Wirtschaft und Soziales

 

„Ihr könnt die Welt nicht kaufen“ - Zur WTO-Ministerkonferenz in Cancún

 

Verfasser: Richard Schapke, im Oktober 2003

Im mexikanischen Badeort Cancún fand Mitte September die Ministerkonferenz der aus dem GATT hervorgegangenen Welthandelsorganisation WTO statt. Zur Erklärung von Standort und Funktion der WTO im kapitalistischen Weltsystem braucht man nur einen Blick auf die Sponsorenliste des kostspieligen Spektakels zu werfen: Hier finden sich neun transnationale Konzerne: Coca Cola, Microsoft, die mexikanische Corona-Brauerei, EADS Telecom (Tochter der Rüstungsfirma European Aeronautic and Space Company), der Bürogerätekonzern Xerox, der Schweizer Uhrenhersteller Nivada, das spanische Schnaps- und Fastfoodunternehmen Domecq und der mexikanische Telekommunikationsriese Telmex.

Verhandelt werden derzeit in der so genannten Doha-Runde der WTO mehrere Themen: Das Agrarabkommen (AoA - Agreement on Agriculture), bei dem um Marktzugang in der Landwirtschaft, Einfuhrzölle im armen Süden und wettbewerbsverzerrende Subventionen im reichen Norden gerungen wird; das GATS (General Agreement on Trade in Services), das die Privatisierung von Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheitssystem, Telekommunikation, Finanzwesen, Elektrizitätswirtschaft oder Wasserversorgung regeln soll; und das TRIPS (Trade Related Intellectual Property Rights), in dem es um Eigentumsrechte sowie Patente auf Erfindungen (Gentechnik, Medikamente) und lebende Organismen geht. Großkonzerne aus Industrieländern halten weltweit 97 % aller Patentrechte, und im Sinne der Monopolisten wollen die Regierungen einen weltweiten Patentschutz durchsetzen.

Besonders umstritten ist ein vierter Bereich - die so genannten Singapore Issues. Insbesondere die EU drängte seit der Ministerkonferenz in Singapur 1996 darauf, die Themen Investitionen, Wettbewerb, öffentliches Beschaffungswesen (also Gleichberechtigung ausländischer Unternehmen bei der Vergabe von Staatsaufträgen) und Handelserleichterungen in die WTO-Agenda aufzunehmen. Das Investitionsabkommen sorgte bereits Ende der 90er Jahre für Aufsehen, als man es unter dem Titel MAI hinter den verschlossenen Türen der OECD, der Organisation der entwickelten Industrienationen, unter Dach und Fach bringen wollte. Es ging vor allem darum, Unternehmen und transnationalen Konzernen größere Investitionssicherheit zuzusichern. So sollten im MAI internationale Standards festgelegt werden, die den sozialen oder ökologischen Verhältnissen der betroffenen Länder übergestülpt werden konnten. Zur Einhaltung dieser Standards wurde den Konzernen ein Klagerecht gegen Staaten und Regierungen eingeräumt, während sie selbst kaum an Verpflichtungen gebunden werden sollten. Die Regierungen wären faktisch verpflichtet gewesen, diese Standards umzusetzen - mit Gesetzen, Polizei und Militär. Auch wäre allen Ländern jegliche Steuerung von Investitionen und Auftragsvergaben anhand der eigenen Entwicklungskriterien verboten worden.

Die Cancún-Verhandlungen scheiterten nach fünf Tagen, da die „Entwicklungsländer“ vor allem die von der EU, Japan und Südkorea geforderte Aufnahme von Verhandlungen über die Singapur-Themen strikt verweigerten. Begreiflicherweise befürchten die Regierungen der meisten „Drittweltländer“ einen zu weitgehenden Kontrollverlust über ihre Volkswirtschaften. Die Staaten vor allem der Gruppe der 21 (Brasilien, Südafrika, Malaysia, Argentinien, Ägypten etc.), welche durch den Anschluss Chinas und Indiens zur Gruppe der 23 anwuchs, verlangten im Gegensatz zu den Wünschen Brüssels, Tokios und Seouls die Priorität von Verhandlungen über den Abbau von Agrarsubventionen durch die Industrieländer. Damit solidarisierten sie sich mit den wirtschaftlich vollkommen am Boden liegenden 90 ärmeren und ärmsten Entwicklungsländern. Auch Agrarexporteure wie Australien und Neuseeland stellten sich am Ende hinter die Gruppe der 23 und scherten aus der Front der entwickelten Industrienationen aus.

Ein von Mexiko präsentierter WTO-Kompromissentwurf wurde vom bundesdeutschen Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) im Namen der EU zurückgewiesen. Berlin und Brüssel kritisierten, der Text enthalte weit reichende Zugeständnisse im Agrarbereich (vor allem eine Obergrenze der Agrarsubventionen), aber keine substanziellen Gegenleistungen der Entwicklungsländer wie die vom neuen Exportweltmeister BRD geforderten Zollerleichterungen und schon gar nicht das seit Jahren heiß ersehnte Investitionsschutzabkommen. In den Reihen von Clements Delegation befanden sich nicht umsonst eine Reihe einflussreicher Unternehmerfunktionäre - auch dieser Sozialdemokrat ist ein Genosse der Bosse.

