Wirtschaft und Soziales

 

Verkauft und verraten

- zur ökonomischen Lage in den neuen Ländern

Verfasser: Richard Schapke, im August 2004

 

„Es gibt nicht den geringsten Grund, so zu tun, als sei hier nichts erreicht worden.“ --- Gerhard Schröder


Im Frühjahr beherrschte die öffentliche Diskussion um den gescheiterten Aufbau Ost die Schlagzeilen. An die Stelle der noch von der Kohl-Administration versprochenen „blühenden Landschaften“ traten vielenorts durch ökonomischen Zusammenbruch und Abwanderung verödete Regionen - und ein Ende des Niederganges scheint nicht in Sicht. Grund genug, sich auch an dieser Stelle einmal mit der Lage in der „Sonderwirtschaftszone Ost“ zu befassen.

Als Wurzel des Übels ist neben dem maroden Zustand von Infrastruktur und Industrie der DDR die Vorgehensweise bei der „Wiedervereinigung“ zu nennen, welche eher einer Annexion und Kolonisierung durch westdeutsche Kapital- und Verbandsinteressen gleichkam. Am 1. Juli 1990 wurde der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen BRD und DDR abgeschlossen, was einen Export der bundesdeutschen Sozialordnung in die neuen Länder zufolge hatte. Seitens der DDR-Führung hätte man eine Vertragsgemeinschaft favorisiert, die SPD brachte eine Konföderation als Zwischenstufe ins Gespräch - und ein solches Vorgehen hätte die Katastrophe zumindest abmildern können.

Die ökonomische Entwicklung verlief fortan mit erheblichen Disparitäten. Zwar erreichten die Investitionen einen auch im internationalen Vergleich hohen Wert (1,25 Billionen Euro), aber sie gingen zu mehr als zwei Dritteln in Bauinvestitionen. Die ostdeutsche Infrastruktur lag darnieder, und das niedrige wirtschaftliche Ausgangsniveau relativierte auch die durchaus vorhandenen Steigerungen in Industrie und Dienstleistungssektor. Insgesamt ist der Wertschöpfungsanteil des verarbeitenden Gewerbes auch jetzt noch völlig ungenügend, man kann geradezu von einer Deindustrialisierung sprechen. Gerade die Industrien waren jedoch einer der Hauptträger der Beschäftigung.

Die rasche Privatisierung durch die Treuhand führte zu einem rigorosen Stellenabbau durch die Investoren. Ostdeutschlands veraltete Betriebe wurden nach Jahrzehnten der sowjetisch inspirierten Kommandowirtschaft über Nacht dem nationalen und internationalen Wettbewerb ausgesetzt, der Kollaps der DDR-Industrie war die Folge. Vor allem die Absatzinteressen der moderneren und profitableren BRD-Monopole waren für diesen Zusammenbruch verantwortlich; der Osten wurde gnadenlos nieder konkurriert. Als Beispiel mag hier das Vorgehen der Pharmakonzerne stehen, deren skrupellose Vorgehensweise zur weitestgehenden Zerstörung der entsprechenden Ostbetriebe führte. Nur rund ein Sechstel der in die neuen Länder fließenden Investitionen sind privater Natur, den Löwenanteil bestreitet nach wie vor die öffentliche Hand.

Alleine bis Anfang 1992 wurden 4 Millionen Arbeitsplätze vernichtet, von einst 4,3 Millionen Beschäftigten in DDR-Betrieben fanden bis heute nur 860 000 in den privatisierten Firmen einen Job Bereits im Frühjahr 1992 waren 43 % aller ostdeutschen Haushalte von mindestens einem Fall von Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen betroffen - und die Erwerbslosenquote ist seitdem konstant doppelt so hoch wie in der Alt-BRD (um die 20 % pendelnd). Stellt man die Tatsache in Rechnung, dass zahlreiche Arbeitnehmer und Schulabgänger in Programmen der Bundesanstalt für Arbeit, der Länder oder der Kommunen beschäftigt sind, ergibt sich ein noch weitaus dramatischeres Bild. Als die Treuhand Ende 1994 ihre Arbeit einstellte, waren 75 % aller alten Arbeitsplätze vernichtet. Zwischen 1990 und 1994 fiel die Zahl der Beschäftigten insgesamt um ein Drittel, seitdem ging sie um weitere 20 % zurück. Beinahe jeder zweite Erwachsene muss seinen Lebensunterhalt aus Sozialtransfers bestreiten, und diese Summe entspricht dem Großteil der Transferleistungen. Übrigens waren nur maximal 900.000 der verloren gegangenen Arbeitsplätze vom Handel mit den RGW-Staaten abhängig, die Ursache für das Vereinigungsdesaster ist also keinesfalls im Auseinanderbrechen des Ostblocks zu suchen, sondern im Kolonialisierungsdruck der Westmonopole.

