Wochenschau

 

Die politische Wochenschau

 

vom 6. bis 12. Juli 2002

Schlagzeilen der Woche   zusammengestellt von Christian Klee  

 

Massenarbeitslosigkeit stagniert weiterhin

Zur Bundestagswahl am 22. September

 

Zitat der Woche:
"Heute bin ich tieftraurig – es geht sehr tief. Ich bin traurig für meine Generation, die jeder menschlichen Substanz entleert ist. Die nur Bars, Mathematik und Rennwagen als Form des geistigen Lebens kennengelernt hat und gegenwärtig in eine ausgesprochene Herdenaktion eingespannt ist – eine Aktion, die keinerlei Farbe mehr hat. Es fällt einem nur nicht mehr auf."
- Antoine de Saint-Exupéry

 

Entgegen dem üblichen Trend stieg die Zahl der registrierten Arbeitslosen im Juni auf den höchsten Stand in diesem Monat seit 1998. Mit 3.954.400 Menschen waren 7900 Personen mehr arbeitslos als noch im Mai, und gegenüber dem Vorjahresmonat hat die Erwerbslosigkeit sogar um 260.000 Köpfe zugenommen. Erstmals seit 1993 stieg in einem Juni die Erwerbslosigkeit wieder an. Die Arbeitslosenquote stagnierte bei 9,5 % - der Stand des Juni 2001 lag bei 8,9 %. Die Arbeitslosenquote im Osten war im Juni mit 17,8 % erneut mehr als doppelt so hoch wie im Westen mit 7,6 %. Ebenfalls entgegen dem üblichen Trend ist die Zahl der Kurzarbeiter im Juni um 1400 auf 202.100 gestiegen. Das waren nach Angaben der Bundesanstalt 93.500 mehr als vor Jahresfrist. In den ostdeutschen Ländern wird die Lage am Arbeitsmarkt immer dramatischer. Die Zahl der Arbeitslosen wird im Jahr 2002 mit rund 1,4 Millionen auf den höchsten Stand in den vergangenen 12 Jahren steigen. Erwerbstätig sind in den neuen Ländern nur noch knapp 6,2 Millionen Menschen. Noch nie seit der deutschen Einheit lag dieser Wert so niedrig. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB bei der Bundesanstalt für Arbeit steigt in diesem Jahr die Zahl der im Westen tätigen Pendler mit fast 400 000 auf den höchsten Stand seit 1992. Die Konjunkturflaute hat allein im Handwerk zum Abbau von rund 250 000 Stellen geführt. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden berichtete, im Handwerk habe es im ersten Quartal dieses Jahres 4,8 % Beschäftigte weniger gegeben als im Vorjahreszeitraum. Ende Mai 2002 wurden bundesweit 453.300 Arbeitslose unter 25 Jahren gezählt. Das bedeutet eine Zunahme um 15,6 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, während die Arbeitslosigkeit insgesamt nur um 6,1 % anstieg. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 10,2 %. Aus Berufsgründen bereits muss jeder 4. Arbeitnehmer umziehen, pendeln oder regelmäßig an anderen Orten arbeiten. Das moderne Berufsnomadentum bringt viele Nachteile für die Betroffenen und ihre Familien. 67 % klagten über mangelndes seelisches Wohlbefinden. Soziale Kontakte gehen verloren, und die Arbeitnehmer entfremden sich von Freunden, Familie und Beziehungspartnern.

