Wochenschau
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Die politische Wochenschau
vom 1. bis 7. Juni 2002
Schlagzeilen der Woche zusammengestellt von Christian Klee |
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Zitat der Woche: |
"Die Zertrümmerung des Kapitalismus ist auch die Zertrümmerung der bürgerlichen Nation." |
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Wilhelm Korn
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Einer aktuellen Studie zufolge ist die Sprachsituation unter den Kindern aus Berlin-Mitte alarmierend. Zwei Drittel der im Herbst in die Wissensfabriken einrückenden ABC-Schützen sind ein Fall für den Sprachförderunterricht. Bei Kindern nichtdeutscher Herkunft (49,25 % der Einzuschulenden) beträgt diese Quote erschreckende 90 %, aber auch jedes zweite Kind ethnisch deutscher Eltern weist gravierende Sprachmängel auf. Insgesamt spricht nur jedes dritte Kind die Landessprache so gut, dass auf Fördermaßnahmen verzichtet werden kann. Nach Ansicht des Instituts für kreative Sprachförderung und interkulturelle Kommunikation ist die Lage noch verheerender, denn die Probetests für die angehenden Erstklässler seien selbst für normal begabte Vierjährige problemlos lösbar gewesen. Hier handelt es sich nicht um einen Sonderfall. Die Einschulungsuntersuchungen das Jahres 2001 in Osnabrück erbrachten, dass 20 % der ABC-Schützen nicht schulreif sind, und das aufgrund mangelnden Sprachvermögens, gestörten Arbeits- und Gruppenverhaltens und Unfähigkeit zur Verarbeitung komplexerer Eindrücke.
Im Mai 2002 sank die Zahl der offiziell eingestandenen Arbeitslosen erstmals wieder unter 4 Millionen, und zwar auf 3,946 Millionen Menschen (9,5 %), darunter 2,4 Millionen Langzeitarbeitslose. Damit liegt die Erwerbslosigkeit um 225.600 Personen über dem Vorjahresmonat. In städtischen Ballungsräumen wie Hamburg nahm die Arbeitslosigkeit gegenüber dem Mai 2001 um 11,4 % zu. Saisonbereinigt ist die Arbeitslosigkeit gegenüber dem April 2002 sogar um 60.000 Köpfe angestiegen der stärkste Zuwachs seit Mai 1997. Beträgt die Arbeitslosenquote im Westen 7,6 %, so sind es im Osten weiterhin 17,7 %. Mittlerweile entfällt bereits mehr als die Hälfte aller Rentenzugänge von Männern auf Altersrente nach Langzeitarbeitslosigkeit. Einer vom DGB in Auftrag gegebenen polis-Studie zufolge zittern bundesweit 38 % aller Beschäftigten um ihren Arbeitsplatz. Und der Druck wird infolge des allgemeinen Sozialdumpings noch weiter steigen: In Hamburg sollen Sozialhilfeempfänger künftig ihre Autos verkaufen, um vom Erlös zu leben. Wird der Besitz eines Pkw verschwiegen, so drohen Rückforderungen oder gar Betrugsverfahren. Im 1. Halbjahr 2002 nahmen die Zwangsversteigerungen privater Immobilien um 10,4 % zu. Erschreckendes Ausmaß hat das Massenelend offenbar in Leipzig angenommen, wo die Zunahme bei 88 % lag.
Zum SPD-Wahlparteitag und zur Rede von Parteichef und Bundeskanzler Schröder erklärte der Vorsitzende der PDS-Bundestagsfraktion, Roland Claus: "Die Fünf-Stunden-Show der SPD und die 90-Minuten-Rede des Bundeskanzlers haben die Dürftigkeit der sozialdemokratischen Regierungsbilanz überspielt und beschönigt. Viele Wähler, nicht zuletzt im Osten, werden sich bei Schröders Rede gefragt haben, ob er wirklich von dem selben Land und den gleichen Entwicklungen spricht, die sie selbst in vier Jahren Rot-Grün erlebt haben. Das Problem waren nicht die Worte, die die SPD und ihr Vorsitzender gefunden haben. Das Problem besteht in der Kluft zwischen Wort und Tat: Wider die Wirklichkeit hat der Kanzler davon gesprochen, es hätte zum Beispiel unter Rot-Grün keinen Abbau von sozialen und gewerkschaftlichen Rechten und eine deutliche Wende zum Besseren bei der Massenarbeitslosigkeit gegeben. Wahr ist jedoch, diese 4 Jahre Sozialdemokratie unter diesem Kanzler haben entgegen seinen Beteuerungen den sozialen Zusammenhalt im Land nicht gefördert, sondern beschädigt. Sie haben sozialdemokratische Grundwerte wie Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Zusammenhalt folgenschwer abgebaut. Zudem hat der Kanzler, genau genommen, die Maßstäbe gewechselt: Wollte er bei seinem Amtsantritt noch an den eigenen Leistungen, gerade beim Abbau der Arbeitslosigkeit gemessen werden, genügt es ihm nun, sich an Kohl zu messen. Wahlparteitag und Kanzler-Auftritt erinnern lebhaft daran, dass die SPD, die heute organisierte Selbstgefälligkeit zur Schau zu stellen versuchte, Druck von der PDS braucht. Die wachsende Wut in der Wahlbevölkerung ist jedenfalls nicht mit einem Kanzler-Wortspiel vom wachsenden Mut zu besänftigen."
