Wirtschaft und Soziales

 

Panorama der Arbeitsmarktkrise

 

Verfasser: Richard Schapke, im Dezember 2004

 

Vorbemerkung: Die vorliegende Arbeit basiert auf der Auseinandersetzung mit der aktuellen wirtschafts- bzw. sozialwissenschaftlichen Literatur, daher fällt sie sachlich aus und verzichtet weitestgehend auf politische Agitation.
Die Fakten sprechen für sich: Das System hat keine Fehler, das System ist der Fehler!

 

Einleitung

Die Massenarbeitslosigkeit hat seit den frühen 90er Jahren ein seit Kriegsende ungekanntes Niveau erreicht, übertroffen nur noch von der Weltwirtschaftskrise zu Weimarer Zeiten. Arbeitslosigkeit ist ein gesellschaftliches Dauerproblem geworden, für das es kein kurzfristiges Heilmittel zu geben scheint. Auch bei einem ökonomischen Aufwärtstrend ist damit zu rechnen, dass die Arbeitslosenzahlen weiterhin auf einem gesellschaftspolitisch nicht zu akzeptierenden Niveau verharren werden und sich zu einem politischen Sprengsatz für das System BRD auswachsen können. Das Problem Arbeitslosigkeit dient zur Rechtfertigung so gut wie aller wirtschaftspolitischen Aktivitäten; angesichts der Lage sind Begriffe wie das Bündnis für Arbeit zur leeren Formel verkommen.

Das Arbeitsverhältnis dient nicht nur als Haupterwerbsquelle des Großteils der Bevölkerung, sondern ist auch entscheidender Faktor der gesellschaftlichen Statuszuweisung. Arbeitslosigkeit bedeutet mithin für den Einzelnen Einkommensverlust, sozialen Abstieg und psychische Verunsicherung. Sie verursacht hohe Kosten für die Gesamtgesellschaft (steigende Sozialabgaben aller Art, Verwaltungskosten etc.), eine politische Radikalisierung als Folgeerscheinung ist nicht auszuschließen, wie der Aufstieg von NSDAP und KPD am Ende der Weimarer Republik zeigt.

Die Deutsche Evangelische Kirche und Deutsche Bischofskonferenz formulierten in einer Erklärung von 1997: „In Deutschland und in den anderen Mitgliedsstaaten der EU stellt die anhaltende Massenarbeitslosigkeit die drängendste politische, wirtschaftliche und soziale Herausforderung dar. Die katastrophale Lage auf dem Arbeitsmarkt ist weder für die betroffenen Menschen noch für den sozialen Rechtsstaat hinnehmbar. (…) Arbeitslose, die längere Zeit keine Arbeit finden, werden schließlich in vielen Fällen unfähig, Arbeit zu suchen, und werden zu Menschen ohne Erwartungen. Verbitterung und Resignation zerstören das Vertrauen in die demokratische Gestaltbarkeit der Gesellschaft. Perspektivlosigkeit und Angst vor dem sozialen Abstieg sind ein Nährboden für Gewaltbereitschaft und Fremdenfeindlichkeit.“

Die Sozialordnung der Bundesrepublik ist nach Alfred Müller-Armack die Soziale Marktwirtschaft. Zwar sind sozialer Ausgleich und Abdeckung der Lebensrisiken unerlässlich, doch sind die Rahmenbedingungen dieser Sozialordnung an die marktwirtschaftliche Ordnung anzupassen. Voraussetzung einer erfolgreichen Sozialpolitik ist also eine konsequente Wirtschaftsordnungspolitik. In der Nachkriegszeit erfolgte die Erneuerung marktwirtschaftlich-kapitalistischer Verhältnisse, abgefedert durch den Ausbau des Sozialstaates als Konfliktregulierungsmodell. Der Sozialstaat spielt daher eine gewichtige Rolle im Leben des Einzelnen.

Seine Abhängigkeit von der Arbeitsgesellschaft und deren Wandlungen (Megatrends) ist eines der Hauptprobleme des Sozialstaats. Zu nennen ist hier vor allem der internationale Wettbewerbsdruck durch die Globalisierung, der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft, die Überalterung der Gesellschaft, der gesellschaftliche Individualisierungsprozess (Auflösung des die Familie ernährenden Normalarbeitsverhältnisses und der sozialen Bindungen) und der Migrationsdruck.

