Wirtschaft und Soziales

 

Die Türkei und der EU-Imperialismus

 

Verfasser: Richard Schapke, im Januar 2005

 

Nach monatelangem Tauziehen einigten sich am 17. Dezember die Europäische Union und die Türkei auf die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Die Gespräche sollen am 3. Oktober 2005 beginnen; frühestens Beitrittsdatum ist das Jahr 2014. Nachfolgend wollen wir uns nicht mit den ausgehandelten Formalitäten, sondern mit einigen strukturellen Hintergründen befassen.

Restriktive Minderheitenpolitik

Im Vorfeld der Verhandlungen um die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen landete die kurdische Opposition einen Propagandacoup. Das Kurdische Institut in Paris veröffentlichte einen von 100 kurdischen Intellektuellen unterzeichneten Appell. In dem Papier wurde die EU aufgerufen, folgende Forderungen an die Adresse Ankaras zu erheben: Eine neue Verfassung, in der die Existenz des kurdischen Volkes ausdrücklich anerkannt wird und die das Recht der Kurden auf muttersprachliche Bildung garantiert; Rückkehr der schätzungsweise drei Millionen vertriebenen Kurden in ihre Dörfer im Südosten der Türkei; den Kurden müssten alle Rechte gegeben werden, die Ankara für die türkische Bevölkerung Zyperns fordert, mithin also eine weitgehende Autonomie. Die türkische Öffentlichkeit und die Regierung in Ankara tobten und zeigen wenig Neigung, auf die berechtigten Forderungen einzugehen. Festzuhalten bleibt allerdings, dass man sich auch in Brüssel wenig um eine restriktive Minderheitenpolitik schert, wie die Nicht-Reaktion auf das Batasuna-Verbot in Spanien oder auf das Verbot der kurdischen HADEP-Partei beweist. Verweigert wird durch Ankara übrigens auch das Eingeständnis eines Völkermordes an der armenischen Bevölkerungsgruppe während des Ersten Weltkrieges.

Aggressive Außenpolitik

Dass die aggressive Außen- und Minderheitenpolitik Ankaras auch weiterhin Realität ist, zeigt sich in der Zypern-Frage: Nach wie vor verweigert die türkische Regierung die offizielle Anerkennung der griechischen Republik auf dem Süden der Insel und willigte lediglich in eine mündliche Absichtserklärung ein, diese bis zur Aufnahme der Beitrittsverhandlungen zu vollziehen. Weiteres Konfliktpotenzial bergen die Gebietsstreitigkeiten mit Griechenland in der Ägäis, die beide Länder schon mehrfach an den Rand eines Krieges führten. Das NATO-Land Türkei liegt ohnehin in einer Region, die weltweit die meisten und brisantesten Konflikte birgt.

Eine Abspaltung der irakischen Kurdengebiete von Bagdad wäre ein Horrorszenario für die Türkei, und erklärtermaßen wird sie dieses notfalls durch militärische Gewalt verhindern. Die Streitigkeiten mit dem Irak um das Wasser von Tigris und Euphrat sowie mit Syrien um den Euphrat haben Kriegspotenzial. Mit Damaskus schwelt ein Konflikt um eine vorwiegend von Arabern bewohnte Region (den Sandschak von Alexandrette/Hatays), die nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches der Türkei zufiel. Das Verhältnis zum Iran ist schwierig. Sollten sich die Spannungen zwischen den USA und Iran zuspitzen, wäre auch die Türkei als Nachbar und als US-Aufmarschgebiet betroffen. Der unruhige Kaukasus grenzt im Norden an - mit dem Dauerkrieg in Tschetschenien, dem Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan und den Minderheitenproblemen in Georgien. Auf dem Balkan, vor allem im Kosovo, in Mazedonien und in Rest-Jugoslawien, existiert ein weiterer Unruheherd nahe der Türkei. Der Historiker Hans Ulrich Wehler formulierte sehr treffend: „Warum sollte sich die EU so charmante Nachbarn wie den Irak, die syrische Diktatur, die iranische Theokratie und erodierende Staaten wie Georgien und Armenien freiwillig zulegen?“ Problematisch ist auch, dass sich Ankara als Schutzmacht sowohl der Muslime Europas wie der Turkvölker Zentralasiens versteht und entsprechend robust auftritt. Abgesehen von der Irak-Frage erwies sich die Türkei jahrzehntelang als ein treuer Verbündeter der Vereinigten Staaten, so dass sich bei einer Vollmitgliedschaft neben Großbritannien und Polen ein weiterer Vasall Washingtons innerhalb der EU befinden wird. Mit zum Beitrittszeitraum zwischen 80 und 90 Millionen Einwohnern wird dieser US-Brückenkopf übrigens innerhalb der EU ein gewichtiges Wort mitzureden haben.