 

Treffend formulierte die "Junge Welt": "Die Zerstörung der ostdeutschen Gesellschaft ist mit der Pulverisierung von Wohnungen und dem Auseinanderjagen von Familien noch lange nicht an ihrem Endpunkt angekommen. Die Absenkung des Lebensstandards kann noch forciert werden. Entsprechend ist die Begleitmusik: Die Helden der DDR-Beseitigung aus West und Ost feierten vor zehn Jahren das 'Aufbrechen verkrusteter Strukturen', einige Millionen Arbeitslose und Abgewanderte später freuen sie sich wie Richard Schröder kindisch über das Preußenschloss in Berlin. Der Hartz-Kommission, die Arbeitslosigkeit beseitigen soll, bescheinigt der brandenburgische Ministerpräsident, dass sie den Osten glatt vergessen hat. Über den Vorschlag, Arbeitslosigkeit durch schnellere Vermittlung Arbeitsloser zu vermindern, kann dort niemand mehr lachen. Die soziale Katastrophe im Osten wird mit Ossis nicht diskutiert. Es reicht, wenn die am innerdeutschen Kreisverkehr teilnehmen, als Menschenmaterial: Waren nach Osten, Erlöse in den Westen. Arbeit gibt es ebenfalls dort, so haben die Pendel-Ostler wenigstens etwas Geld, mit dem sie die Westwaren bezahlen können. Allerdings sind die Exporte ins Anschlussgebiet wegen abnehmender Bevölkerung und abnehmender Kaufkraft rückläufig."

 

Frauen verdienen nach wie vor weniger als Männer. Arbeiterinnen im Produzierenden Gewerbe hätten im Jahr 2001 in Deutschland im Durchschnitt 26 %, weibliche Angestellte im Produzierenden Gewerbe, Handel, Kredit- und Versicherungsgewerbe 30 % weniger Lohn als ihre männlichen Kollegen erhalten, teilte das Statistische Bundesamt Destatis in Wiesbaden mit. Der Verdienstabstand der Frauen im früheren Bundesgebiet sei bei den Arbeiterinnen von 43 % im Jahr 1957 auf 26 % und bei den Angestellten von 45 % auf 29 % im Jahr 2001 zurückgegangen. In den neuen Ländern habe sich dieser Abstand bei den Arbeiterinnen in den letzten zehn Jahren nur geringfügig von 25 auf 23 % verringert. Bei den weiblichen Angestellten habe er 1991 und 2001 bei jeweils rund 25 % gelegen.

 

In der afghanischen Hauptstadt Kabul erschossen Unbekannte den Vizepräsidenten und Minister für Öffentliche Arbeiten, Hadschi Abdul Kadir und seinen Fahrer. Das Attentat erfolgte direkt vor dem Ministerium und unter den Augen des Wachpersonals, das direkt nach der Tat verhaftet wurde. Mittlerweile verdichten sich Hinweise, denen zufolge der bis über beide Ohren im Heroingeschäft steckende Kadir als Folge eines Bandenkrieges um Marktanteile sterben mußte. Bereits im Februar wurde Tourismusminister Abdul Rahman unter ungeklärten Umständen auf dem Flughafen von Kabul ermordet. Die US-Regierung signalisierte unterdessen, dass sie ihre aggressive Kriegspolitik am Hindukusch ändern wird. Militärische Operationen sollen fortan Eliteeinheiten oder afghanischen Verbänden überlassen werden, während man 7000 Soldaten als Berater und Aufpasser permanent in Afghanistan stationieren will. Die neue Zurückhaltung ist auch dringend nötig: Angesichts der Tötung von mehr als 4000 fast ausnahmslos paschtunischen Zivilisten durch anglo-amerikanische Luftangriffe ist die Stimmung in einigen Landesteilen auf dem Siedepunkt.

 

