Wochenschau

 

Die politische Wochenschau

 

vom 8. bis 14. September 2001

Schlagzeilen der Woche   zusammengestellt von Christian Klee  

 

Seit 8.45 Uhr wird zurückgeschossen

Neue Terrorangriffe auf den Irak

 

 

Zitat der Woche:
"Was da geschehen ist, ist - jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen - das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat. Daß Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nicht träumen könnten, daß Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch für ein Konzert und dann sterben. Das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts, als Komponisten. (...) Der Verbrecher ist es deshalb, weil die Menschen nicht einverstanden waren. Die sind nicht in das Konzert gekommen. Das ist klar. Und es hat ihnen niemand angekündigt, ihr könntet dabei draufgehen. Was da geistig geschehen ist, dieser Sprung aus der Sicherheit, aus dem Selbstverständlichen, aus dem Leben, das passiert ja manchmal auch poco a poco in der Kunst. Oder sie ist nichts." 
- Karlheinz Stockhausen

 

In den Vereinigten Staaten führten islamische Selbstmordattentäter mittels gekaperter Passagierflugzeuge eine terroristische Operation aus, die neue Maßstäbe auf diesem Sektor setzen dürfte. Gegen 8.45 Uhr Ortszeit (etwa 15.00 Uhr MEZ) rammte die erste Maschine einen der beiden Türme des World Trade Center in New York und gab damit den Auftakt zu einer Orgie der Zerstörung. Nachdem 18 Minuten später eine weitere Boeing in das Gebäude raste, war das entstandene Großfeuer nicht mehr einzudämmen. Der in seiner Statik zutiefst erschütterte Komplex fiel zusammen wie ein Kartenhaus und begrub Tausende unter sich. Das Ausmaß der Kollateralschäden wird erst in einiger Zeit absehbar sein. Mit 110 Stockwerken und 419 Metern Höhe war das WTC das höchstaufragende Gebäude New Yorks und das Wahrzeichen nicht nur der Stadt, sondern auch der weltwirtschaftlichen Dominanz des Westens. Im WTC waren u.a. internationale Handelsorganisationen, Versicherungen und Banken untergebracht. Eine weitere Maschine stürzte in das Pentagon, das Nervenzentrum der amerikanischen Militärmaschinerie, und richtete auch dort erhebliche Verwüstungen an. Der geplante Selbstmordanschlag von Maschine Nummer 4 auf Camp David, Landsitz des US-Präsidenten und Symbol des Nahost-Friedensprozesses, scheiterte infolge eines Handgemenges zwischen Luftpiraten und Passagieren - das Flugzeug stürzte in Pennsylvania ab. Das Kamikaze-Kommando versetzte durch seine Operation dem Selbstbewußtsein der Vereinigten Staten und des gesamten Westens einen empfindlichen Schlag.

 

Sicherheitsexperten und der ehemalige NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark verdächtigten den seit dem Anschlag auf die US-Botschaft in Nairobi weltweit gesuchten islamischen Topterroristen Osama bin Laden, der sich seit Mitte der 90er Jahre als Gast des Taliban-Regimes in Afghanistan aufhält. Die US-Geheimdienste hatten am Tag des Anschlages keinerlei Hinweise auf den Urheber, während aus Großbritannien vom arabischen Medienunternehmer Abdel Bari Atwan gemeldet wurde, bin Laden habe einen "riesigen und beispiellosen Anschlag" auf US-Einrichtungen angekündigt. Auf die bin Laden-Karte setzten auch israelische Kreise, die ihren faschistischen Apartheid- und Terrorstaat angelegentlich gleich zum Bestandteil der westlichen Welt erklärten. Die westliche Meinungsindustrie wußte sofort von islamischen Urhebern zu berichten (ohne jeden Beweis - es gab kein Bekennerschreiben), und aus 15 von Reuters-Korrespondenten für Jubelszenen gekauften Palästinensern in Nablus wurden bei Springer rasch 3000. Gruner + Jahr steuerte jubelnde Massen in den Flüchtlingslagern im Libanon bei. Reuters legte noch einen drauf, indem man meldete, die palästinensische DFLP habe sich zu der Operation bekannt, doch die dürfte wohl kaum die entsprechende Logistik besitzen. Bereits 24 Stunden nach den Anschlägen erklärte FBI-Direktor Mueller, man habe mehrere der Attentäter identifiziert. Zudem hörten die US-Nachrichtendienste (wohl via Echelon) ein Gespräch zwischen zwei Männern und Osama bin Laden ab, in welchem dieser seine Gesprächspartner zwar zu ihrer gelungenen Operation beglückwünschte, aber jede Beteiligung seiner Organisation an den Anschlägen bestritt. Auch in der pakistanischen Presse erscheinen Dementis bin Ladens. Pikanterweise verkündete Europol-Chef Storbeck, man solle sich keinesfalls auf Osama bin Laden als Urheber der Terroranschläge fixieren. Es gebe gute Gründe anzunehmen, daß die Operation von anderen Gruppen geplant und ausgeführt wurde. Auch die Generalbundesanwaltschaft hat keinerlei konkrete Anhaltspunkte für eine Verwicklung bin Ladens.