In Berlin wurde der Grundrechte-Report 2002 vorgestellt, welcher eine "fortschreitende Erosion der Freiheitsrechte" konstatierte. Bedenklich seien vor allem die als Reaktion auf den 11. September entstandenen Antiterrorgesetze, welche verstärkte Videoüberwachung, Abhören von Telefongesprächen und Auflockerung des Datenschutzes zur Folge hatten. Der FDP-Politiker Burkhard Hirsch sprach gar von einer "innenpolitischen Aufrüstung" mit unverhältnismäßiger Aufstockung der Sicherheitskräfte. Als verfassungswidrig bezeichnete Hirsch die Speicherung von Daten angeblich rechts- oder linksmotivierter Menschen durch das Bundeskriminalamt. In den so genannten REMO- oder LIMO-Datei ein seien bereits rund 2 500 Personen ohne deren Kenntnis als "linksmotiviert" registriert. Der Eintrag könne aber bei Kontrollen durch den Bundesgrenzschutz an den Außengrenzen Deutschlands zu einem Ausreiseverbot führen. Hirsch kritisierte zudem, dass Deutschland unter den demokratischen Staaten "Weltmeister" beim Abhören von Telefongesprächen sei. So ist nach Angaben des Grundrechte-Reports die Zahl der Telefonüberwachungen im Jahr 2001 auf rund 15 000 angestiegen. Betroffen seien davon insgesamt 1,5 Millionen Menschen, die in der Regel nicht darüber informiert würden.
In Islamabad unterzeichneten Pakistan, Afghanistan und Turkmenistan den Vertrag zum Bau der seit Jahren von den westlichen Ölmultis angestrebten Pipeline. Die turkmenischen Lagerstätten an Erdöl und Erdgas sollen mit der pakistanischen Hafenstadt Gawadar verbunden werden und dadurch dem Weltmarkt offenstehen. Die afghanische Kollaborationsregierung in Kabul kassiert mindestens 100 Millionen Dollar an Transferabgaben pro Jahr. Weltbank und Asian Development Bank signalisierten bereits ihre Unterstützung des Vorhabens. Zentralasien besitzt die nach dem Mittleren Osten größten Erdöl- und Erdgasreserven der Welt. Die Pipeline ist ein Traum gerade der nordamerikanischen Konzerne, da man so die Pipeline durch den Kaukasus sparen könnte - zudem wird das zentralasiatische Monopol Russlands unterlaufen und die Abhängigkeit von der OPEC verringert. Afghanistans Übergangspremier Karsai und der US-Sonderbeauftragte Khalilzad arbeiteten beide in den 90ern für den US-Ölkonzern Unocal, den ersten Planer der Pipeline. Zwischen 1997 und 2002 hat sich das Investitionsvolumen der US-Energiekonzerne in Zentralasien von beinahe Null auf 20 Milliarden Dollar vergrößert.
Auf dem anstehenden Bundeskongress der IG Metall soll ein sogenannten "Zukunftsmanifest" beraten werden. Die "junge Welt" kommentierte hierzu gewohnt treffend: "Viel ist in dem Manifest von »Solidarität« und »Gerechtigkeit« zu lesen, jedoch lohnt es sich, auf das Kleingedruckte zu achten. So bekennen sich die Autoren zur weitergehenden Deregulierung des Arbeitsmarktes, zur »Vielfalt der Arbeitszeiten und Arbeitsverhältnisse«. Die »neue Normalität dieser Vielfalt zu akzeptieren, ist Voraussetzung, um die Arbeitswelt mitgestalten ... zu können«, heißt es dort. Nachdem quasi im Vorübergehen der Flächentarifvertrag beerdigt, statt dessen die Forderung nach »betrieblichen Differenzierungen« erhoben und Bio- und Gentechnik ohne jegliche Differenzierung zum großen Hoffnungsträger für die Zukunft der Gesellschaft erklärt werden, geht der Entwurf schließlich aufs Ganze, d. h. in Richtung »Eigenverantwortung«. Von der wird im neoliberalen Diskurs eigentlich immer dann geredet, wenn Kapital und Staat sich aus ihrer materiellen und ordnungspolitischen Verantwortung für die soziale Infrastruktur stehlen wollen, das eine mittels Steuerverweigerung und der andere durch Mittelstreichungen und Privatisierungen. Einer »offenen Diskussion über notwendige Ergänzungen und mögliche Alternativen zum System der paritätischen Finanzierung »will sich die IG-Metall-Spitze dabei ebensowenig verschließen wie dem »Abbau monetärer Transferleistungen zugunsten qualitativer Dienstleistungen« und der Betonung der »individuellen Verantwortung für die Beschäftigungsfähigkeit«. Da verwundert es auch nicht, dass als Ursachen der Massenarbeitslosigkeit und der wachsenden sozialen Ausgrenzung irgendwelche nebulösen »Prozesse« ausgemacht werden und keineswegs die kapitalistische Ordnung."
