Wochenschau

 

Die politische Wochenschau

 

vom 17. bis 23. November 2001

Schlagzeilen der Woche   zusammengestellt von Christian Klee  

 

Seelische Deformationen bei Jugendlichen

Zum Thema Aussageverweigerung

 

Zitat der Woche:
„Wir erkennen, daß jedes Wort von nationaler Befreiung unter Beibehaltung des kapitalistischen Systems eine Lüge ist.“
- Richard Scheringer

 

Einer Langzeitstudie des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München zufolge wurde das Ausmaß seelischer Deformationen bei Jugendlichen weitgehend unterschätzt. Unter den 14- bis 17-Jährigen haben bereits 55 % mindestens einmal unter Depressionen, pathologischen Angstzuständen, psychosomatischen Erkrankungen und Störungen, einer Sucht bzw. Bulimie oder Magersucht gelitten. Bei 29 % aller Jugendlichen wurde eine Abhängigkeit von Nikotin, Alkohol oder illegalen Drogen diagnostiziert, bei 28 % lag eine Angststörung vor, bei 14 % eine Depression. Oftmals wiesen die Jugendlichen mehr als nur eine psychische Störung auf. Ein Leben in Freiheit, Wohlstand und Würde.

 

Bei den Parlamentswahlen in Dänemark erlitt die sozialdemokratische Regierung eine schwere Niederlage und muss in die Opposition geben. Damit setzt sich der seit einiger Zeit innerhalb der EU zu beobachtende Rechtstrend weiter fort. Wahlsieger ist die nationalliberale Venstre mit 31,3 % der Stimmen und 56 Sitzen, die gemeinsam mit den Konservativen (16 Mandate) ein neues Kabinett bilden wird. Die Sozialdemokraten fielen auf 29,4 % zurück. Die rechtsgerichtete Dänische Volkspartei steigerte sich auf rund 12 % der Stimmen (12 Mandate) und steht der Mitte-Rechts-Regierung als Tolerierungspartner zur Seite. Nach einem der härtesten Wahlkämpfe in der jüngeren dänischen Geschichte ist damit zu rechnen, dass die neue Regierung vor allem hinsichtlich der Einwanderungspolitik und der Entwicklungshilfe eine restriktive Gangart einschlagen wird.

 

Bei den Verhandlungen über eine internationale Biowaffenkonvention in Genf lehnten die USA erwartungsgemäß eine derartige Beschränkung ihres monströsen Vernichtungspotentials ab. Der Vertreter Washingtons trat im Gegenteil die Flucht nach vorne an und beschuldigte Nordkorea, den Iran, Libyen, den Sudan und Syrien und vor allem den Irak, B-Waffen zu entwickeln oder schon zu besitzen. Hierbei bediente der US-Vizeaußenminister Bolton sich eines höchst aggressiven Umgangstones, so dass militärische Aktionen der USA gegen die genannten Länder und vor allem den Irak nicht ausgeschlossen erscheinen. UN-Beobachtern erschienen die Vorwürfe (abgesehen von Bagdad) als mehr oder weniger fadenscheinig. Die übrigen Konferenzteilnehmer wiesen auf die von den USA betriebenen B-Waffen-Projekte wie nicht zuletzt die Experimente mit Milzbranderregern hin.

 