 

Bereits im Juni hatte der ägyptische Präsident Mubarak die USA vor Terrorakten auf amerikanischem Territorium gewarnt. BND, britischer SIS, französische DGSE und Mossad gingen von Operationen in Nahost gegen die Amerikaner aus und schon gar nicht von einem Schlag dieser Größenordnung. In der Tat soll es im Frühjahr Koordinierungstreffen zwischen bin Ladens al-Quaida, dem palästinensischen Islamischen Heiligen Krieg und der äygptischen al-Gamma al-Islamiya gegeben haben, um eine gemeinsame Strategie gegenüber den USA abzustecken. Mysteriös mutet an, wie die Entführer an allen Sicherheitsvorkehrungen vorbei fast zeitgleich vier Passagiermaschinen kapern konnten. Eine über mehrere Jahre hinweg sorgfältigst vorbereitete Großoperation mit rund 50 Beteiligten soll keinem einzigen der westlichen und vor allem der nordamerikanischen Nachrichtendienste aufgefallen sein. Bereits seit Anfang August sitzt in Hannover-Langenhagen ein 29jähriger Iraner in Abschiebehaft. Der Asylbewerber hatte aus dem Gefängnis heraus 12 Telefonate mit US-Dienststellen in den Staaten und 2 mit solchen in der BRD geführt und versuchte händeringend, die Amerikaner vor einer terroristischen Großoperation zu warnen. Nachdem Informationen über den seltsamen Abschiebehäftling durchsickerten, beeilten FBI und BKA sich, den Mann für verrückt erklären zu lassen. Zudem fragt man sich, warum die nordamerikanische Luftabwehr Norad sich während der gesamten Operation im Tiefschlaf befand.

 

Die Brände in New York waren noch nicht gelöscht, als die Hatz auf die mutmaßlichen Täter begann. Die US-Streitkräfte in aller Welt wurden in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt, was übrigens auch das atomare Aufmunitionieren von Langstreckenbombern einschließt. Erstmals seit dem von den USA inszenierten Tonkin-Zwischenfall von 1964, der bekanntlich zur brutalen Eskalation des Vietnamkrieges führte, stellte der Senat dem Präsidenten der Vereinigten Staaten einen Blanko-Scheck für die unbegrenzte Anwendung militärischer Gewalt aus. Alleine für die Zwecke von Militär und Innerer Sicherheit erhält Bush 20 Milliarden Dollar. Die Streitkräfte ziehen 50.000 Reservisten ein, und 26 Luftwaffenstützpunkte in aller Welt befinden sich in Alarmbereitschaft. Die herausgeforderte Bush-Administration wird zweifelsohne ihre Position als einzige Supermacht der Welt zu verteidigen suchen - die Konsequenzen sind bislang nicht absehbar. Zunächst scheint Bush bemüht zu sein, eine weltweite Koalition gegen den islamischen Terrorismus zusammenzubringen, was auch Indien, China und Rußland nicht unangenehm sein dürfte. Nach entsprechender politischer Vorbereitung ist mit Maßnahmen gegen das islamistische Taliban-Regime in Afghanistan zu rechnen. Zwei Fliegen lassen sich so mit einer Klappe schlagen: Die Wühlarbeit der Taliban in Zentralasien hätte ein Ende, und nach den Interventionen auf dem Balkan könnten die Amerikaner sich auch in der anderen Flanke der bedeutsamen Erdöl- und Erdgasvorkommen in der Kaspiregion einnisten. Die NATO-Staaten stellten den kollektiven Verteidigungsfall gemäß Artikel 5 des Nordatlantikpaktes fest, womit sich die Verbündeten zur logistischen Unterstützung der USA verpflichteten. Die Amerikaner können nun auf die NATO-Infrastruktur zurückgreifen sowie auf Hilfsquellen ihrer Verbündeten. Die Feststellung des formellen Bündnisfalles bedarf eines separaten Beschlußverfahrens und hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn ein regelrechter Angriff aus dem Ausland nachgewiesen werden kann.