Asymmetrische Wirtschaftsentwicklung im Inland

Wirtschaftlich ist die Türkei ein Land der Gegensätze mit Strukturen eines Drittweltstaates.
Rund um Istanbul und Ankara pulsieren das wirtschaftliche und kulturelle Leben, und an den Mittelmeerküsten bestimmt der Tourismus das Bild. Wer sich aber nach Südost-Anatolien verirrt, ist in der Dritten Welt angekommen: Altertümliche Landwirtschaft mit Pferd, Esel oder Muskelkraft, Clan-Herrschaft, hohe Geburtenraten (auf 1000 Menschen kommen in der ganzen Türkei durchschnittlich 17,22 Geburten), fehlende Infrastruktur und die Erblasten des Kurden-Konflikts haben hier bisher fast jede Perspektive zunichte gemacht.

Die Regionen östlich von Ankara können mit denen im westlichen Teil des Landes nicht mithalten: Während das Einkommen pro Einwohner zum Beispiel in der Region Istanbul 41 % des EU-Durchschnitts erreicht, sind es im Osten und Südosten nur 7 %. Bisher kam aus diesem Gebiet der Hauptstrom der in Europa Arbeit suchenden Immigranten. Es waren diese zumeist sehr konservativen Anatolier, die das Türken-Bild der Europäer, insbesondere das der Deutschen prägten. Eine neue Migrationswelle nach einem Beitritt der Türkei zur EU schließen manche Demographen jedoch aus: In dem Maße, wie die Industrialisierung der anatolischen Provinzstädte wie Gaziantep und Denizli, Kayseri und Kahramanmaras anhalte, heißt es in Studien, werde die Bevölkerung in ihrer unmittelbaren Heimat Arbeit finden. Uns erscheint allerdings fraglich, ob die Herren Demographen wirklich einkalkuliert haben, dass sich innerhalb der nächsten 10-20 Jahre die türkische Bevölkerung um 20 Millionen Menschen erhöhen wird. In worst-case-Szenarien wird mit einer Abwanderung von bis zu 4 Millionen Menschen gerechnet, für die sich natürlich Frankreich und die BRD mit ihren großen türkischen Migrantengruppen und Netzwerken als Zielländer anbieten. Selbst bei einer Halbierung der Einkommensdifferenz zum EU-Durchschnitt werden sich noch immer 1,3 Millionen Türken auf Arbeitsmigration begeben.

Die türkische Wirtschaft erreicht insgesamt gerade einmal 20 % des durchschnittlichen europäischen Sozialprodukts, und jahrelang hat sie mit einer Inflationsrate über 40 % zu kämpfen gehabt. Dabei ist das Land mit ca. 120 Milliarden Dollar (das genaue Ausmaß ist nicht einmal bekannt!) im Ausland verschuldet und erhielt gerade unlängst wieder einen 10-Milliarden-Dollar-Kredit des Internationalen Währungsfonds - auch bei respektablen Wachstumsraten kann hier kaum von einem selbsttragenden, sondern eher von einem kreditfinanzierten Aufschwung gesprochen werden, also von einer nachholenden Industrialisierung mit all ihren Risiken. Das jährliche Außenhandelsdefizit liegt bei 20 Milliarden Dollar (wohlwollend geschätzt um die 25 % des gesamten Handelsvolumens!) und hat sich infolge der asymmetrischen Wirtschaftsbeziehungen zur EU - siehe unten - in nur wenigen Jahren verdoppelt. Böse Zungen unter den Experten für internationale Politik behaupten, die USA hätten jahrelang den EU-Beitritt Ankaras betrieben, um den europäischen Konkurrenten gewissermaßen eine Tretmine ins Haus zu schmuggeln.