Die Massenarmut in der BRD weitet sich angesichts von Arbeitslosigkeit und Verschuldung zusehends aus. Gegenüber dem Vorjahr sind die Zwangsversteigerungen von Immobilien auf den historischen Rekordwert von 80.000 mit einem Verkehrswert von 30,9 Milliarden DM gestiegen. Alleine in Brandenburg kam es im Jahr 509.000 zu Zwangsvollstreckungen gegen Schuldner; in den ersten Monaten des laufenden Jahres waren es bereits 254.000. Seit Jahresanfang wurden bereits mehr als 33.000 Firmeninsolvenzen registriert, was ebenfalls einem Rekordwert entspricht. Alleine im Juli meldeten 2760 Unternehmen Zahlungsunfähigkeit an, was einer Zunahme von 12 % gegenüber dem Vorjahresmonat entspricht. Betroffen waren 15.000 Arbeitsplätze. Insgesamt vernichteten Firmenpleiten im Jahr 2001 bis zu 500.000 Arbeitsplätze und richteten einen volkswirtschaftlichen Schaden von 70 Milliarden DM an. Die Zahl der Verbraucherinsolvenzen nahm gegenüber dem Vorjahr um ein Drittel zu. Auch die Obdachlosigkeit ist weiterhin virulent: Alleine in Berlin gibt es neben über 6500 registrierten Obdachlosen in Notunterkünften bis zu 4000 ungemeldete Fälle. Jedes dritte Kind alleinerziehender Elternteile, also in der Regel alleinerziehender Mütter, wächst in Armut auf. Bei „intakten“ Familien sind es immerhin noch 6,3 % aller Kinder. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ist die Neuschaffung von Arbeitsplätzen in der BRD erstmals seit 1997 zum Stillstand gekommen. Im dritten Quartal 2001 wurden 38,9 Millionen Erwerbstätige gezählt – nur 0,05 % mehr als im Vorjahreszeitraum und ein mehr als deutliches Zeichen für die kommende Rezession. Der Zuwachs des BIP im dritten Quartal ist mit 0,1 % ebenfalls der geringste seit 1997. Im Winter wollen 23 % aller Betriebe im Westen und jeder dritte Betrieb im Osten Personal abbauen.

 

Die Nordallianz tritt offen dafür ein, dass keinerlei westliche Koalitionstruppen mehr nach Afghanistan entsandt werden. Hintergrund sind die Interessen der um Macht, Einkünfte und Einfluß ringenden Warlords, die sich beim Wettrennen um das Erbe des Taliban-Regimes nicht in ihre Angelegenheiten hereinreden lassen wollen. Folgerichtig ist die Allianz nur bereit, kleinere internationale Kontingente zu dulden, die zur Sicherung humanitärer Hilfsaktionen zum Einsatz kommen sollen. Eine größere Luftlandeoperation britischer Truppen, welche die Verkehrsverbindungen zwischen Mazar-i-Sharif und Kabul unter Kontrolle bringen und in der afghanischen Hauptstadt für geordnete Verhältnisse sorgen sollte, wurde angesichts unverhohlener Drohungen der Nordallianz abgesagt. Zwischen Großbritannien und den USA kam es zu ernsten Verstimmungen, da London sich an humanitären Maßnahmen und einer sinnvollen Aufbaupolitik interessiert zeigt, während Bush lieber weiterbomben lässt und die Jagd auf Osama bin Laden mit eigenen Bodentruppen einleitet. Fünf Jahre nach seiner Vertreibung durch die Taliban kehrte Burhanuddin Rabbani, Präsident Afghanistans, nach Kabul zurück und ließ sich von den Truppen der Nordallianz zum Staatsoberhaupt ausrufen. In einer Rundfunkansprache forderte er die Beilegung ethnischer Konflikte, den Aufbau einer unabhängigen repräsentativen Zentralregierung ohne Einmischung von außen und die Rettung der islamischen Identität. Zugleich kündigte der greise Exkönig Mohammed Zahir Shah seine baldige Heimkehr an – der Machtkampf ist voll entbrannt. Um eine Eskalation zu verhindern, wurde für die kommende Woche eine von westlichen Politikern, UN-Vertretern und afghanischen Führern beschickte Konferenz auf dem Bonner Petersberg anberaumt. Rabbani erklärte die Konferenz schon von vornherein für unbedeutend – die eigentliche Entscheidung werde in Afghanistan getroffen. Innerhalb der Nordallianz zeichnen sich bereits erste Zerwürfnisse ab, da die Milizenführer der kleineren Völker sich gegen die Dominanz der Tadschiken zur Wehr setzen. Diese Rivalitäten stürzten Afghanistan bereits einmal, nach dem Sieg der Nordallianz über die prosowjetische Regierung in Kabul, ins Chaos.

 

Das von Nationalisten aus den Benelux-Staaten gebildete Komitee „Nationalisten gegen Globalisierung“ ruft für den 15. Dezember zur Teilnahme an seiner dritten Antiglobalisierungsdemo in Brüssel auf. Im Aufruf erklären die Mitgliedsorganisationen den Nationalismus zur einzig wahren Alternative zur kapitalistischen Globalisierung. Die linksgerichteten Globalisierungsgegner hätten keinerlei echtes Gegenmodell und würden lediglich für ihre eigene Version des Globalisierungsprozesses eintreten: Den Internationalismus. Hinter der von „Nationalisten gegen Globalisierung“ ausgesprochenen Verurteilung der Krawalle von Davos, Seattle, Göteborg und Genua scheint uns jedoch ein gerüttelt Maß an kleinbürgerlichem Konservatismus zu stecken. Dennoch die Kontaktadressen: http://www.strijd.be (Niederländisch) und http://luttes.be (Französisch).