Zahlreiche Indizien sprechen dafür, dass die industriell-erwerbswirtschaftliche Arbeitsgesellschaft, obwohl kaum 200 Jahre alt, einen grundlegenden und unumkehrbaren Wandlungsprozess durchläuft. Das fordistische Modell in der Bundesrepublik ist am Ende. Unter Fordismus ist eine Wirtschaftsordnung zu verstehen, in welcher die Löhne, also die Massenkaufkraft, parallel zum Wachstum der Produktivität ansteigen. Wir haben es also mit einem Auseinanderbrechen des Zusammenhangs zwischen Massenproduktion und Massenkonsum zu tun. Die Sozialabgaben in Form der Lohnnebenkosten werden als Wettbewerbsbehinderung zum Angriffspunkt interessierter Kreise, da das Modell Deutschland nicht zuletzt auf einer starken Exportorientierung basiert.

Arbeit und moderne Gesellschaft

Durch die im Gefolge der Industriellen Revolution erfolgte Trennung von Kapital, Grundrente und Arbeit ist der Lohnabhängige darauf angewiesen, seine Arbeitskraft als Ware zu verkaufen. Wie bei jeder Ware regeln auch hier Angebot und Nachfrage den Preis, sprich die Lohnverhältnisse. Vermögenslosigkeit oder mangelndes Vermögen der von Lohnarbeit Abhängigen zwingt diese dazu, ihre Arbeitskraft anzubieten. Arbeit sichert also das Überleben und - potenziell - die Hebung des Lebensniveaus. Der Lohnabhängige befriedigt seine gesamten Bedürfnisse durch Lohnarbeit, während der Unternehmer nicht zuletzt aus diesem „Geschäft“ seinen Gewinn zieht.

Der Lohnabhängige ist ein lebendiges und bedürftiges Kapital; sobald er nicht arbeitet, verliert er seine Existenzgrundlage (bzw. ist auf Lohnersatzleistungen angewiesen). Die Arbeit entwickelt sich somit zur Grundlage seines Lebensunterhaltes, ob er es will oder nicht. Aus diesem Grunde ist der Lohnabhängige an einem möglichst hohen Gegenwert interessiert. Den Arbeitnehmern gegenüber steht die Arbeitgeberseite als Käufer der Ware Arbeitskraft, und je billiger sie diese bekommt, desto höher ist ihr Gewinn. Versucht der Arbeitnehmer, durch Ablehnung eines Billigjobs seinen Gewinn zu erhöhen, ruft er Empörung hervor - die Marktwirtschaft gilt also nicht für ihn. Der optimale Lohnarbeiter aus betriebswirtschaftlicher Sicht interessiert sich nicht für seine eigenen Belange wie Lohn, Gesundheit und Qualifikation, sondern lediglich für den Profit des Kapitals. „Die Egoistenklasse des Kapitals bekämpft die Egoistenklasse der LohnarbeiterInnen - aus Egoismus.“ In diesem Zusammenhang sind auch die an jeglicher wissenschaftlichen Realität vorbeigehenden Klagen der Unternehmerseite über die angeblich zu hohen Lohnkosten zu sehen.

Leistungsideologie

Nach betriebswirtschaftlichen Aspekten ist es rational, den Einsatz des Produktionsfaktors Arbeit effektiv zu gestalten - mittels Auswahl der Arbeitskräfte anhand des Kriteriums Leistung. Leistungsschwächere Arbeitnehmer werden nicht eingestellt oder werden „aussortiert“. Die Folge ist die Entstehung von Randgruppenerwerbslosigkeit. Hierin ist ein Grundelement der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu sehen, deren Leistungsfähigkeit nicht zuletzt durch latent sozialdarwinistische Kriterien gesteigert wird. Oftmals wird diese Auslese auch von unsachlichen Klischeevorstellungen der Arbeitgeberseite bestimmt.

Ein beachtlicher Teil der Lohnarbeitnehmer stellt für das Kapital ein Risiko dar: „Minderleister“ wie ältere Menschen, Frauen, Behinderte, Kranke, Gering- und Fehlqualifizierte sowie Jugendliche werden als Risikogruppen dem betriebswirtschaftlichen Kalkül unterworfen und ausgesondert; nicht umsonst stellen sie einen erheblichen Teil der Langzeitarbeitslosen (siehe unten). Die Unterscheidung von leistungsfähigen und weniger oder nicht leistungsfähigen Menschen hat in der westlichen Gesellschaft seit der industriellen Revolution ihren Platz - bis hin zu einer pervertierten aber aus ökonomischer Sicht nicht unlogischen Denkweise folgenden Ausrottung der „Minderwertigen“ im „Dritten Reich“.

Der Weg in die Arbeitsmarktkrise

Arbeitslosigkeit ist ein Überhang an angebotener Arbeitskraft gegenüber der Nachfrage nach ihr. Sie kann ironischerweise nur dann entstehen, wenn das Individuum eine marktdefinierte persönliche Freiheit besitzt (Gegensatz Feudalismus, Sozialismus - Kapitalismus).