Ein Drittel der türkischen Erwerbstätigen sind im Agrarsektor beschäftigt, damit liegt sie zwischen Polen (20 %) und Rumänien (40 %). Dort werden aber nur 11,5 % des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet, und das bei staatlichen Subventionierungen, die 4 % des BIP ausmachen. Bereits in den letzten Jahren wurde im Rahmen der EU-Anpassung der staatliche Einfluss im Agrarbereich gesenkt und das System der Beihilfen in Form von Stützpreisen durch direkte Einkommenssicherung ersetzt. 35 % aller Betriebe bewirtschaften eine Fläche unter zwei Hektar mit niedriger, an Subsistenzwirtschaft grenzender Flächenproduktivität. Von dieser kleinbäuerlichen Selbstversorgungswirtschaft leben immerhin ein Drittel aller Erwerbstätigen. Die mit geringem Kapitaleinsatz extensiv betriebene anatolische Landwirtschaft ist mit den kapitalintensiv wirtschaftenden, hoch subventionierten EU-Landwirten nicht konkurrenzfähig. Bereits jetzt liegen die Einkommen in der Türkei nach der Kaufkraft bei 23 % des EU-Durchschnitts, nach aktuellen Wechselkursen sogar nur bei 13 %.

Bundesdeutsche Konzerinteressen

Die bundesdeutsche Exportwirtschaft ist sich der Vorteile einer Aufnahme der Türkei mit ihren derzeit rund 70 Millionen potentiellen Konsumenten für die EU sicher. Alleine in der 1. Hälfte des Jahres 2004 stiegen die Exporte von BRD-Firmen in die Türkei um 50 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum an. Bundesdeutsche Waren im Wert von 8,9 Milliarden Euro wurden im Jahr 2003 exportiert, 7,2 Milliarden Euro betrug der Wert der Importgüter. Für die Türkei ist die BRD somit der wichtigste Wirtschaftspartner, umgekehrt steht die Türkei immerhin auf Rang 18 der bedeutendsten Partner für das „Modell Deutschland“. Bei Andauern der Liberalisierungspolitik (siehe unten) eröffnen sich hier die bundesdeutsche Industrie nicht unerhebliche Profitmöglichkeiten.
So heißt es in einer Erklärung des Bundesverbandes des Deutschen Groß- und Außenhandels vom 18. September 2004: „Der Wettstreit um Märkte, Kapital und Arbeit zwischen Europa, den USA und Asien wird im 21. Jahrhundert massiv zunehmen. Der Druck auf Europa im Rahmen der Globalisierung wird erhebliche disziplinierende Wirkungen ausüben und eher der Einigkeit dienlich sein als zum Zerfall führen. Hier bietet die Türkei neben dem demographischen Faktor auch politische und wirtschaftliche Standortvorteile durch die Größe und Lage des Landes. Man sollte den Einfluss der Türkei auf die turksprachigen Länder Zentralasiens nicht unterschätzen. Europa wird mehr Profit aus einem Beitritt ziehen als die Skeptiker und Mahner heute glauben.“ Offenbar bahnt sich hier eine Allianz zwischen den wirtschaftspolitischen Interessen des bundesdeutschen und europäischen Kapitals und den türkischen Regionalmachtambitionen an.
EU-Erweiterung ist Neokolonialismus
Durch die 1996 in Kraft getretene Zollunion werden die türkischen Außenhandelsbeziehungen ohne Mitspracherecht der Türkei aus Brüssel diktiert. Die Zollunion führte zu einer fortschreitenden Handelsabhängigkeit der Türkei von der EU, aus der 49 % aller Importe stammen und in die 53 % der Exporte gehen. Ankara nahm diesen Souveränitätsverlust als notwendiges Übel auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft in Kauf. Während die Türkei zum Abnehmer europäischer Industrieprodukte geworden ist, haben türkische Produzenten bis zum Vollbeitritt kaum Chancen, ihre Waren auf europäischen Märkten anzubieten. Mit der Beschränkung der Zollunion auf Industrieprodukte werden günstig produzierende türkische Textil- und Lebensmittelproduzenten vom europäischen Markt ferngehalten. Das Außenhandelsdefizit der Türkei beträgt jährlich rund 20 Milliarden Dollar. Die Zollunion ist damit Ausdruck asymmetrischer Machtbeziehungen zwischen der EU und der Türkei. Diese Asymmetrie hat ihre Ursache im imperialistischen Stadium der wichtigsten EU-Mächte gegenüber einem semiperipheren Land und würde sich auch bei einer Vollmitgliedschaft nicht ändern, wie wir am Beispiel Osteuropas sehen. Aus der Vollmitgliedschaft würden allerdings weitere Pflichten zur wirtschaftlichen Deregulierung erwachsen.