Das Verbotsverfahren gegen die NPD entwickelt sich langsam aber sicher zum Eigentor für die Bundesregierung. Die Innenministerkonferenz hat sich nämlich darauf verständigt, dem Bundesverfassungsgericht keine Namen weiterer V-Leute in den Reihen der National-Demokraten zu nennen. Nachdem eine Reihe von hochrangigen Provokateuren und Spitzeln innerhalb der NPD aufflog, setzte Karlsruhe das Verfahren im Januar aus und forderte die Antragsteller auf, bis zum 31. Juli eine schriftliche Stellungnahme zur Rolle der V-Leute in den Verbotsanträgen einzureichen. "Das Gericht erwartet weitere Aufklärung darüber, ob und welche Personen aus dem jetzigen oder einem früheren Vorstand des Bundes- oder der Landesverbände der NPD seit 1996 mit staatlichen Stellen kooperiert haben oder noch kooperieren." Angesichts der Weigerung rechnen ehemalige Verfassungsrichter, namhafte Juristen und Inlandsgeheimdienstler mit einer Abweisung des Verbotsantrages durch das höchste bundesdeutsche Gericht, das schon bei Auffliegen der ersten Spitzel und Provokateure reichlich gereizt reagierte. Einem Bericht des SPIEGEL zufolge arbeitet in den Landes- und Bundesvorständen der Partei und ihrer Gliederungen jeder 7. Spitzenfunktionär für den Verfassungsschutz. In Insiderkreisen kursiert bereits das Bonmot, die Verbotsanträge gegen die NPD seien überflüssig – die zahlreichen V-Leute an Schlüsselpositionen könnten doch kurzerhand per Mehrheitsbeschluss die Selbstauflösung der Partei erzwingen.

 

Die Mitglieder der bundesdeutschen Parteien werden im Durchschnitt immer älter. In der bereits von einer wahren Gerontokratie gezeichneten SPD hat sich der Anteil der Mitglieder unter 30 in den vergangenen 10 Jahren mehr als halbiert. Im Jahr 2001 waren noch ganze 4,4 % der Parteigenossen jünger als 30 Jahre, hingegen liegt der Anteil der über 60jährigen mittlerweile bei 39,2 %. Bei der CDU sind 5,3 % der Mitglieder unter 30 und 44 % über 60 Jahre alt. Mit 10,1 % weist nur die FDP einen hohen und zudem steigenden Anteil jüngerer Parteibuchinhaber auf. Allgemein ist die Zahl der Parteimitglieder rückläufig, was angesichts der an eine Abstimmungsmaschine erinnernden Zustände nicht weiter verwundert. Zwischen Ende 1991 und Ende 2001 verlor die SPD mehr als 200.000 Mitglieder und liegt nunmehr bei 717.513 Parteigenossen. Die CDU fiel um rund 150.000 auf 604.135 Mitglieder zurück. Beinahe halbiert haben sich seit Ende 1991 die Mitgliederzahlen von FDP und PDS. Frauen sind unter den Parteimitgliedern weiterhin unterrepräsentiert: SPD 29,5 %, CDU 25,2 %, FDP 24,2 % und CSU 17,6 %.

 

Nachdem in der vergangenen Woche die "New York Times" mit Einzelheiten über die Kriegsplanungen des Pentagon gegen den Irak aufwartete, legte der britische "Sunday Telegraph" Informationen über die britische Beteiligung nach. Großbritannien wird den 200-250.000 Amerikanern eine komplette Division mit 20.000 Soldaten zur Seite stellen, hinzu kommen Luftwaffen- und Marineverbände mit weiteren 10.000 Soldaten. Zur Vorbereitung der neuen imperialistischen Aggression des Westens wurden bereits vor Wochen Truppen aus Afghanistan und vom Balkan abgezogen. Erneut bekräftigte US-Präsident Bush öffentlich seine Absicht, Saddam Hussein als irakischen Staatschef zu entmachten. Die Vorwürfe, Bagdad besitze und produziere weiterhin Massenvernichtungswaffen, dürften hierbei nichts als Propaganda sein, um den Griff nach den Erdölreserven des Zweistromlandes zu verschleiern. Scott Ritter, Oberst a.D. der Marineinfanterie und ehemaliger Leiter eines Waffeninspektionsteams im Irak, verneint die von der Bush-Administration erhobenen Vorwürfe und verweist darauf, dass es keinen einzigen Beweis für die Existenz irakischer ABC-Waffen-Programme gibt.