 

In einem Geschäft in Newry richtete eine von der Real IRA plazierte Sprengladung einigen Sachschaden an, ein Autobombenanschlag in Armagh City wurde durch die Entdeckung des bereits präparierten Fahrzeuges vereitelt. Von den mittlerweile 8 im Rahmen der jüngsten Razzien gegen republikanische Hardliner in England verhafteten Iren wurden 6 wieder auf freien Fuß gesetzt. Gegen 3 von ihnen wurden Ermittlungen wegen Betruges und Urkundenfälschung eingeleitet. Die restlichen beiden Verhafteten kamen jedoch in Untersuchungshaft und müssen mit einer Anklage wegen Beteiligung an diversen Bombenanschlägen in London und Birmingham rechnen. Auch der gescheiterte Anschlag in Armagh führte zu einer Untersuchungshaft. Es ist beinahe überflüssig, zu erwähnen, dass die im Sommer ausgebrochenen Zusammenstöße zwischen republikanischen und loyalistischen Parteigängern in North Belfast auch diese Woche anhielten. Hierbei wurden beinahe 20 katholische Wohnhäuser mit Brand- und Rohrbomben angegriffen. In Derry trieben der UDA nahestehende loyalistische Gruppen mit Morddrohungen gegen katholische Bauarbeiter die angestrebte ethnische Säuberung weiter voran.

 

PDS-Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch erklärte zum Nürnberger SPD-Bundesparteitag sehr zutreffend: „Die  SPD hat bei der Debatte zu den zentralen Fragen der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik auf ihrem Nürnberger Parteitag keine konkreten  Konzepte vorgelegt. Der beschlossene Leitantrag ‚Sicherheit im  Wandel’  enthält  viel  politische  Lyrik,  aber  keine schlüssige Reformstrategie  wie  die Herausforderungen der Zukunft sozial gerecht beantwortet werden. Die  Reden  von Generalsekretär Müntefering, Finanzminister Eichel und Arbeitsminister Riester blieben im Allgemeinen stecken und redeten die Situation schön. Die Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit wieder an die Vier-Millionengrenze heranreicht, kann nicht dadurch weggeredet werden, dass eine Million neue Arbeitsplätze - vorwiegend im Niedriglohnbereich - geschaffen  wurden. Es ist eine Illusion, dass durch die Einstellung von 2000 zusätzlichen Arbeitsvermittlern dieses Problem auch nur annähernd gelöst werden könnte. Bei der Finanz- und Steuerpolitik ist von der SPD nach wie vor nicht an eine Umverteilung von oben nach unten gedacht. Die Rufe einiger Delegierter nach mehr sozialer Gerechtigkeit u.a. durch Erbschafts- und Vermögenssteuern verhallten ungehört. Gesundheitsministerin Ulla  Schmidt konnte kein überzeugendes Konzept gegen die Zwei-Klassen-Medizin vorlegen. Darüber täuschte auch nicht ihre Absichtserklärung hinweg, dass es keine Aufteilung in Grund- und Wahlleistungen geben dürfe. Schließlich haben mehrfach führende  SPD-Politiker die dramatische wirtschaftliche Situation in Ostdeutschland vereinfachend lediglich auf den Abbau von Überkapazitäten der Bauwirtschaft zurückgeführt. Doch wird angesichts der komplizierten Situation die langfristige Sicherstellung der Finanzmittel für den Osten allein nicht ausreichen, ein Wegkippen des Ostens zu verhindern. Die  PDS  wird  die  Herausforderung  im  Vorfeld der Bundestagswahlen annehmen, weitere Reformvorschläge für soziale Gerechtigkeit, den Abbau der Arbeitslosigkeit sowie für den Osten Deutschlands vorzulegen oder zu präzisieren.“

 