Seit Ende der 1990er Jahre wurden unter dem Druck der EU und des Kreditgebers IWF eine Reihe türkischer Energie- und anderer Staatsbetriebe privatisiert, die von transnationalen Konzernen, insbesondere aus der BRD, gekauft wurden. Während EU-Fortschrittsberichte die radikalen Deregulierungsmaßnahmen in den Märkten für Tabak, Elektrizität, Telekommunikation und Gas loben, wird die schleppende Privatisierung in Industrie, Bankenwesen und Landwirtschaft ausdrücklich kritisiert. Von der Türkei wird erwartet, dass sie den Privatisierungsprozess und die Reformen des Finanzsektors abschließt sowie Reformen im Agrarsektor fortsetzt, bevor die eigentlichen Beitrittsverhandlungen mit der EU aufgenommen werden. Bei der Agrar- und Regionalpolitik müsste die Türkei ohnehin mit schmerzlichen Auflagen und jahrzehntelangen Übergangsfristen rechnen. In Zahlen heißt das: Gut 80 % des derzeitigen EU-Budgets wird für die Türken auch nach dem Beitritt nur unter Ausnahmeregelungen zugänglich sein.

EU-Erweiterung als imperialistische Expansion

Im Klartext bedeutet dies alles, dass die türkischen Arbeitnehmer während der langjährigen Beitrittsverhandlungen die Folgen einer marktradikalen Variante des Neoliberalismus wie steigende Arbeitslosigkeit, sinkende Löhne und die Zurückdrängung gewerkschaftlicher Rechte ertragen sollen, ohne in dieser Zeit auf EU-Beihilfen hoffen zu können. Während europäische Konzerne in der Westtürkei einige moderne Fabriken errichten, um den Druck auf westeuropäische Lohnabhängige zu erhöhen, stehen die westtürkischen Arbeitskräfte zugleich unter dem Druck der in Ostanatolien freigesetzten „industriellen Reservearmee“, sofern diese nicht in andere EU-Staaten abwandert. Eine weitere europaweite Abwärtsspirale der Löhne ist die Folge. Brüssel erweist sich wieder einmal als ein hochkapitalistisches, an reinen Wirtschaftsinteressen orientiertes Gebilde und nicht etwa als „europäische Schicksals- und Kulturgemeinschaft“. Die Europäische Union ist ein neoliberales kapitalistisches Projekt, das sich in der neuen EU-Verfassung zu wirtschaftlicher Deregulierung und militärischer Hochrüstung verpflichtet. Eine Ausweitung der EU auf die Türkei kann von antikapitalistischen Kräften, deutschen, europäischen und türkischen, nicht gewünscht werden, da es sich wie schon bei der Osterweiterung um eine Form imperialistischer Expansion handelt.

 

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