 

Professor Ernst-Otto Czempiel, prominenter Sicherheitsexperte und Friedensforscher, kritisierte in scharfer Form die Feststellung des kollektiven Verteidigungsfalles durch die NATO. Dieser hätte laut NATO-Vertrag einen Angriff auf die territoriale Unversehrtheit der USA vorausgesetzt und nicht eine terroristische Operation. Die USA wollen ihre NATO-Partner in Konflikte verwickeln, an denen diese bislang nicht beteiligt gewesen seien. Auf diese Weise bringt Washington die Europäer dazu, die Folgen einer Politik mitzutragen, auf die sie absolut keinen Einfluß haben. Zugleich diene die Erklärung des Bündnisfalles der Absicht der US-Regierung, die NATO in eine "weltweit agierende Interventionsarmee" zu verwandeln.

 

Peinlich für die bundesdeutschen Nachrichtendienste: Zwei der Attentäter hatten sich offenbar längere Zeit vollkommen unbehelligt und unerkannt in Hamburg aufgehalten. Die Generalbundesanwaltschaft leitete Ermittlungen gegen eine islamistische Terrorzelle in der Hansestadt ein. Mit Mohammed Hatta und Marwan al Sheddi stammen zwei der mutmaßlichen Selbstmordattentäter von New York aus eben dieser Untergrundzelle. Generalbundesanwalt Nehm stellte jedoch fest, es gebe keinerlei Hinweise auf eine Verbindung der Gruppe zu Osama bin Laden. Mehrere der Islamisten studierten an der TH Hamburg Elektrotechnik, Städteplanung und Schiffbau. An den Ermittlungen beteiligen sich auch Fachleute des FBI und des amerikanischen Secret Service, was ein bezeichnendes Licht auf die mangelnde Souveränität der BRD wirft. Die BRD wird seit langer Zeit von islamistischen Organisationen wie Hamas, Hizbollah oder eben bin Ladens al-Quaida als Ruhe- und Rückzugsraum genutzt. Hier leben gut 3,3 Millionen Muslime, von denen mit 2,5 Millionen der Großteil aus der Türkei stammt. Etwa 650 000 Muslime besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft.

 

Die Anschläge auf das WTC und das Pentagon ließen weltweit die Finanzmärkte erzittern und drohen, eine globale Rezession auszulösen. Der DAX brach auf der Stelle um mehr als 200 Zähler ein, und der Nemax 50 erreichte ein historisches Rekordtief. Wall Street sowie die Rohstoff- und Terminbörsen in Chicago nahmen den Handel gar nicht erst auf. Bei Bekanntwerden der Nachrichten setzten auch Lissabon und Mexico City den Handel aus. Dieser Maßnahme schlossen sich auch die lateinamerikanischen Leitbörsen und Taiwan an. Der Ölpreis schnellte um 10 % in die Höhe, und der Golfpreis erreichte einen Jahreshöchststand. Zeitlich versetzt fiel der japanische Nikkei-Index auf ein 17-Jahres-Tief; zu massiven Kursverlusten kam es auch in Hongkong und Seoul.