Im Vorfeld des Nürnberger Bundesparteitages formierte sich auch innerhalb der SPD Widerstand gegen Schröders reaktionären Kurs. Rund 170 Persönlichkeiten aus Gewerkschaften, Kultur und Medien kritisierten die Politik der Bundesregierung massiv und forderten eine neue Reformperspektive. Selbst überzeugten Anhängern der Koalition sei nicht mehr ersichtlich, was deren Politik auf den Feldern Wirtschaft, Bildung, Steuern oder Gesundheit noch von der Politik Kohls unterscheide. Das gelte noch mehr für die Fragen von Militär und Sicherheit. Gefordert wurde eine Politik, „die dem dominanten Neoliberalismus und der schleichenden Militarisierung in Theorie und Praxis entgegentritt“. In der Außenpolitik müsse Europa sich den „hegemonialen Ansprüchen“ der USA entgegenstelllen. Zu den Erstunterzeichnern gehörten der Schriftsteller Günter Grass, Ottmar Schreiner als Chef der SPD-Arbeitnehmerverbände und Niels Annen als Bundesvorsitzender der Jusos. Kritik kommt auch von der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner DFG-VK in Gestalt ihres Bundessprechers Jürgen Grässlin (der unlängst den Grünen den Rücken kehrte): „Mit der weiteren Steigerung des Rüstungsetats und der Stagnation beim Entwicklungshilfehaushalt auf einem erbärmlich niedrigen Niveau zeigt sich, wer im Land das Sagen hat.“ Während die Armut in weiten Teilen der Welt zementiert werde, würden in den Konzernzentralen bei DaimlerChrysler und Heckler & Koch die Sektkorken knallen. Die Bundesregierung sei zur Marionette der Rüstungsindustrie verkommen.

 

Nach dem E-Mail-Überwachungsprogramm Carnivore und dem für die Übermittlung der Tastaturanschläge eines Users benutzten Programm KLS wird das FBI in absehbarer Zeit mit Magic Lantern ein neues Projekt vorstellen. Hierbei wird ein Trojaner eingesetzt, um auf der Festplatte heimlich eine Tastaturüberwachungs- oder eine Keyloggingsoftware zu installieren. Damit könnte das FBI die gesamte Aktivität an diesem Rechner überwachen und beispielsweise die Kennwörter in Erfahrung bringen. Das Programm lässt sich in der Mail von einem eingeweihten Freund oder Verwandten des Verdächtigen mitschicken, die Behörde kann aber auch Sicherheitslücken beim Computer des Verdächtigen aufspüren und es dort direkt aus der Ferne installieren. Im Rahmen des Projektes Cyber Knight errichtet das FBI derzeit zudem eine Datenbank für alle mit Carnicore oder ähnlichen Systemen aus E-Mail-Kommunikation, Chaträumen und Instant Messagern gewonnenen Erkenntnisse. Cyber Knight sortiert die Daten, setzt sie zueinander in Verbindung und ist auch für die Zuordnung bekannter Schlüssel zuständig. McAfee als Hersteller von Antivirensoftware hat bereits angeboten, seine Produkte für Magic Lantern durchlässig zu machen.

 