Die Bundesregierung beschloss die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan um weitere 6 Monate, zudem soll das bundesdeutsche ISAF-Kontingent um 200 Mann aufgestockt werden. Für die transnationalen Konzerne der BRD wird sich der neudeutsche Imperialismus auszahlen. Beispielsweise erhielt der Technologieriese Siemens nunmehr den Zuschlag für den Wiederaufbau des afghanischen Telekommunikationsnetzes. Alleine in Kabul winken Siemens zwischen 350.000 und 1 Million Hauptanschlüsse, hinzu kommen die übrigen Großstädte des Landes. Ein weiterer Auftrag sichert Siemens die Verlegung von 3000 Kilometer Glasfaserkabeln, womit das afghanische Netz an die bereits bestehenden Siemens-Glasfaserverbünde in Turkmenistan und Pakistan angeschlossen werden soll.
Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg erklärte staatliche Sonderstimmrechte in privatisierten Unternehmen für weitestgehend unzulässig. Diese "Goldenen Aktien" sind nur noch dann erlaubt, wenn sie "durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses" gerechtfertigt sind und "in angemessenem Verhältnis zum verfolgten Ziel" stehen. Betroffen sind direkt die Regierungen Frankreichs (Elf Aquitaine!), Portugals und Belgiens mit ihren Bemühungen, strategisch wichtige Unternehmen den Klauen des Globalisierungskapitalismus zu entziehen. Indirekt betroffen ist beispielsweise auch der Volkswagenkonzern, in welchem das Land Niedersachsen eine besonders starke Stellung besitzt. Womöglich droht der Bundesregierung daher ein Vertragsverletzungsverfahren durch die EU-Kommission.
Die "junge Welt" hierzu: "Der Europäische Gerichtshof hat am Dienstag den Weg freigemacht. Nationale Regelungen zum Schutz bestimmter Kapitalgesellschaften - meist verbunden mit dem Bergriff der sogenannten Goldenen Aktie - werden keinen Bestand mehr haben. Wie schon durch die EU-Kommission gefordert, wird es in Zukunft kaum noch Unternehmen geben, die sich auf diese Weise vor feindlichen Übernahmen schützen können. Das ist konsequent im Interesse des Finanzkapitals, konsequent neoliberal und beseitigt wahrscheinlich die letzten Einflussmöglichkeiten nationaler Regierungen auf die Eigentumsverhältnisse bei Konzernen und Unternehmen. Ausnahme bleibt der Energiesektor. Da die EU gleichzeitig dem Management der Unternehmen verbieten will, Abwehrmaßnahmen gegen feindliche Übernahmen zu ergreifen, heißt das schlussendlich: Es zählt nur der Aktienbesitz. Standortfragen, Interessen der Beschäftigten und selbst unternehmerische Planungen sind nachrangig. Ein Dorado für milliardenschwere Fonds, die nach Belieben unterbewertete Unternehmen aufkaufen und »vermarkten« können. Und wie man die Aktien eines Konzerns an der Börse manipuliert, ist in der jüngeren Vergangenheit hinlänglich gezeigt worden. Willkommen im Europa der Aktionäre."
Die nordirische Hauptstadt Belfast erhält der nicht mehr enden wollenden Unruhen zum Trotz ihren ersten katholischen und republikanischen Bürgermeister. Die liberale und überkonfessionelle Alliance Party kehrte den konservativ-reaktionären Protestantenparteien UUP und DUP den Rücken. Mit den Stimmen der liberalen Abgeordneten im Stadtparlament von Belfast wurde nun Alex Maskey, ein prominenter Kommunalpolitiker Sinn Féins, zum neuen Bürgermeister gewählt. Die Alliance Party beugte sich durch ihre Entscheidung demokratischen Gepflogenheiten, denn seit den britischen Unterhauswahlen kann Sinn Féin als die stärkste politische Kraft in Belfast angesehen werden. Die unionistischen Abgeordneten verließen nach der Wahl Maskeys unter Protest die Stadtverordnetenversammlung und verzichteten auf die Wahl eines protestantischen Stellvertreters. Alex Maskey vertritt Sinn Féin seit 1983 im Stadtrat und überlebte 1987 einen Mordanschlag der loyalistischen Ulster Defence Association.