Arbeitslosigkeit war in der Bundesrepublik bis weit in die 70er Jahre hinein kein Thema, das Grund zur Beunruhigung geben konnte. Im April 1975 waren erstmals seit 1955 mehr als 1 Million Erwerbslose registriert, und im Winter 1983/1984 wurde ein erster Höchststand von 2,5 Millionen erreicht. Damit war die Arbeitslosigkeit binnen einer Dekade zum drückendsten wirtschaftspolitischen Problem geworden. Auch nach Überwindung des Ölpreisschocks in der zweiten Hälfte der 70er Jahre blieb ein Sockel von rund 800.000 Erwerbslosen erhalten, wobei die stille Reserve der nicht beim Arbeitsamt erfassten oder nicht Arbeit suchend gemeldeten Erwerbslosen hier nicht erfasst ist. Bereits jetzt verhinderte nur eine massive staatliche Konjunkturstützung das erneute Überschreiten der Millionengrenze. Auffallend ist vor allem, dass bei sämtlichen Rezessionen seit Mitte der 70er Jahre die Arbeitslosigkeit trotz Wegfalls konjunktureller Ursachen nur unzureichend abgebaut werden konnte.

Mit der „Wende“ 1982/1983 begann eine bis in die heutige Zeit anhaltende neoliberale Phase der Wirtschaftspolitik. Als vordringliche Aufgaben des Staates erschien die Rückführung der Haushaltsdefizite durch Beschränkung der öffentlichen Ausgaben, Konzentration auf die eigentlichen öffentlichen Aufgaben, Subventionsabbau und Umschichtung des Haushalts hin zu Infrastrukturinvestitionen. Auf diesem Wege sollten steuerliche Entlastungen ermöglicht werden, die wiederum als anregender Impuls auf die Entwicklung von Konsum und Investitionen einwirken und einen Wachstumsschub auslösen sollten. Um dem freien Spiel der Marktkräfte Raum zu geben, war die Deregulierung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt vorgesehen, ebenso die Lohnreduzierung. Auf der „Agenda“ stand bereits damals auch die Lohnreduzierung bei Arbeitsplätzen mit geringen Qualifikationsanforderungen („Randbelegschaften“).

Zwar wurden bis 1991 3 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen, aber es etablierte sich eine feste Sockelerwerbslosigkeit von 1,7 Millionen. Die Reduzierung der Arbeitslosenzahl gelang also auch in den 80ern nur begrenzt. Ursachen waren u.a. die Zunahme der Erwerbstätigenzahl durch die vermehrte Berufstätigkeit von Frauen und der Zustrom von Aussiedlern, Ausländern und Asylbewerbern - auch wenn diese Feststellungen als unpopulär erscheinen mögen. Durch Arbeitsmigration können Verdrängungseffekte zu Ungunsten weniger „leistungsfähigerer“ oder „anpassungsfähigerer“ Inländer auftreten, da die Zuwanderer mit diesen um Arbeitsplätze in den gering qualifizierten Randbelegschaften konkurrieren. Umgekehrt ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Mehrbeschäftigung und Konsumanstieg in den 80er Jahren ohne die Zuwanderung nicht erreichbar gewesen wären - die Zahl alteingesessener Erwerbspersonen war infolge der Überalterung der Gesellschaft bereits rückläufig. Grenzöffnung, also Arbeitsmigration, wird im Übrigen auch gezielt von interessierten Kreisen (Arbeitgeberseite) propagiert, um die Gewerkschaften unter Druck zu setzen und die Tariflöhne abzusenken.

Der partielle Aufschwung in den 80er Jahren war auch auf günstige internationale Bedingungen wie Dollaraufwertung und Ölpreisverfall zurückzuführen. Die von den Gewerkschaften durchgesetzten Arbeitszeitverkürzungen durch wirkten sich ebenfalls positiv auf die Beschäftigung aus. Nach 1991 kam der Wendeboom, ausgelöst durch die Kreditfinanzierung des Aufbaues Ost und den Nachholkonsum der Ost-deutschen. Das Jahr 1993 sah den ersten Konjunkturabschwung mit schwerer Rezession, die durch eine kurze Aufschwungphase 1994 unterbrochen wurde. Im Winter 1995/96 waren 4 Millionen Arbeitslose registriert, im Winter 1996/97 schon 4,7 Millionen. Auf diesem Niveau hat sich die Erwerbslosigkeit bis auf den heutigen Tag weitgehend stabilisiert.

Hinzuzurechnen ist noch die stille Reserve, so dass im Grunde genommen ein Fehlbestand von bis zu 7,5 Millionen Arbeitsplätzen vorliegt. Die Ursachen für die dramatische Situation auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt werden im folgenden Abschnitt dargestellt.