Das Gemeinsame Antirepressionsbündnis Berlin GARB verbreitete sich mit einigen interessanten Ausführungen zum Thema Aussageverweigerung, die angesichts wachsenden Verfolgungsdrucks infolge der verschärften Gesetzgebung, zunehmender Aufweichungserscheinungen bzw. nicht auszurottender Dummheit im Umgang mit Vertretern der staatlichen Repressionsorgane auszugsweise (und um die üblichen stilistischen Schwächen bereinigt) wiedergegeben werden sollen: „Leider ist es so, dass Aussageverweigerung zu einer individualistischen Entscheidung geworden ist. Der Verlust eines Gefühls kollektiver Stärke trägt dazu maßgeblich bei. Es ist keine Überlegung mehr, für ein Prinzip in den Knast zu gehen. (…) Durch die enorme Repression in den 70er und 80er Jahren war die Beschäftigung mit Knast viel intensiver, was man auch an Büchern wie ‚Ratgeber für Gefangene’ oder an Zeitschriften wie der leider eingestellten ‚Durchblick’ sehen kann. Es ist aber immer noch notwendig, die Knastsituation theoretisch durchzuspielen und Konsequenzen und Verfahrensweisen mit Freunden zu besprechen. Das mindert das lähmende Gefühl von Unsicherheit unter den einschüchternden Umständen im Knast. (…) Wie gehen wir in der Situation direkter oder indirekter persönlicher Betroffenheit mit Aussageverweigerung um? (…) Den Gefangenen in Genua wurde von verschiedenen Einzelpersonen und Gruppen zu Einlassungen geraten…Einlassung ist ein juristischer Begriff und verdeckt, wie viele juristische Wörter, das eigentliche Geschehen. Einlassungen sind immer, außer bei einem Prozess, erst einmal Antworten auf Fragen. Meist sind dies belanglose Fragen, aber was diese bestätigen oder nicht, kann man nicht wissen. Auch gibt es keinen, der sagen kann, dass er die konkrete Verhörsituation überblicken und deshalb das Verhör rechtzeitig abbrechen kann. In dem Moment, indem Fragen nicht mehr beantwortet werden, kann dies von den Bullen oder der Staatsanwaltschaft als Beweis angesehen und gegen einen verwendet werden. Was bis zu dem Abbruch des Verhörs bereits bestätigt oder gesagt wurde, weiß außerdem keiner. Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen einem Verhör und dem eigentlichen Prozess. Bei einem Prozess kann die Einlassung aus einem vorgelesenen Statement (Prozesserklärung) bestehen, das am Anfang oder Ende vorgetragen wird. Mensch kann, muss aber keine Fragen beantworten. Der größte Unterschied besteht allerdings darin, dass man bei einem Prozess weiß, welche Vergehen man begangen haben soll und sich konkret dazu äußern kann, während sich bei einem staatsanwaltschaftlichen Verhör, bei den Bullen oder dem Vernehmungs-/Haftrichter die Beschuldigungen ändern können. Man weiß nicht, welche Vorwürfe letztendlich zu Anklagen werden. Gerade in diesem Punkt ist die Rolle der Anwälte in Genua ist ein großes Problem gewesen. Uns wurde mehrfach gesagt, dass diese immer wieder auf Aussagen drängten. Dabei wurde auch immer wieder gesagt, dass Mensch damit Kooperationsbereitschaft zeigt. Dazu gibt es eigentlich nur zu sagen: Es ist nicht Sache der Linken, kooperationsbereit einem Staat und seinen Rechtssystem gegenüber zu sein. Oft vergessen wird, dass Anwälte eine bestimmte Funktion innerhalb des Rechtssystems einnehmen. (…) Mit dem, was in Göteborg und Genua passiert ist, wird es zur Normalität, Aussagen zu machen. Diese Praxis untergräbt nicht nur ein politisches Prinzip, sondern schwächt die Position von Leuten, die die Aussage verweigern und schafft die Stimmung, Aussagen seien normal. Wenn alle, die ‚unschuldig’ sind, Aussagen machen, wird Aussageverweigerung faktisch zu einem Schuldgeständnis. Sicher, Aussageverweigerung ist oft der schwerere Weg, besonders wenn man (teilweise bis zum Prozess) in U-Haft sitzt, und führt i. A. nicht dazu, dass man schnell entlassen wird, wie die lange U-Haft der wegen RZ-Verdachts sitzenden Genossen  zeigt. Trotzdem, jede Aussage oder Einlassung die einer von uns macht, trägt dazu bei das Recht auf Aussageverweigerung, das juristisch jedem zusteht, immer mehr in seiner Funktion zu untergraben.“

 

Nach 12 Wochen eines beinahe unerträglichen Spießrutenlaufes haben die loyalistischen Anwohner der katholischen Holy Cross-Grundschule in North Belfast ihre „Protestaktionen“ eingestellt. Diese bestanden daraus, dass Vertreter der protestantischen Community auf dem Schulweg befindliche Kinder im Alter von 4 bis 10 Jahren auf das Unwürdigste beschimpften, mit Wurfgeschossen bis hin zu Rohrbomben bedachten und mit Exkrementen bombardierten. Der Lösung des Konfliktes gingen Verhandlungen zwischen dem nordirischen Regierungschef David Trimble und Billy Hutchinson von der loyalistischen Progressive Unionist Party einer- und Vizeministerpräsident Mark Durkham (SDLP) sowie Gerry Kelly (Sinn Féin) andererseits voraus. Neben dem verheerenden weltweiten Medienecho auf die Protestaktionen, mit denen die Protestanten sich mehr oder weniger selbst ins Abseits stellten, spielten auch Zusicherungen der nordirischen Regierung eine Rolle. Das Kabinett erklärte sich bereit, den berechtigten sozialpolitischen Forderungen der Protestanten Gehör zu schenken.