Clement als Wortführer des europäischen Neoimperialismus steht mit seiner Ablehnung nicht alleine, denn Bundesverbraucherministerin Künast von den Grünen sprach sich für die Fortsetzung der ungehemmten Liberalisierung und Massenausbeutung aus und erklärte allen Ernstes, die EU habe in den vergangenen Jahren tiefgreifende Agrarreformen zum Wohle der Dritten Welt durchgeführt. An das kapitalistische Europa würden immer nur Forderungen gestellt, hieß es. In diesem Sinne lehnte man auch eine ins Gespräch gebrachte Sonderregelung für Baumwolle aus der Dritten Welt und die Herausnahme der Grundnahrungsmittel aus der WTO konsequent ab. Schon vor dem Ende der Gespräche verließ eine Reihe afrikanischer Staaten angesichts der erpresserischen und wenig transparenten Verhandlungsführung den Sitzungstisch. EU-Handelskommissar Lamy bot vergebens an, die Verhandlungen über Investitionen und Wettbewerbsfragen auszuklammern. Das Debakel von Cancún stellt einen harten Schlag für die WTO als Zugpferd der weltweiten Liberalisierung und Globalisierung dar, und die für Ende 2004 zum Abschluss vorgesehene Doha-Runde der WTO kann damit als beinahe gescheitert angesehen werden. Die Welthandelsorganisation kündigte eine Folge-Ministerkonferenz für Mitte Dezember in Hongkong an, um dort nach einem Konsens zu suchen. Zu Recht wies der brasilianische Außenminister Amorim darauf hin, dass die G-23 sich als ernstzunehmender Verhandlungspartner etabliert hat, und genau diese Entwicklung passt offenbar den neoliberalen Imperialisten in Berlin nicht in den Kram. 81 % der Delegierten aus Entwicklungsländern betrachteten übrigens einer Umfrage des britischen „Guardian“ zufolge die WTO als ein Instrument der reichen Industriestaaten.

Die harte Haltung der Gruppe der 23 erklärt sich, wenn man einen Blick auf die konkreten Auswirkungen der Wirtschaftspolitik der Industriestaaten wirft. Unlängst berichtete das International Food Policy Research Institute, Washington, dass die Handelshemmnisse (Einfuhrzölle) und Agrarsubventionen der Industriestaaten alleine den schwarzafrikanischen Bauern 2 Milliarden Dollar Einnahmeverlust jährlich bescheren. Alle Entwicklungsländer zusammen verlieren durch die Maßnahmen des Nordens jährlich 26 Milliarden Dollar. Alleine 2001 förderte die OECD ihre Landwirtschaft mit 311 Milliarden Dollar Subventionen - sechsmal soviel, wie ihre Mitgliedsstaaten für Entwicklungshilfe ausgeben. Während die EU ihre Landwirte mit jährlich 99 Milliarden Dollar unterstützt, sind es in den USA 97 Milliarden Dollar. Japan schützt seine Reisbauern mit Importzöllen von bis zu 500 %. Während in Mexiko pro Kopf und Jahr 500 Dollar Subventionen gezahlt werden, beträgt die Hilfe in der EU 5500 und in den USA an die 9000 Dollar. Durch die Subventionierungen sind die Produkte der nördlichen Landwirtschaft im Süden konkurrenzlos, während Produkte des Südens durch Zölle überteuert werden. Nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO sind in den ärmsten Staaten 56 % der erwerbsfähigen Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, in manchen Ländern Afrikas sind es 90 %. Täglich sterben 6600 Menschen (275 pro Stunde) infolge der EU-Handelspolitik mit Agrarzöllen von bis zu 250 %, vor allem in Afrika.