 

Die Kommunalwahl in Schleswig-Holstein am 2. März 2003 könnte unerwartet spannend werden. Auf Antrag der PDS überprüft das Bundesverfassungsgericht (BVG) derzeit die Sperrklausel, also die Fünf-Prozent-Hürde. Ob das BVG noch vor der Wahl urteilt oder erst danach, ließ ein Sprecher gestern offen: "Es gibt noch keinen Termin." Klar ist, dass die PDS inhaltlich gute Karten hat. Mit der Einführung der Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten in Schleswig-Holstein 1998 sind die Städte und Kreise auch dann regierbar, wenn in ihren Parlamenten viele Mini-Fraktionen sitzen und es keine klaren Mehrheiten gibt. In Nordrhein-Westfalen wurde die Klausel aus genau diesem Grund gekippt. In Mecklenburg-Vorpommern forderte das Landesverfassungsgericht den Landtag auf, die Fünf-Prozent-Klausel wegen der 1999 eingeführten Direktwahlen neu zu überprüfen.

 

Nach über zweieinhalb Jahrzehnten ergebnisloser Bemühungen ist der griechischen Polizei ein entscheidender Schlag gegen die linke Stadtguerillagruppe "17. November" gelungen. Wie der Athener Polizeichef Photis Nassiakos mitteilte, nahmen seine Beamten erstmals ein mutmaßliches Mitglied fest und stellten noch dazu einen großen Teil des Waffenarsenals der militanten Gruppe sicher. Unter anderem wurden Panzerabwehrraketen, Handgranaten und Material zum Bombenbau beschlagnahmt. Die Gruppe "17. November" nennt sich nach dem Datum des Studenten- und Arbeiteraufstandes gegen die Militärjunta am Athener Polytechnikum im Herbst 1973. Sie hat sich zu 22 politischen Morden bekannt. Bislang konnte nicht ein einziger Anschlag der Untergrundorganisation aufgeklärt werden, was Spekulationen über eine Fernsteuerung durch Nachrichtendienste Tür und Tor öffnete.

 

An der Bundestagswahl am 22. September nehmen neben den im Bundestag sitzenden 6 Parteien (SPD, CDU, CSU, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und PDS) die in einem Landtag mit mindestens 5 Abgeordneten vertretenen Parteien DVU und PRO teil. Weitere 23 Parteien und Vereinigungen müssen noch die erforderlichen Unterstützungsunterschriften beibringen, um in den potentiellen Genuss von Wahlkampfkostenerstattung zu kommen. Neben DVU und PRO bereichern das nationalliberale bis deutschnationale Spektrum noch die NPD, die DSU, Ab Jetzt – Bündnis für Deutschland und die Republikaner – eine Liste so uninteressant wie die andere. Nicht genau einzuordnen sind bekanntlich die ÖDP und die Bürgerrechtsbewegung Büso (Zepp-LaRouche). Auf der Linken finden wir die KPD, die DKP und die Partei der Arbeitslosen und Sozial Schwachen. An dieser Stelle ein paar Anmerkungen zu den himmelschreiend naiven Wahlboykott-Kampagnen: Hierbei handelt es sich um eine Milchmädchenrechnung, denn die Stimmen der Nichtwähler werden proportional auf die in den Bundestag einziehenden Parteien verteilt und ermöglichen es denselben, noch mehr Wahlkampfkostenerstattung einzusacken.

 