 

Im Gefängnis von Portlaoise, Republik Irland, kam es zu schweren Übergriffen der Wachmannschaften auf die republikanischen Kriegsgefangenen. Seit geraumer Zeit verweigern die Justizvollzugsbehörden der Republik den republikanischen Hardlinern die traditionellen Sonderrechte wie Urlaub auf Ehrenwort aus familiären Anlässen. Nachdem man einem ohnehin in 6 Wochen zur Entlassung anstehenden Kriegsgefangenen der Real IRA die Bitte abschlug, seine erkrankte neugeborene Großenkelin im Krankenhaus zu besuchen, verweigerten 40 Insassen von RIRA und INLA die Rückkehr in ihre Zellen und griffen zum Mittel des Sitzstreiks. Die Stimmung war ohnehin gereizt, da in der Vorwoche der Kriegsgefangene Kevin Murray infolge verweigerter medizinischer Behandlung starb. Die durch Überfallkommandos verstärkten Wachmannschaften prügelten die Gefangenen in ihre Zellen zurück, und anfangs verweigerte die Gefängnisleitung gar Angaben über Verletzungen. Als Strafmaßnahme verhängte man über alle republikanischen Gefangenen 60 Tage Isolation von der Außenwelt, verschob die Freilassungen wegen guter Führung um 14 Tage und ordnete 16 Stunden Einschluss bei Deaktivierung der Heizungen und des Lichtes an. Sämtliche persönlichen Gegenstände wurden aus den Zellen entfernt. Alle dissidenten republikanischen Organisationen wie Irish Republican Socialist Party (INLA), Republican Sinn Féin (Continuity IRA) und 32 County Sovereignty Movement (RIRA) sowie das Irish Political Status Committee riefen zu einer Protestkundgebung vor der irischen Botschaft in London auf, um für die Anerkennung der Kriegsgefangenen als politische Häftlinge zu demonstrieren. Während die nominell das Karfreitagsabkommen anerkennende INLA und die Provisional IRA Vergünstigungen für ihre Gefangenen einhandeln konnten, werden diese den nicht im Waffenstillstand befindlichen Gruppen verweigert. Es handelt sich um den ersten größeren Machtkampf zwischen einer Gefängnisleitung und den Kriegsgefangenen seit den 80er Jahren, wenn man vom kürzlichen Hungerstreik der Continuity IRA absieht.

 

Zur weiteren Destabilisierung der Lage in Zentral- und Südasien trug das Scheitern des seit 4 Monaten andauernden Waffenstillstandes in Nepal bei. Die maoistischen Rebellen des Himalaya-Königreiches nahmen ihre Operationen gegen Polizei, Militär und reaktionär-feudalistische Verwaltung mit einer wahren Großoffensive wieder auf. In mehr als 20 der 75 nepalesischen Distrikte kam es zu heftigen Kampfhandlungen, bei denen die Partisanen erhebliche Erfolge verzeichnen konnten. In der Landeshauptstadt Kathmandu verübten Untergrundkämpfer einen Bombenanschlag auf die örtliche Coca Cola-Fabrik. Rebellenführer Pushpa Kamal Dahal alias Prachand erklärte, man habe den Feldzug zur Befreiung des nepalesischen Volkes wieder aufgenommen, nachdem die Guerrilla durch Faschisten und Antinationalisten provoziert wurde. Die Zeit des Waffenstillstandes nutzten die Rebellen, um sich als Volksbefreiungsarmee mit 25.000 Kämpfern zu reorganisieren und zudem in ernstzunehmender Stärke in bislang ruhige Landesteile einzusickern. Die Volksbefreiungsarmee, diverse Oppositionsgruppen und Volkskomitees in den befreiten Gebieten schlossen sich zum Volksrat als politischer Führung der Aufstandsbewegung zusammen. Der Volksrat erklärte die Schaffung der demokratischen Volksrepublik Nepal zum Kriegsziel, welche die Herrschaft des parasitären Königshauses ablösen solle. Der König von Nepal musste angesichts der kritischen Lage den Notstand ausrufen und die Armee einsetzen, da die Polizeikräfte des Aufstandes nicht mehr Herr werden. Die Krone mobilisierte 50.000 Mann, erklärte die Untergrundkämpfer zu Terroristen, bedrohte jeden von ihnen mit lebenslanger Haft und suspendierte die Grundrechte größtenteils. Zudem ging ein Hilfeersuchen an die indische Regierung ab, und auch mit US-Waffenlieferungen ist zu rechnen.