Die Feierlichkeiten zum 50jährigen Kronjubiläum der britischen Queen Elizabeth eskalierten nicht unerwartet in Belfast. Im mehrheitlich protestantischen Osten der Stadt kam es zu schwersten Zusammenstössen zwischen Protestanten und Katholiken, an denen sich erstmals seit dem Waffenstillstand von 1998 wieder offen Paramilitärs beteiligten. In Short Strand wurde sogar eine Schule von loyalistischen Paramilitärs überfallen, welche die katholischen Schüler vertrieben. Zudem versuchen die Protestanten derzeit, katholische Einwohner an der Nutzung der kommunalen medizinischen Einrichtungen zu hindern. In Ballymena scheiterte ein Autobombenanschlag republikanischer Hardliner auf einen katholischen Polizeirekruten eine mehr als deutliche Warnung, sich mit der britischen Kolonialmacht einzulassen.
Aktivisten der Provisional IRA und der INLA verteidigten die katholische Enklave Short Strand gegen die Angriffe von durch UVF-Paramilitärs und UDA-Berufsrandalierer verstärkten loyalistischen Mobs, wobei 5 Angreifer niedergeschossen und verletzt wurden. Erst der Einsatz starker Verbände der britischen Armee konnte die Ruhe wieder herstellen. Nachdem die UDA im Rahmen der monatelangen Unruhen in North Belfast die Vorherrschaft über die protestantischen Arbeiterviertel erkämpfen konnte, versuchte die Ulster Volunteer Force sich offenbar in East Belfast an einer Machtdemonstration und erlitt eine böse Abfuhr. Die örtlichen Einheiten von UVF und UDA nahmen Fühlung auf, und Nordirland stand einen Augenblick am Rande des Abgrundes. Nordirlands Regierungschef David Trimble reiste höchstpersönlich zum ungeliebten britischen Premier Tony Blair und forderte diesen auf, den Waffenstillstand der IRA für ungültig zu erklären. Um die Wogen zu glätten, trafen Sinn Feíns Parteichef Gerry Adams und David Ervine von der UVF-nahen Progressive Unionist Party zusammen. Paul Little von der INLA-nahen Irish Republican Socialist Party versicherte, die nationalmarxistische Untergrundorganisation stehe weiterhin zum Friedensprozess, werde aber in der herannahenden marching season den Schutz der bedrohten katholischen Wohngegenden übernehmen. Zudem rief die IRSP die irischen und nordirischen Gewerkschaften auf, zwischen den verfeindeten communities zu vermitteln, um ein Wiederaufflammen des Bürgerkrieges zu verhindern.
Gewohnheitsgemäß den internationalen Druck ignorierend, hat Israel im völkerrechtswidrig besetzten Ostjerusalem mit dem Bau einer neuen jüdischen Siedlung begonnen. Nach einem Bericht der israelischen Menschenrechtsorganisation Bezelem kontrollieren jüdische Siedler inzwischen 41,9 % des Westjordanlandes, obwohl sie nur etwa 2 % des Gebietes bebaut haben. 380.000 Israelis leben in den besetzten Palästinensergebieten, 175.000 davon im von Israel völkerrechtswidrig annektierten Ost-Jerusalem. Die Anzahl der Siedler hat sich seit den Osloer Friedensverträgen 1993, die einen Stopp der Siedlungen vorsahen, bis zum Jahr 2000 verdoppelt.
Im französischen Teil des Baskenlandes hatte eine Kampagne zur Verlegung der inhaftierten baskischen Nationalisten in heimatnahe Gefängnisse durchschlagenden Erfolg. Eine entsprechende Petition wurde von 20.000 Menschen unterschrieben und erhielt die Untersützung von 7 Parteien und Gewerkschaften. Nunmehr sprach sich auch der Generalrat des Departements Béarn mit 12 gegen 9 Stimmen für die Verlegung aus. Die Verwaltungseinheit umfasst die 3 in Frankreich gelegenen baskischen Provinzen. Entsprechende Forderungen werden jenseits der Pyrenäen nur von den baskischen Parteien und der kommunistischen Vereinigten Linken unterstützt.
Lagefeststellung Beurteilung der Situation Möglichkeiten des Handelns Entschluss Umsetzung Kontrolle