Die rechtsreaktionäre Partei Rechtsstaatlicher Offensive bedeckt sich bei den Vorbereitungen zur Bundestagswahl nicht gerade mit Ruhm. In der PRO-Keimzelle und –Hochburg Hamburg mussten mehrere Mitglieder telefonisch zusammengetrommelt und auf Parteikosten herangekarrt werden, um die Beschlussfähigkeit des Wahlparteitages sicherzustellen. Bezeichnenderweise blieben 15 der 25 Bürgerschaftsabgeordneten der Pflichtveranstaltung fern. Spitzenkandidat der Landesliste Hamburg wurde mit 210 von 227 Stimmen Parteichef Ronald Barnabas Schill. Dieser stellte klar, dass er in Berlin nur für ein Ministeramt zur Verfügung steht und keinesfalls für eine Abgeordnetentätigkeit. Innerhalb des Mutter-LV der PRO brodelt es derweil weiter: Die Hamburger Bürgerschaftsfraktion stürzte Schills Lebensgefährtin und Fraktionsgeschäftsführerin Katrin Freund wegen ihrer persönlichen Allüren als "First Lady" der Partei. Neuer Geschäftsführer ist Stephan Müller, zugleich auch Landesbeauftragter für Mecklenburg-Vorpommern. Hier und in Schleswig-Holstein gelang es infolge mangelnder Mobilisierung der Basis nicht, die Landeslisten im ersten Anlauf aufzustellen. Zwecks flächendeckenden Wahlantritts treibt die PRO nun Hals über Kopf den Aufbau von Orts- und Kreisverbänden fieberhaft voran, wobei sie sich vor allem auf Renegaten vom rechten Rand der CDU zu stützen scheint.

 

David Trimble, nordirischer Regierungschef und Vorsitzender der größten Protestantenpartei UUP, warnte, dass Gerry Adams und Martin McGuinness nicht mehr die vollständige Kontrolle über die republikanische Bewegung besitzen. Vor allem angesichts der sich steigernden republikanischen Straßengewalt in den letzten zwei Monaten kommen selbst dem ansonsten auf die angebliche Machtstellung seiner Kontrahenten fixierten Trimble Zweifel. Der Unionistenführer muss um seine Führungsposition innerhalb der UUP fürchten, falls er die britische Regierung nicht zur Druckausübung auf Sinn Féin bewegen kann. Trimble verlangte zudem endlich eindeutige und massive Entwaffnungsgesten der IRA. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass bei den nordirischen Wahlen im Mai 2003 mit Sinn Féin und der reaktionären Democratic Unionist Party DUP die radikalen Kräfte endgültig die Oberhand gewinnen, womit das Karfreitagsabkommen und die nordirische Selbstverwaltung Makulatur wären. Die britische Regierung hörte die Signale und wird nun erstmals definieren, was sie unter einem Waffenstillstand versteht. Nordirlands Paramilitärs sollen laut London die Aufklärung potentieller Zielpersonen und die Beschaffung neuer Waffen einstellen. Bei Zuwiderhandlung wird die britische Regierung den Waffenstillstand der jeweiligen Organisation für gebrochen erklären und Gegenmaßnahmen ergreifen. Martin McGuinness wiederum definiert als Waffenstillstand nur die Einstellung militärischer Operationen. Eine weitere Möglichkeit ist, dass London auf den sechs Grundprinzipien der Gewaltlosigkeit aus dem Mitchell-Plan von 1996 bestehen wird. Gemeint sind unter anderem das Bekenntnis zur demokratischen und friedlichen Problemlösung, vollständige Entwaffnung aller paramilitärischen Organisationen und die Verurteilung von Gewaltanwendung und Gewaltandrohung.

 

Einer Studie der University of Ulster zufolge haben sich die Beziehungen zwischen Protestanten und Katholiken nach dem Karfreitagsabkommen eher noch verschlechtert. 39 % aller Protestanten sind der Ansicht, sie würden seit dem Waffenstillstand schlechter behandelt. Nur 25 % aller Protestanten und 33 % der Katholiken glauben, das Verhältnis zwischen den zwei communities habe sich verbessert. Bei der letzten Umfrage im Jahr 1996 waren noch 44 % bzw. 47 % dieser Ansicht. 37 % der Protestanten und 29 % der Katholiken treten sogar für eine strikte Trennung voneinander ein – bis hin zu Arbeitsplatz und Schulwesen. In Nordirland ist die Zustimmung der Bevölkerung für den Verbleib im Staatsverband des Vereinigten Königreiches seit 1989 von 71 % auf 49,3 % gefallen. Immerhin 28,3 % der Nordiren sprechen sich für die Wiedervereinigung mit der Republik Irland aus. Sahen sich noch 1989 nur 40 % der nordirischen Katholiken als irische Nationalisten an, so beträgt diese Zahl mittlerweile 65 %. Nur 26,1 % der Protestanten halten es für unmöglich, in einem vereinigten Irland zu leben. Die Wiedervereinigung der geteilten Insel innerhalb von 20 Jahren wird von 34 % der nordirischen Bevölkerung erwartet.