Politiker, Medienleute und Wirtschaftsexperten lamentieren über die Ergebnisse des Aufbaues Ost, aber sie sparen in ihren Äußerungen zumeist die Ursachen dieser Ergebnisse aus. Infolge der Dauermisere im Osten, hervorgerufen durch einen annexionsähnlichen Ostfeldzug des Westkapitals, werden dem Wirtschaftskreislauf der westlichen Bundesländer Unsummen entzogen, während in den neuen Ländern kein eigener wirtschaftlicher Energiekreislauf in Gang kam. Festzuhalten ist auch, dass zahlreiche Investoren nur in den Osten kamen, um Fördermittel abzukassieren; teilweise wurde nach dem Auslaufen staatlicher Förderprogramme sogar wieder entlassen oder der Betrieb komplett geschlossen. Berüchtigt sind beispielsweise die Vorgänge um den Bremer Vulkan-Firmenverbund, wo Fördermittel in dreistelliger Millionenhöhe verschoben wurden. Herausragend dubios verlief auch die Privatisierung der Leuna-Werke, wie erinnerlich sein sollte.

Allerdings fließen jedes Jahr rund 4 % der westdeutschen Industrieproduktion in die neuen Länder, womit die Ex-DDR der acht- oder neuntwichtigste Handelspartner der Westwirtschaft ist (etwa gleich zu gewichten wie Belgien, Spanien oder die Schweiz). Die öffentliche Hand zahlt, und das produzierende Gewerbe macht die Profite. Ein Transferstaat ist entstanden, der wie für die Ewigkeit begründet erscheint. Nach wie vor ist die ostdeutsche Ökonomie alleine nicht lebensfähig, und auch die naiven Konzepte der PDS können diesen Umstand nicht wegleugnen: Eine von den Sozialisten favorisierte verstärkte Mittelstandsförderung als Motor für einen Aufschwung ist illusorisch, denn Experten zufolge fehlen vor Ort 3000 Industriebetriebe mit etwa 600.000 Arbeitsplätzen. Nur 15 % der Ostbeschäftigten arbeiten in der Industrie, während es im Westen doppelt so viele sind. Die zu Lebzeiten der DDR vorhandenen wirtschaftlichen „Kerne“ wurden als unliebsame Konkurrenz der BRD-Monopole systematisch ruiniert. Einige wenige starke Großbetriebe, zumeist in westdeutscher oder ausländischer Hand, vereinigen 60 % des Umsatzes und zwei Drittel der Investitionen auf sich. Demnach ist der ostdeutsche Mittelstand viel zu schwach, um einen selbsttragenden Aufschwung zu bewirken. Auch jetzt tragen die fünf ostdeutschen Flächenländer und Berlin zusammen 14,8 % zum bundesdeutschen BIP bei - also etwa so viel wie Baden-Württemberg alleine.

Angesichts der trostlosen Lage wandern vor allem Jungarbeitnehmer und besser Qualifizierte ab, wir beobachten hier einen „brain drain“, wie er ansonsten nur in Drittweltstaaten vorkommt. Zwischen 1991 und 2002 sind nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 2,1 Millionen Menschen in die West-BRD abgewandert. In Teilen Mecklenburg-Vorpommerns liegt die Abwanderungsquote der Abiturienten bereits bei nahezu 100 %. Abzulesen ist die Misere in der Entwicklung der Alterstruktur der Einwohner: In Neubrandenburg wird 2015 jeder zweite Bewohner älter als 60 Jahre sein. Mecklenburg-Vorpommern, zur Wendezeit noch das Land mit der jüngsten Bevölkerungsstruktur, wird 2020 das mit der ältesten sein. Stellten die 25- bis 35-Jährigen 1991 noch 17 Prozent der Bevölkerung, so waren es 2002 nur noch 11 Prozent. Durch Westwanderung und Rückgang der Geburtenrate verliert das ärmste Bundesland bis 2020 ein Drittel seiner Bevölkerung. Die Schülerzahlen sind seit 1996 um ein Drittel zurückgegangen. Insgesamt wird der Osten in den nächsten 15 Jahren um eine weitere Million Menschen schrumpfen. Besonders abwanderungswillig sind junge Frauen. Damit gehen potenzielle Mütter. In manchen Regionen kommen auf eine Frau im Alter von 18 bis 35 Jahren drei Männer. In sage und schreibe 200 ostdeutschen Gemeinden laufen bereits städtische Umgestaltungsprogramme, um leer stehenden Wohnraum zu beseitigen. Eine Million Wohneinheiten stehen leer, 350.000 von ihnen sind für den Totalabriss vorgesehen. Allerdings ist das Phänomen der Entvölkerung nicht nur auf den Osten beschränkt, betroffen sind auch westdeutsche Regionen wie Ostfriesland, den Unterweserraum und Teile des Ruhrgebietes, das Saarland, der Südosten Niedersachsens, Nordhessen und Oberfranken.