 

Bundeskanzler Schröder bezeichnete die Kamikaze-Operation gegen die USA als "Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt" und sicherte Washington die uneingeschränkte Solidarität der BRD zu. Keine 24 Stunden zuvor war das internationale Ansehen der Vereinigten Staaten so gering wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Binnen weniger Monate hatte die Bush-Administration internationale Abrüstungsabkommen gebrochen, die Klimakonvention von Kyoto in einen Fetzen Papier verwandelt, mit biologischen Waffen experimentiert und die Welt an den Rand eines atomaren Wettrüstens in Fernost gebracht. Die traditionell aggressive und gewalttätige Außenpolitik der USA schlug in Form des 11. September auf sie selbst zurück. In aller Welt ergeht sich die Öffentlichkeit in verlogenen Beileidskundgebungen für die Opfer der Anschläge, selbstredend auch für die nicht ganz so unschuldigen Militärs im Pentagon oder die Globalisierungsmanager und ihre Kollaborateure im WTC. Amerika steht nicht für freedom and democracy, sondern für Ausbeutung, Unrecht und Leid in allen Erdteilen. In den Vereinigten Staaten selbst vegetiert ein Drittel der Bevölkerung unter unglaublichen Bedingungen buchstäblich als menschlicher Müll im Elend vor sich hin. Die USA griffen ein kapitulationswilliges Japan mit Kernwaffen an, sie massakrierten durch Terrorangriffe in Korea und Vietnam Abermillionen, sie provozierten die Teilung Deutschlands und Europas und damit den Kalten Krieg. Spätestens seit den 20er Jahren plündern US-Konzerne mit Hilfe der US-Regierung und deren Kriegs- und Geheimdienstmaschinerie ganze Nationen aus. Die USA unterstützten die Machtübernahme krimineller Militärdiktatoren in Lateinamerika, führten dreckige Stellvertreterkriege in aller Welt, unterwarfen das irakische Volk einer völkermörderischen Hungerblockade und ließen ihre Nachrichtendienste manipulieren, fälschen und töten. Seit dem sich abzeichnenden Zusammenbruch des Ostblocks, der durch die Reagan-Administration buchstäblich kaputtgerüstet wurde, geriert man sich in Washington und New York als Herr der Welt. In dieser Funktion unterwerfen die USA seit Anfang der 90er Jahre schrittweise den gesamten Erdball der Kontrolle des Globalisierungskapitals, notfalls wird mit Waffengewalt - ironischerweise bevorzugt aus der Luft - wie auf dem Balkan oder im Nahen Osten nachgeholfen. Luftschläge mit Tausenden von Toten waren bislang eher das Brot des Irak, des Sudan, Panamas, Vietnams, Libyens, Koreas oder Jugoslawiens. Mitleid - Nein.

 

Eva Corino formulierte in der "Berliner Zeitung": "In Ruanda ist eine halbe Million Menschen niedergemetzelt worden, ohne daß das Leben in Deutschland zu einer einzigen Gedenkminute erstarrt wäre. Und wahrscheinlich sind am Dienstag ebenso viele Menschen an Hunger gestorben wie unter den Trümmern des World Trade Centers noch begraben liegen - ohne daß sich diese Nachricht zu unserem Herzen durchgefragt hätte. (...) Aber so ist das eben mit der menschlichen Natur: Die Identifikation mit den Angehörigen 'unserer' Kultur kostet weniger Mühe. Das Mitleid steigt mit der Wahrscheinlichkeit, dass uns ein vergleichbarer Anschlag treffen könnte. Die Globalisierung ist streng genommen keine globale. Die eine Welt besteht im Wesentlichen aus den Ländern Nordamerikas und Europas, während die als 'unterentwickelt' bezeichneten Völker auf einem anderen Planeten zu leben scheinen, weil sie keine eigene Homepage haben."