 

Die nordirische marching season erreichte mit der berüchtigten Parade von Drumcree/Portadown ihren alljährlichen Höhepunkt. Zur Erinnerung: Mit dem Marsch zur Kirche von Drumcree gedenken die Protestanten der Gefallenen des Ersten Weltkrieges. So weit so gut. Unseligerweise streben die Marschierer danach, als Demonstration protestantischer Vorherrschaft auf dem Rückweg durch die katholische Garvaghy Road zu ziehen, was in der Vergangenheit mehrfach zu schweren Unruhen führte. Seit mehreren Jahren ist dieser zweite Teil der Kundgebung untersagt, und wie in den Vorjahren kam es auch dieses Jahr zu Zusammenstößen zwischen den Loyalisten und den Sicherheitskräften, die mit 2000 Polizisten und Soldaten vor Ort waren. Bei den Krawallen wurden 24 Polizeibeamte verletzt, 2 davon schwer. Allen Ernstes warfen die Protestanten der katholischen Bevölkerung vor, sie würden dem gleichen paranoiden Faschismus huldigen, der die Nazis dazu trieb, die Juden im Warschauer Ghetto zusammenzupferchen. Weitere Erbitterung unter den Katholiken provozierte eine nordirlandweite Welle von Grabschändungen, an denen sich vor allem Mitglieder der neonazistischen Splittergruppe Combat 18 beteiligten. Zudem wurde in North Belfast ein katholischer Passant von einem Loyalisten überfallen und mit mehreren Messerstichen lebensgefährlich verletzt. In Coleraine eröffneten loyalistische Terroristen das Feuer in das Wohnzimmer einer katholischen Familie.

 

Mit dieser Hypothek belastet, mussten die folgenden Paraden in North Belfast zur Erinnerung an den Sieg am Boyne River anno 1690 zwangsläufig zur Eskalation führen. Auch die Entsendung von 500 Angehörigen des seit dem Bloody Sunday abgrundtief verhassten Fallschirmregiments konnte die öffentliche Ordnung nicht sicherstellen. Nicht nur die republikanischen Hardliner, sondern auch der radikale Flügel Sinn Féins und die unzufriedene Basis der Provisional IRA mobilisierten ihren Anhang. Die Märsche durch das katholische Problemviertel Ardoyne und die Springfield Road provozierten massive Zusammenstöße zwischen der aufgebrachten Bevölkerung, angereisten Randalierern und den Sicherheitskräften. Im Vorfeld des Aufmarsches Zehntausender Protestanten entschärfte die Armee eine sprengstarke Autobombe republikanischer Hardliner, die ansonsten ein Blutbad angerichtet hätte. In Ardoyne wie in der Springfield Road wurde die Polizei mit Wurfgeschossen und Benzinbomben angegriffen, insgesamt erlitten 20 Beamte Verletzungen. Führende Mitglieder von Provisional IRA und Sinn Féin sowie der nationalmarxistischen Irish National Liberation Army INLA setzten sich in North Belfast für eine Beruhigung der Lage ein und verhinderten Gewaltexzesse wie im vergangenen Jahr, als über 150 Polizeibeamte verletzt wurden. Zusammenstöße zwischen Katholiken und der Polizei wurden auch aus Ballymena/Antrim gemeldet.