Die Zukunftsaussichten sind weiterhin alles andere als rosig. Angesichts der Folgen von Hartz IV ist mit einer dramatischen Verschärfung der Lage zu rechnen. Hunderttausende von Unterstützungsempfängern in den neuen Ländern werden wohl bald auf Leistungen der freien Wohlfahrtspflege und Suppenküchen angewiesen sein - Zustände wie zu Weimarer Zeiten und dennoch nur für eine für die nationalistisch verbrämte, rücksichtslose Durchsetzung westdeutscher Kapitalinteressen symptomatische Erscheinung. Die Fördermaßnahmen von Bund und Ländern werden sich künftig vermehrt auf Wachstumskerne wie beispielsweise den Großraum Dresden, die Werftstädte an der Ostseeküste und die mitteldeutschen Chemiestandorte konzentrieren, nachdem zuvor nach dem „Gießkannenprinzip“ verfahren wurde -ein weiteres Versagen der Politik. Die übrigen Gebiete jenseits von Elbe und Saale wurden offenkundig von der Bundesregierung abgeschrieben und werden in nicht allzu ferner Zukunft bestenfalls eine Rolle als Arbeitskräftereservoir und Naturschutzgebiete spielen.

Einflussreiche Kreise im Westen, von Regierungsberatern (Dohnányi-Kommission) und Unternehmerkreisen über die Unionsparteien bis hin zu Bundeswirtschaftsminister Clement fordern nun die Einrichtung einer weitgehend deregulierten Sonderwirtschaftszone Ost, um dem chronisch exportorientierten Modell Deutschland, also dem westdeutschen Kapital, weitere Ausbeutungsmöglichkeiten zu eröffnen. Im Gespräch sind beispielsweise Lohnkostenzuschüsse für Billiglöhne (Kombilohnmodell), Steuerbefreiungen für Unternehmen, die Schaffung so genannter Freier Produktionszonen (wie in Irland oder Mexiko), die Absenkung der Sozialleistungen oder die Deregulierung der Rechtsvorschriften in den Bereichen Bau, Arbeit und Umwelt. Auch die unternehmerseitig betriebene Aushebelung von Flächentarifen und Sozialstandards zielt in die gleiche Richtung. Gerade einmal jeder zehnte Betrieb zahlt noch nach Flächentarif, und 70 % aller Betriebe - vor allem in den strukturschwachen Gebieten - unterliegen gar keiner Tarifbindung. Es könnte also mittelfristig auf eine Ablösung des Aufbaus Ost durch einen Rechtsabbau Ost hinauslaufen. Billiglöhne würden die Abkoppelung des Ostens vervollständigen, eine Angleichung der Lebensverhältnisse wäre dann endgültig unmöglich. Gerade industrielle Niedriglohnjobs stehen ohnehin seit den späten 70er Jahren ganz oben auf der Rationalisierungsliste, mit den noch schlechter bezahlten Ausbeutungsobjekten in der Dritten Welt können sie nicht konkurrieren. Der Druck auf die ostdeutschen Arbeitnehmer wird sich eher noch weiter erhöhen, denn die in der Dohnányi-Kommission vertretenen Verbandsvertreter und Unternehmerfunktionäre fordern unumwunden eine Modifizierung der Zuzugssperre für Bürger aus Polen und Tschechien, um den Osten mit noch billigeren Lohnarbeitern zu versorgen.

Die „neuen Bundesländer“ sind bereits jetzt eine Sonderwirtschaftszone, ein sozial- und arbeitsrechtlich dereguliertes Gebiet. Statt eines erhofften - und unter Vorspiegelung falscher Absichten, mithin arglistige Täuschung genannt - versprochenen Wirtschaftswunders entstand ein zweiter Mezzogiorno, abgekoppelt von der gesamteuropäischen Wirtschaftsentwicklung.

 

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