 

Ebenfalls in der "Berliner Zeitung" hieß es in einem namentlich nicht gekennzeichneten Beitrag: "Wir stehen bereit - aber wofür?": "Das auf den kritischen Umgang mit der Vergangenheit gegründete Selbstverständnis der Bundesrepublik wird in diesen Tagen verabschiedet. (...) Nachhaltiger als durch die jetzt eingetretene Lage hätte Carl Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung als Definition des Politischen nicht bestätigt werden können. Umso verwunderlicher ist es, daß in den öffentlichen Reaktionen kaum ein Gedanke den möglichen Konsequenzen gewidmet wird, daß die Feindschaft in den schärfsten, alles Mögliche legitimierenden Tönen beschworen wird, die Maßnahmen, zu denen Deutschland im Rahmen der Nato und des ausgerufenen 'Bündnisfalls' verpflichtet ist, aber außen vor bleiben. Die Bundesregierung sagt: Wir stehen bereit, aber wir werden schon nichts tun müssen. Die begeisterten Massen im August 1914 waren realistischer; man täuschte sich in der Dauer des Krieges, aber daß man töten werde, war wenigstens allen klar. Der Feind ist immer zweierlei, hat der allzu früh verstorbene Privatgelehrte Panajotis Kondylis geschrieben, 'er ist handfeste Existenz, wenn es um seine Bekämpfung geht, und er existiert als Schein, wenn er an den Normen des ,wahren' Seins gemessen wird'. Im ersten Fall haben wir es bislang mit Terroristen zu tun, gegen die man staatliche Geheimdienste, Polizei und möglicherweise Militär braucht. Vielleicht aber auch nur eine gute Diplomatie, insofern das von Bombardierung bedrohte Afghanistan Gespräche über die Auslieferung Bin Ladens angeboten hat.
Im zweiten Fall ist die Qualität der Feindschaft eine ganz andere. Hier ist plötzlich - da kennt man keine Parteien mehr - von 'teuflischen Kräften' (Peter Struck), vom 'Bösen schlechthin' (Friedrich Merz), vom 'Anschlag auf die offene Gesellschaft überhaupt' (Rezzo Schlauch) die Rede, ja von der 'Internationale des Schreckens' ('Die Zeit'). Diese Geißelung der Menschheits-, ja der Weltfeinde verweist auf eine gefährliche Dynamik des ethischen Universalismus der Menschenrechte. Er neigt dazu, das Sein mit dem Sollen zu vermischen, also die Gegner seiner Ausbreitung von vornherein als 'Feinde' und nicht als 'Andere' zu adressieren. Noch einmal Kondylis: 'Der Feind ist nicht nur die Negation, sondern auch der Existenzgrund des Ausbaus eigener Macht, und deshalb muss er, so paradox dies auch sein mag, gleichzeitig im Zaume gehalten und am Leben erhalten werden.'  (...)
Jetzt zieht die Stimmung jenes Sommers erneut auf, aber keiner erkennt sie wieder. Alle rücken zusammen, sogar die Atheisten gehen in die Kirche. Die zum Stereotyp gewordene These der politischen Philosophie, dass die liberalen Gesellschaften die Voraussetzungen, unter denen sie existieren, nicht selbst reproduzieren könnten, ist von einem Tag auf den anderen widerlegt: 'Auch die westlichen Gesellschaften, das zeigen einfache Verhaltensweisen, rücken auf schwer bestimmbare Weise zusammen', stellte die FAZ dieser Tage fest. Und nicht nur das: 'Es wäre zu wünschen, dass dieses Gefühl sich in einen Willen verwandelt, der zu Taten führt.' Man kann sich die Taten eines kommenden Krieges als 'Strafaktionen' schönreden. An ihrer Qualität wird das nichts ändern."