 

Die spanische Justiz hat das Vermögen der separatistischen baskischen Partei Batasuna beschlagnahmt. Auf Anordnung des sattsam bekannten Ermittlungsrichters Baltasar Garzón wurden sämtliche Konten der Organisation in Spanien und Frankreich gesperrt und ihre Immobilien unter Justizverwaltung gestellt. Die spanische Regierung betreibt das Verbot von Batasuna und hat dazu das Parteiengesetz ändern lassen. Batasuna-Vertreter kommentierten treffend, es handele sich um den gezielten Versuch des spanischen Zentralismus, die politische Arbeit der radikalen Nationalisten zu paralysieren. Für die Behauptung Madrids, Batasuna sei zumindest logistisch mit der Untergrundarmee ETA und den militanten Sympathisanten verflochten, fehlt jeder Beweis. Auch bei eindeutiger Rechtswidrigkeit der Beschlagnahme dürfte ein mehrjähriger Rechtsstreit anhängig sein.

 

Die Repression hat im Baskenland zu weitverbreitetem Unmut geführt. Das baskische Parlament forderte die spanische Zentralregierung auf, innerhalb von zwei Monaten Verhandlungen aufzunehmen, um die Übertragung der Euskadi verfassungsgemäß zustehenden Autonomierechte endlich zu vervollständigen. Auch nach 25 Jahren hat Madrid der baskischen Regionalregierung geschlagene 37 ihr rechtlich zustehende Zuständigkeiten noch nicht übertragen. Zudem forderte das Regionalparlament alle Parteien, Gewerkschaften und sozialen Organisationen im autonomen Baskenland, in Navarra und in den unter französischer Verwaltung stehenden Landesteilen zu Verhandlungen auf, um einen neuen politischen Rahmen zu finden.

 