Bereits im Vorfeld der Cancún-Konferenz drohte Clement, bei einem Scheitern der Verhandlungen werde die OECD verstärkt bilaterale Abkommen schließen. „Wer nicht attraktiv ist, bliebe dann draußen vor der Tür.“ Bezeichnenderweise vollzogen nach dem ergebnislosen Auslaufen der Ministerkonferenz Clement und der US-Handelsbeauftragte Zoellick den Schulterschluss. Clement bejammerte die Blockadehaltung der Entwicklungsländer, die Schlagworte an die Stelle der Vernunft gesetzt hätten. Auch Zoellick stimmte mit den US-Industrieverbänden im Rücken in die bundesdeutsche Drohung ein, man werde fortan bilaterale Handelsverträge mit Drittweltstaaten abschließen - und die meisten Nationen der Dritten Welt sind nach wie vor erpressbar. Die US-Delegation kündigte unumwunden an, wider den Stachel löckende Staaten von den amerikanischen Märkten auszuschließen. Bereits seit Jahren umgehen die EU und die USA mit ihrer Handelspolitik die WTO, indem sie durch Verträge mit einzelnen Ländern (im Ökonomendeutsch auch als Assoziationsabkommen oder Handelsverträge verkauft) ihre ökonomischen und politischen Ziele durchzusetzen versuchen. Hierbei liegt Brüssel deutlich vor Washington, denn die EU hat rund 100 derartige Abkommen abgeschlossen, während die USA erst seit 1994 durch ihre Freihandelszonenpläne bemüht sind, Lateinamerika als ihre Interessensphäre zu reservieren. Die Lage dürfte sich also in vielen Staaten in den der EU und den USA ausgelieferten Regionen vor allem Afrikas und Lateinamerikas drastisch verschlechtern. In Asien zeichnen sich hingegen deutliche Tendenzen zur Bildung einer eigenen Wirtschaftszone mit China, Indien, Japan und Südostasien ab.

Die Haltung der transatlantischen Neokolonialisten in Washington und Berlin ist an Verlogenheit kaum zu überbieten. Der reiche Norden setzt mit Hilfe von IWF und Weltbank seit den frühen 80er Jahren die Marktöffnung in der Dritten Welt durch und überschwemmt zugleich deren Märkte mit subventionierten Agrarexporten, die Hunderte von Millionen um ihre Einkommen bringen. Die USA schützen beispielsweise ihre Stahlindustrie mit Zöllen, Frankreich und BRD manifestieren wettbewerbsfreie Stromkartelle und generell erfreuen sich die Großkonzerne der Industrienationen staatlichen Wohlwollens. Umgekehrt fordert man von Staaten wie China, Indien und Brasilien, auf genau solche Fördermaßnahmen zu verzichten und bei öffentlichen Aufträgen, Steuern oder Zöllen den Konzernen des Nordens volle Gleichbehandlung einzuräumen. Die EU, die USA und Japan unterschätzten offenkundig die wachsende politische und wirtschaftliche Macht gerade dieser Nationen.

Deren neue Allianz torpedierte in Cancún die traditionelle divide et impera-Strategie des Nordens. Die G-23 repräsentiert zusammen zwei Drittel aller Bauern dieser Welt und mehr als 50 % der Weltbevölkerung (wir gestatten uns den Hinweis, dass China bereits die viertstärkste Exportnation der Welt ist und spätestens 2015 die USA als weltwirtschaftliche Führungsmacht abgelöst haben dürfte), und weitere Entwicklungsländer wollen sich der Allianz anschließen. Allerdings darf diese Konfrontation nicht vorschnell als Konflikt zwischen Arm und Reich interpretiert werden. So sind in der Gruppe der 23 eher die großen Schwellenländer organisiert, und ihr Vorschlag zum Abbau aller Agrarsubventionen ist neoliberales Wunschdenken. Auch wenn Staaten wie Indien, China oder Brasilien mehr exportieren könnten, so würden davon doch in erster Linie die auch in den Schwellenländern übermächtigen Großagrarier profitieren und nicht etwa die am Rande oder unterhalb des Existenzminimums dahinvegetierenden Kleinbauern. Man sollte sich hüten, vorschnell das Ende der kapitalistischen Globalisierung oder von Not und Ausbeutung zu konstatieren - es wird nur sehr bald einige Global Players im Weltmarktsystem mehr geben.

Der Club der Reichen wird lernen müssen, dass es künftig ein paar weitere Wirtschaftsmächte gibt, die für sich die gleichen Rechte des staatlichen Eingriffs in die Wirtschaft beanspruchen, mit denen die Industriestaaten seit jeher gearbeitet haben. Nicht zuletzt gelang nach dem 2. Weltkrieg gerade der Aufstieg von Staaten wie Japan, Südkorea, China und Taiwan durch protektionistische Maßnahmen und schrittweise Weltmarktöffnung. Zu erwarten ist eine rapide Desintegration des multilateralen Nachkriegshandelssystems. Hierzu die „Financial Times“: "Das Gespenst, das viele Handelsexperten umtreibt, ist, dass sich Staaten mit besonderer Vehemenz regionalen und lokalen Handelsabkommen zuwenden werden, für die der Enthusiasmus weltweit schon jetzt stark zunimmt. Das könnte die politische Aufmerksamkeit von den WTO-Verhandlungen nicht nur noch weiter ablenken, sondern die Einhaltung der Regeln untergraben, die das multilaterale System am Leben erhalten." Nach dem durch die USA, Israel und Großbritannien eingeleiteten Erosionsprozess der UNO ist nun infolge des Wirtschaftsimperialismus der Industriestaaten mit der WTO eine zweite Stütze der Nachkriegsweltordnung in ein Stadium des Zerfalls getreten.

 

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