 

In der kubanischen Hauptstadt La Habana ging unlängst eine von 800 Delegierten besuchte Konferenz gegen die von den USA angestrebte panamerikanische Freihandelszone FTAA zu Ende. An der Tagung nahmen mehr als 230 Organisationen teil, die in den Bereichen Arbeitsschutz, Sozialpolitik, Kommunalarbeit und Minderheitenschutz tätig sind. Die vor allem von US-Großkonzernen geforderte FTAA hat die Zusammenfassung des amerikanischen Doppelkontinents und der Karibik in einer riesigen Freihandelszone nach dem Vorbild der NAFTA zum Ziel. In diesem Falle wäre jedes lateinamerikanische Land der übermächtigen US-Industrie hilflos ausgeliefert. Ein Delegierter erklärte die FTAA gar zu einer neuen Monroe-Doktrin, welche den US-Konzernen die Möglichkeit gebe, praktisch jede Volkswirtschaft in der ganzen Region durch Monopolstellung und Produktivitätsvorteil zu annektieren. Der kubanische Ökonom Osvaldo Martínez formulierte, es handele sich um den Versuch, einen Haifisch in einen Sardinenschwarm zu integrieren. Washington dränge massiv auf die FTAA, um Lateinamerika gewissermaßen als Schockabsorber für die im Norden drohende Wirtschaftskrise (die größte seit 1945) zu nutzen. Die US-Konzerne könnten so die billigen Arbeitskräfte im Süden nutzen und auf von kollaborierenden Regierungen gewährte günstige Investitionsbedingungen zurückgreifen. Allgemein herrschte die Ansicht vor, die FTAA sei gleichbedeutend mit dem Abbau von Tarifverträgen, Arbeitsgesetzgebung, Umweltschutz und Investitionshemmnissen, die allesamt den nordamerikanischen Proftinteressen im Wege stehen. Lateinamerika steht mit dem Rücken zur Wand: Im Rahmen der kapitalistischen Globalisierung schnellte die ländliche Kinderarmut in Ecuador seit 1995 von 40 auf 78 % empor. Im ersten Halbjahr 2000 waren bereits 600.000 Ecuadorianer zur Auswanderung gezwungen, um nicht zugrunde zu gehen. Nach dem Beitritt zur NAFTA 1994 ist die Getreideproduktion des ehemaligen Getreidexporteurs Mexiko unter dem Druck der amerikanischen und kanadischen Konkurrenten faktisch zusammengebrochen. Gegenmaßnahmen der Regierung scheiterten am Liberalisierungswahn der WTO. Ganz zu schweigen von den virulenten Finanzkrisen in Argentinien und Brasilien. Vor allem die kubanischen Vertreter forderten den Zusammenschluß aller progressiven Kräfte in Lateinamerika, um die FTAA zu verhindern – solange noch Zeit dazu ist.

 

Im unter UN-Protektoratsherrschaft stehenden Kosovo wurden die ersten Parlamentswahlen abgehalten. Unter den 1,25 Millionen registrierten Wählern befanden sich immerhin 170.000 Serben. Stärkste Partei wurde die gemäßigte Demokratische Liga Kosovos LDK mit etwa 47 % der Stimmen, deren Vorsitzender Ibrahim Rugova Anspruch auf das Präsidentenamt erhob. Es folgen die Demokratische Partei LDK des UCK-Oberbefehlshabers Hashim Thaci mit 26 % und die Zukunftsallianz des ehemaligen Milizenführers Ramush Haradinaj mit 9 %. Während sich 65 % der Albaner an den Wahlen beteiligten, gingen nur 46 % der Serben an die Urnen. Allerdings wählten 57 % der in Montenegro und Serbien lebenden Kosovo-Serben in ihren Exilwahllokalen. Die serbische Koalition Povratak (Rückkehr) erreichte rund 8 % der Stimmen. Für die nationalen Minderheiten sind im Kosovo-Parlament 20 der 120 Sitze vorgesehen. Die Bildung eines funktionsfähigen Parlaments gilt als Voraussetzung für die Selbstverwaltung des Kosovo innerhalb des jugoslawischen Staatsverbandes. Der Wahlausgang kann jedoch als Anfang der Unabhängigkeit betrachtet werden, da sich alle albanischen Parteien für die Trennung von Belgrad aussprachen.