 

Bei Angriffen US-amerikanischer und britischer Kampfflugzeuge auf Ziele im Südirak sind nach einer Meldung der irakischen Nachrichtenagentur INA noch vor dem Angriff auf das WTC 8 Zivilisten getötet und 3 verletzt worden. Die alliierten Terrorbomber attackierten Bauernhöfe in der Provinz Wasit. Das US-Verteidigungsministerium hatte mitgeteilt, Ziel seien Raketenstellungen im Südirak gewesen. Es handelte sich um den vierten Luftangriff auf den Irak innerhalb einer knappen Woche. Da verwundert es kaum, daß die Nachrichten aus New York von der irakischen Führung mit Begeisterung aufgenommen wurden. Das Staatsfernsehen unterlegte die Bilder der Verwüstung mit dem Liedrefrain "Nieder mit Amerika". Saddam Hussein erklärte: "Die USA schmecken die Niederlage für ihre überaus schrecklichen Verbrechen und ihre Vergehen gegen den Willen der Völker, die nach einem freien und ehrlichen Leben streben."

 

Die Familie des 1970 unter Beteiligung der CIA ermordeten chilenischen Generals Schneider wird in den Vereinigten Staaten Strafanzeige gegen den damaligen US-Außenminister Henry Kissinger stellen. Schneider wurde seinerzeit von der CIA und chilenischen Rechtsextremisten entführt und ermordet, um den Amtsantritt des gewählten sozialistischen Staatspräsidenten Salvador Allende zu verhindern. Das Verbrechen wurde von Präsident Nixon und Kissinger angeordnet. Noch hatte man kein Glück, aber 1973 putschte sich mit Hilfe des BND, der deutschen Botschaft, der CIA und nordamerikanischer Konzerne der berüchtigte General Pinochet an die Macht. Dem Hörensagen nach streben andere Kreise einen Völkermordprozeß gegen Kissinger an, der sich für die Verbrechen der US-Regierung in Vietnam verantworten soll.

 

Israel nutzte die Gunst der Stunde für einen mit Bodentruppen ausgeführten Schlag gegen die palästinensische Stadt Jenin, wo es zu anhaltenden Häuser- und Straßenkämpfen kam. Der französische Botschafter Jacques Huntziger zog sich den Zorn der israelischen Regierung zu. Huntzinger erklärte, die Terroranschläge militanter Palästinenser in Israel könnten nicht mit denen in den USA verglichen werden. Es wäre völlig unverantwortlich, die Lage hier und die in den USA zu vergleichen, sagte der Botschafter auf einem Empfang des israelischen Staatspräsidenten Mosche Katzav zum jüdischen Neujahrsfest. Der Terror im Nahen Osten stehe in Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, was in den USA nicht der Fall sei. Erstmals seit Beginn der palästinensischen Selbstverwaltung vor 7 Jahren gingen israelische Sicherheitskräfte gegen einen Arafat-Minister vor. Der für das von Israel widerrechtlich annektierte Ostjerusalem zuständige Siad Abu Siad wurde in seinem Büro festgenommen und in das Westjordanland deportiert. Auch gegen den palästinensischen Bürgermeister Jamil Nasser soll ein Haftbefehl vorliegen. Die Opferzahlen der seit beinahe einem Jahr andauernden Al-Aqsa-Intifada in Nahost sind mittlerweile auf 170 Israelis und 648 Palästinenser angestiegen.

 

Gäbe es den Buhmann Osama bin Laden nicht, so müßte man ihn erfinden. Für Polizei, Militär und Geheimdienste der westlichen Welt kommt das Massaker von New York wie gerufen. Mit einer radikalen Kompetenzausweitung und einem dramatischen Ausbau der Repressionsapparate ist zu rechnen. Europol und die Sicherheitsbehörden in den USA planen die Aufnahme einer transatlantischen Kooperation, was vor allem den Informationsaustausch angeht. Nur drei Stunden nach dem Angriff auf das WTC kreuzten FBI-Beamte bei nordamerikanischen Internetfirmen auf, um dort ihr umstrittenes Überwachungsprogramm Carnivore zu installieren. Eartlink und AOL arbeiten eng mit dem FBI zusammen, wobei letzteres auch Auswirkungen auf die Informationssicherheit in Europa haben wird. Bundesinnenminister Schily und sein bayrischer Amtskollege Beckstein gaben schon einen kleinen Vorgeschmack des Kommenden, indem sie eine Beteiligung der Bundeswehr an der Terrorbekämpfung, Fingerabdrücke in den Personalausweisen, erweiterte Zugriffsmöglichkeiten der Polizei auf Datenbestände oder die grundsätzliche Registrierung einreisender Ausländer durch die Sicherheitsbehörden andachten. Beckstein ging noch einen Schritt weiter und forderte die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrates als Addition zum diskreten Bundessicherheitsrat, dem Gremium der für die innere und äußere Sicherheit der BRD relevanten Minister. Die Bundesregierung wird eine Aufstockung der Etats von Verfassungsschutz, BND, MAD und BKA erörtern. In den 70er und 80er Jahren die RAF, in den 90ern die "Neonazis" und im beginnenden 21. Jahrhundert eben der Islamismus - ewig die alte Leier.