In der geschätzten "Jungen Welt" verbreitete sich Ilse Schwipper, die für ihre linksmilitanten Überzeugungen beinahe 12 Jahre in bundesrepublikanischen Gefängnissen einsaß, über die zunehmend geschichtsklitternde "Vergangenheitsbewältigung" des Linksterrorismus in der BRD: "Im Wochenendmagazin der taz vom 27./28. April erschien von Kurt Oesterle ein sechsseitiger Beitrag, der auf einem Interview mit dem ehemaligen Justizvollzugsbeamten Horst Bubeck beruhte. Er war Vollzugsbeamter im Hochsicherheitstrakt Stammheim und wollte nur für diesen sprechen. Das Interview liest sich wie eine Geschichte aus dem BKA und der Bundesanwaltschaft. Mag sein, dass Herr Bubeck all das sagte, was Oesterle schreibt. Es wird trotzdem keine andere Geschichte. Sie reiht sich bruchlos dort ein, wo die Geschichte des bewaffneten Kampfes in Deutschland entsorgt, denunziert und verdreht werden soll. Vielleicht stimmt es sogar, dass die Stammheimer Gefangenen Gudrun Ensslin, Irmgard Möller, Jan-Carl Raspe und Andreas Baader eine 'Fresszelle' hatten, nur vergaß Oesterle zu erwähnen, dass laut Strafprozessordnung und Strafvollzugsgesetz jeder Untersuchungshäftling einen wöchentlichen Einkauf tätigen kann. Jeder Gefangene kann auch Zeitungen, Bücher und einen Fernseher haben. All das muss aber in dem Text von Oesterle als Beweis herhalten, wie privilegiert die Stammheimer Gefangenen doch gewesen wären. Die Gruppe, die in Stammheim inhaftiert war, wird als chaotischer und autoritärer Haufen beschrieben - der sich dem Führer Baader unterworfen hätte, an dem kein gutes Haar gelassen wird. Weiße Folter, wie Isolationshaft auch genannt wird, wird so umdefiniert in Luxusknast.
Das Beispiel mit der »Fresszelle« habe ich gewählt, weil es mir exemplarisch erscheint. Was die Folter ausmacht, ist der Tatbestand, dass das Leben in dieser Situation weit entfernt ist. Neben all den Mitteln, die zur Schikane angewandt wurden. Davon spricht Herr Bubeck nicht. Kein Wort zu den ständigen Nacht- und Zellenkontrollen, Fliegengittern vor den Fenstergittern und willkürlichen Körperkontrollen bis zur Nacktheit. Das ständig brennende Licht wird als Privileg deklariert, ist aber nichts anderes als das Verhindern des Schlafens. Ebenso wird verschwiegen, dass es vom Berliner Forensischen Institut unter der damaligen Leitung von Prof. Dr. Rasch und Dr. Cabanis psychiatrische Gutachten gibt, aus denen eindeutig hervorgeht, dass diese Haftbedingungen krank machen. Diffamierend beschreibt Oesterle die damaligen Gruppen, die zu den Haftbedingungen Öffentlichkeitsarbeit leisteten, indem er sie als absolut abhängig von Baader darstellt. Solidarität mit hungerstreikenden Gefangenen erscheint so nicht als eigenständige Entscheidung, sondern als eine Handlung von Befehlsempfängern. Leserbriefe zu dem Artikel sind von der taz nicht gedruckt worden. Wie nicht anders zu erwarten, kulminiert der Artikel in der Aussage, dass die RAF-Gefangenen in Stammheim Selbstmord begangen haben. Da ist sich Herr Bubeck ganz sicher!
Nicht in diesem Stil, aber mit ähnlicher Aussage erschien in der taz vier Wochen später eine Beilage, die den Film »Starbuck« ankündigt. Ein Film von Gerd Conradt über Holger Meins, ebenfalls Gefangener aus der RAF. Ein Film, der sich laut Aussage des Filmemachers jeder Ideologie enthält und sich ausschließlich seinem Studienkollegen und Freund als Menschen nähern soll. Filmemacher, Fotografen, Regisseure und Schauspieler mögen diesen Film als ästhetisch gelungen betrachten. Doch die literarische Brillanz kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch dieser Film eher der Entpolitisierung dient, als dem Menschen Holger Meins gerecht zu werden. Über die Hälfte des Films befasst sich mit dem Künstler Holger Meins, beschreibt ihn als radikalen und sensiblen Menschen, um ihn dann unvermittelt als suchenden und labilen Menschen zu präsentieren, der in der autoritären Gruppe RAF endlich seine Heimat gefunden hätte. Kein Wort über die politische Entwicklung von Holger Meins, vom radikalen Filmemacher und Maler hin zu dem Menschen, der sich entscheidet, den bewaffneten Kampf aufzunehmen. (...)
Solche Artikel könnten Lacher sein, wenn es ihnen nicht so ernst wäre mit dem Umwandeln des politischen bewaffneten Kampfes in Deutschland zur Konsumware. Ob im Fernsehen oder im Kino, allerorten sind die Filmemacher dabei, wenn es darum geht, ein Publikum zu bedienen, das im sicheren Kinosessel mit Gänsehaut Bilder konsumiert, die vom vergeblichen Versuch einer Revolution zeugen sollen. Es gibt aber Jugendliche, die orientierungslos von einer Demonstration zur anderen eilen und sich von Filmen wie diesem Anregung und Anleitung versprechen. Da wird der Blick auf die Leinwand der Blick auf die »Helden«, den die Filmemacher gern bedienen. Ärgerlich ist das Ganze für diejenigen, die sich eine ehrliche Aufarbeitung wünschen, jenseits von Selbstverleugnung und Mythenbildung und keinesfalls in der Zerfleischung von Schuld und Sühne. Guerilla ist der Versuch gewesen, eine durch Amnestie korrumpierte Studentenschaft links liegen zu lassen und die Revolution zu wagen. Das können, so wie es aussieht, viele nicht ertragen."

 

Lagefeststellung – Beurteilung der Situation – Möglichkeiten des Handelns – Entschluss – Umsetzung – Kontrolle

 

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