 

Die politische Auszehrung der Grünen nimmt ihren Fortlauf: Aus Protest gegen die Zustimmung der Bundestagsfraktion und der Parteiführung zum NATO-Interventionskrieg in Afghanistan haben der ehemalige Bundestagsabgeordnete Willi Hoss, die frühere Stuttgarter Stadträtin Heidemarie Rohweder, der ehemalige DaimlerChrysler-Betriebsrat Gerd Rathgeb und Helmut Zachau, ehemals Fraktionssprecher in der Bremischen Bürgerschaft, ihren Parteiaustritt erklärt. Zur PDS wechselte der ehemalige Bundestagsabgeordnete Manfred Such. In Berlin haben bereits 1 % aller Parteimitglieder seit dem Beginn der Militärschläge gegen Afghanistan ihren Austritt erklärt.

 

In einem neuen Meisterstück rot-grüner Sicherheitspolitik verteilte die Bundesverteidigungsministerium einen reich bebilderten Katalog mit ausgemusterten Waffensystemen an die Militärattachés in 53 bundesdeutschen Botschaften. Ziel der Hardthöhe ist es, nicht mehr benötigtes Kriegsgerät bis hin zu U-Booten an interessierte Staaten zu verkaufen. In Bundeswehrdeutsch nennt man das übrigens „durch Reduzierung freiwerdendes Wehrmaterial ökonomisch sinnvoll zu verwerten“. In den Genuss ökonomisch sinnvoller Verwertung von 699 Leopard I-Panzern, 267 Flugabwehrpanzern Typ Gepard, 589 Schützenpanzern Marke Marder sowie von Panzerhaubitzen M 109, Minenwerfern, amphibisches Gerät für Flussüberquerungen, mehreren Kampfflugzeugen der Typen Phantom und MiG-29 sowie von 54 veralteten Tornados, 2 U-Booten und 2 Zerstörern sollten neben den NATO-Staaten u.a. das latente Bürgerkriegsland Nigeria, der arabische Frontstaat Ägypten, Ghana im instabilen Westafrika und das autoritär regierte Malaysia kommen. Das Auswärtige Amt untersagte per Runderlass sämtliche Verkaufsverhandlungen, um den innen- und sicherheitspolitischen Schaden zu begrenzen, und pochte auf engste Abstimmung zwischen den beteiligten Ressorts. Der verschwiegene Bundessicherheitsrat billigte unterdessen die Lieferung von 400 neuwertigen und gebirgsgängigen Panzerhaubitzen aus bundesdeutsch-südkoreanischer Produktion an die Türkei.

 

In der baskischen Metropole Bilbao demonstrierten mehr als 15.000 Menschen für die Unabhängigkeit des spanischen Baskenlandes vom Zentralstaat demonstriert. Auf Plakaten forderten sie Selbstbestimmung "als Weg zum Frieden". In Sprechchören zeigten sie ihre Unterstützung für den bewaffneten Kampf der ETA und forderten eine Amnestie für inhaftierte Aktivisten der Untergrundorganisation. In Beasain bei San Sebastián wurden zwei Verkehrspolizisten von Etarras aus einem fahrenden Auto heraus niedergeschossen und tödlich verwundet.

 

Eine Studie des Kölner Vereins AZADI (Freiheit) weist nach, dass auch in den vergangenen zwei Jahren die Maßnahmen bundesrepublikanischer Organe gegen den kurdischen Freiheitskampf nicht nachgelassen haben. AZADI betreut derzeit 19 in bundesdeutschen Gefängnissen einsitzende Aktivisten und Aktivistinnen der kurdischen Befreiungsorganisation PKK. Gegen 11 der Gefangenen wird wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen bzw. einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Seit Oktober 1999 wurden in der BRD rund 160 Wohnungen und Vereinsräume durchsucht und 50 Personen festgenommen. Die Gerichte verhängten bei 70 Urteilen insgesamt mehr als 60 Jahre Haft.

 

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