 

Kommentatoren, Wissenschaftler und Ideologen kramten angesichts der Ereignisse in New York Samuel P. Huntingtons "Clash of Cultures" aus den Schubladen hervor. Huntington schrieb seinerzeit, nicht Politik, Wirtschaft oder Ideologien seien die Ursachen für die heraufziehenden Konflikte des 21. Jahrhunderts, sondern die Unterschiede zwischen den Kulturkreisen der Welt. Unter den 8 kulturell bestimmten Machtblöcken Huntingtons befinden sich der westlliche, der slawisch-orthodoxe, der chinesisch-konfuzianische und eben der islamische. Zwischen dem westlichen und dem islamischen Kulturkreis spielt sich seit 1400 Jahren eine Konfrontation ab, die auf die universalistische Natur der beiden Glaubensbekenntnisse zurückzuführen sei. Gleichzeitig wurzele das Konfliktmuster im Unterschied zwischen dem islamischen Konzeot einer Religion und Politik vereinenden Lebensform und dem westlich-christlichen Konzept von den getrennten Reichen Gottes und des Kaisers. Infolge der Säkularisierung im Westen greifen Muslime laut Huntington diesen an, weil er sich zu gar keiner Religion mehr bekenne. "In muslimischen Augen sind Laizismus, Irreligiosität und daher Unmoral des Westens schlimmere Übel als das westliche Christentum, das sie hervorgebracht hat." Für die Zuspitzung des Konfliktes in den letzten Jahren gebe es fünf Gründe: Das Bevölkerungswachstum in moslemischen Ländern habe eine riesige Zahl arbeitsloser junger Menschen hervorgebracht, die sich für die "islamistische Sache" einspannen ließen. Zudem sei die Gewissheit der eigenen Überlegenheit gegenüber dem Westen stark gewachsen. Für enorme Verbitterung unter Muslimen sorgten die gleichzeitig betriebenen Bemühungen des Westens, seine wirtschaftliche und militärische Hegemonie in der Welt aufrechtzuerhalten. Eine wichtige Rolle spielt natürlich auch der Zusammenbruch des Kommunismus: "Er beseitigte einen gemeinsamen Feind des Westens und des Islam und ließ beide als die Hauptfeinde des jeweils anderen zurück." Und schließlich haben der wachsende Kontakt und Austausch zwischen den beiden Kulturkreisen nicht größeres Verständnis füreinander bewirkt, sondern vielmehr auf beiden Seiten ein neues "Gefühl für die eigene Identität" hervorgebracht.

 

