. Nach dem berüchtigten Old Firm Game, dem Fußballspiel der Lokalrivalen Celtic Glasgow und Glasgow Rangers, kam es in Derry zu den obligatorischen Zusammenstößen zwischen protestantischen und katholischen Randalierern.

 

Im November überstieg die offiziell eingestandene Arbeitslosigkeit wieder einmal die Vier-Millionen-Marke. Nunmehr werden 4,026 Millionen Arbeitslose gezählt, 96.100 mehr als im Oktober (höchster Zuwachs seit der Wiedervereinigung) und 236.900 mehr als im Vorjahresmonat. Die Gesamtquote liegt nun 9,7 % - im Westen 2,65 Millionen (7,8 %) und im Osten 1,375 Millionen (17,6 %). Saisonbereinigt sogar kommen die Statistiker sogar auf 4,161 Millionen Arbeitslose. Mit einer Quote von 17,1 % weist Berlin den höchsten Stand seit der Wiedervereinigung 1990 auf. Nordrhein-Westfalen meldet 9,3 % und die schwächste Nachfrage nach Arbeitskräften seit Mitte der 80er Jahre. Die Spitze des Eisberges ist noch lange nicht erreicht, denn im Handwerk droht infolge von Auftragsmangel der Verlust von einigen 100.000 Arbeitsplätzen. Seit Ende 2001 haben die Handwerksbetriebe sage und schreibe 300.000 Stellen abgebaut. Verheerend ist die Lage auch im Baugewerbe, wo seit Mitte der 90er Jahre 500.000 Arbeitsplätze verloren gingen. Bemerkbar machen werden sich ebenfalls die Rationalisierungsprogramme der Großkonzerne: Jeder zweite der 30 großen DAX-Konzerne wird in den kommenden 2 bis 3 Jahren Arbeitsplätze abbauen, insgesamt 120.000. Michael Rogowski als Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie hält sogar einen Anstieg der offiziellen Arbeitslosigkeit auf mehr als 5 Millionen für möglich.

 

Im Zuge der andauernden Konjunkturschwäche nahm den Angaben aus Nürnberg zufolge im November auch die Jugendarbeitslosigkeit deutlich zu. In diesem Monat waren 472 000 junge Menschen unter 25 Jahre arbeitslos, 42 000 mehr als im Vorjahresmonat. Nach Übersicht der Bundesanstalt haben bundesweit 44 900 Lehrstellenbewerber eine Ausbildung außerhalb des Arbeitsamtsbezirks begonnen. Dies entspricht einem Anteil von 12,9 % und spreche für hohe regionale Mobilität. Diese Quote in den neuen Bundesländern (einschließlich Berlin) lag mit 18,2 % fast doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern mit 9,9 %. Auf "hohe regionale Mobilität", also auf regionale und soziale Entwurzelung, weisen auch die Pendlerzahlen in Städten wie Hamburg hin: Hier werden bereits 35,8 % aller Arbeitsplätze von außerhalb der Stadt wohnenden Pendlern ausgefüllt. Einer Untersuchung des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg, zufolge beschäftigen rund 60 % aller Betriebe keinen einzigen Mitarbeiter mehr, der älter als 50 Jahre ist. Vor allem Klein- und Mittelbetriebe, also die hochgerühmten Mittelständler und Existenzgründer, tun sich hierbei als asoziale Elemente hervor.

 

Ende 2002 kann davon ausgegangen werden, dass es im angeblichen Sozialstaat BRD bis zu 750.000 Obdachlose gibt. Die Evangelische Obdachlosenhilfe verzeichnete in den städtischen Ballungsräumen eine Zunahme der Beratungsfälle um 30 % und geht einschließlich der Dunkelziffer von einer Gesamtzunahme um 50 % aus. Bereits im Jahr 2001 galten in der BRD 500.000 Menschen als obdachlos, davon waren 90.000 Frauen und 85.000 Kinder und Jugendliche. Hauptursache der zunehmenden Obdachlosigkeit ist die anhaltende Krise auf dem Arbeitsmarkt.

 

Lagefeststellung – Beurteilung der Situation – Möglichkeiten des Handelns – Entschluss – Umsetzung – Kontrolle

 

 

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