In Mazedonien sträubt sich die Staatsführung gegen eine von EU und NATO angedachte internationale Folgemission. Selbst der als gemäßigt geltende Staatspräsident Trajkovski zürnte, der einzige Garant eines stabilen Friedens seien mazedonische Sicherheitskräfte und keine internationalen Verbände. Auch ohne ein internationales Mandat haben sich die 1900 britischen Soldaten der Task Force Harvest im Raum Tetovo zwischen die Kriegsparteien geschoben und die Region faktisch in einen albanischen und einen mazedonischen Bereich aufgeteilt. Um Mazedonien die weitere Anwesenheit der Interventionstruppen nach Ablauf des Mandats am 26. September erträglicher zu machen, stellte die EU eine Beteiligung Rußlands und der Ukraine in Aussicht. Der von den USA und ihren europäischen Vasallen geplante Energiekorridor durch den Balkan hat einen Namen: Seit 1995 ist geplant, den Korridor 8 mit modernen Routen für Kommunikation, Energietransport und Verkehr von der bulgarischen Schwarzmeerküste durch Mazedonien und das Kosovo an die albanischen Adriahäfen auszubauen. Man beachte den zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der direkten westlichen Interventionen auf dem Balkan. Die multinationalen Konzerne halten sich jedoch noch zurück, bis für stabile Verhältnisse gesorgt ist.

 

In Syrien stellte die regierende Arabische Sozialistische Baath-Partei klar, daß sie ihre politische Führungsrolle auch weiterhin beansprucht. Auf Anordnung des Innenministeriums wurden die Menschenrechtsaktivisten Walid el Bouni und Kemal el Labwani, der unliebsame Abgeordnete Seif Riad und der KP-Führer Riad Turk verhaftet. Die Regierung warnte Intellektuelle und Oppositionelle vor weiteren "Angriffen auf die Verfassung und die nationale Einheit". In Damaskus soll bereits eine schwarze Liste mit den Namen von 30 als regierungsfeindlich eingestuften Intellektuellen kursieren.

 

Bei den norwegischen Parlamentswahlen zeichnete sich ein Regierungswechsel ab. Die regierenden Sozialdemokraten erlitten ein verheerende Wahlniederlage und fielen unter Verlust von 10,6 Prozentpunkten und 22 Mandaten auf 24,4 % der Stimmen und 43 Sitze zurück. Damit haben die Sozialdemokraten ihr schlechtestes Ergebnis seit 1924 eingefahren. Klarer Wahlsieger und zweitstärkste Partei sind die Konservativen mit 21,2 %, deren Parteichef Jan Petersen die Bildung eines Bürgerblocks ankündigte. Die rechtsgerichtete Fortschrittspartei fiel nach einer Reihe von Skandalen auf 12,4 % zurück, gefolgt von der Christlichen Volkspartei mit 11,8 %. Die Sozialistische Linkspartei konnte sich von 6 auf 16 % steigern.

 

Bei den Kommunalwahlen in Niedersachsen setzte sich der Trend zum Wahlboykott fort. Mit 56,2 % hat die Wahlbeteiligung auch hier einen historischen Tiefstand erreicht. In Delmenhorst gingen gar nur 39,5 % der Wahlberechtigten an die Urne. Die CDU behauptete sich als stärkste Kraft auf kommunaler Ebene und verbesserte sich um 0,9 Prozentpunkte auf 42,6 %. Die SPD verfehlte ihre ehrgeizigen Ziele und mußte sich mit 38,6 % gescheiden. Nach Verlust von 2,3 Prozentpunkten behaupteten die Grünen sich mit 6,7 % nur noch knapp als drittstärkste Kraft vor der FDP, die von 4,6 auf 6,2 % zulegte. Örtliche Achtungserfolge gelangen der PDS mit 2,2 % in Emden (wo übrigens die SPD katastrophale Verluste von 16,5 Prozentpunkten hinnehmen mußte), mit 3,9 % in Oldenburg-Stadt, mit 2,6 % in Braunschweig und mit 1,4 % in Wolfenbüttel. Die DKP erreichte in ihrer "Hochburg" Nordhorn 3,1 %. Die einzig nennenswerten "rechten Ergebnisse" sind dasjenige der Republikaner mit 1,6 % in Delmenhorst und der Kreistagsabgeordnete der Deutschen Partei in Harburg, ansonsten erreichte man nur unbedeutende Ergebnisse auf unterer Ebene. Bei den gleichzeitigen Direktwahlen der Bürgermeister und Landräte konnte die SPD sich allerdings in der Landeshauptstadt Hannover im ersten Wahlgang deutlich behaupten.

 

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