Seit den 80er Jahren entwickelt sich die Zweidrittelgesellschaft: Zwei Drittel arbeiten, ein Drittel nicht. Hier kann eine Unterscheidung nach drei Kategorien vorgenommen werden: Zunächst haben wir eine Gruppe von weniger als einem Drittel der Erwerbstätigen, welche in kreativen und zufrieden stellenden Berufen Selbstverwirklichung und Befriedigung ihrer materiellen wie seelischen Bedürfnisse findet. Die größere Gruppe geht weitgehend entfremdeten Tätigkeiten nach, und kann via Arbeitslohn halbwegs bedürfnisgerecht an der Konsumgesellschaft teilhaben. Infolge des steigenden Konkurrenzkampfes um die Arbeitsplätze erhöht sich der psychische wie materielle Druck auf diese Gruppe. Und aufgrund der verschärften Konkurrenzsituation wächst die dritte Gruppe, das Heer der registrierten und unregistrierten Arbeitslosen, an, ausgesondert vom kapitalistischen Verwertungsprozess.

Die Aussonderung könnte infolge der Modernisierung und Technisierung im Extremfall so weit gehen, dass die BRD ihr Produktionsvolumen mit nur 24 der 39 Millionen Erwerbspersonen halten kann. Andere Autoren gehen gar von einer Einfünftelgesellschaft aus, die sich im Verlaufe des 21. Jahrhunderts entwickeln kann: Ein Fünftel der arbeitsfähigen Bevölkerung reicht aus, um die Weltwirtschaft in Schwung zu halten. Zukunftsforscher prophezeien, dass sich die Menschheit zwangsläufig in Arbeitende und Arbeitslose zweiteilen wird.

 

Ursachen der Massenarbeitslosigkeit

Konjunkturelle Erwerbslosigkeit

Zunächst ist die konjunkturelle Arbeitslosigkeit zu nennen, eine typische Begleiterscheinung von periodischen Schwankungen im Wirtschaftsablauf marktwirtschaftlich-kapitalistischer Volkswirtschaften. Hierbei handelt es sich um eine Auswirkung des Rückganges der gesamtgesellschaftlichen Nachfrage infolge einer Rezessionsphase. Ist die Nachfrage im Verhältnis zum Warenangebot zu gering, reagieren die Privatunternehmen mit Produktionseinschränkung und Entlassungen. Ein Nachfragerückgang setzt ein, wenn in der vorgelagerten Konsumgüterindustrie die Nachfrage nicht mehr die bisherigen Wachstumsraten aufweist. Die Unternehmen sind daher vorsichtiger mit Investitionen - nun wird die Investitionsgüterindustrie erfasst. Das Ansteigen der Arbeitslosigkeit trifft wiederum die Konsumgüterindustrie, ein fataler Kreislauf entsteht. Eine weitere mögliche Ursache sind Schwankungen in der Auslandsnachfrage, welche in Zeiten einer latenten globalen Rezession vor allem das exportorientierte Modell Deutschland empfindlich treffen können. Als Ursache konjunktureller Arbeitslosigkeit ist ferner noch die Kürzung der staatlichen Ausgaben, also der Staatsnachfrage, zu nennen. Allerdings bleibt festzuhalten, dass in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Standpunkt vorherrscht, dass die Arbeitsmarktkrise in der BRD nicht konjunktureller, sondern struktureller Natur ist. Für diese strukturell bedingte Schwäche des Arbeitsmarktes gibt es eine ganze Reihe von Gründen.

Kollaps der DDR-Industrie

Am 1. Juli 1990 wurde der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen BRD und DDR abgeschlossen, welcher einen Export der bundesdeutschen Sozialordnung in die neuen Länder zufolge hatte. Die ökonomische Entwicklung verlief hier mit erheblichen Disparitäten. Zwar erreichten die Investitionen einen auch international hohen Wert, aber sie gingen zu mehr als zwei Dritteln in Bauinvestitionen. Die ostdeutsche Infrastruktur lag darnieder, und das niedrige wirtschaftliche Ausgangsniveau relativierte auch die Steigerungen in Industrie und Dienstleistungssektor. Insgesamt ist der Wertschöpfungsanteil des verarbeitenden Gewerbes auch jetzt noch völlig ungenügend, man kann geradezu von einer Deindustrialisierung im Osten sprechen. Gerade die Industrien waren jedoch einer der Hauptträger der Beschäftigung.

Die rasche Privatisierung durch die Treuhand führte zu einem rigorosen Stellenabbau durch die Investoren. Ostdeutschlands veraltete Betriebe wurden nach Jahrzehnten der Planwirtschaft über Nacht dem nationalen und internationalen Wettbewerb ausgesetzt, der Kollaps der DDR-Industrie war die Folge. Alleine bis Anfang 1992 wurden 4 Millionen Arbeitsplätze vernichtet: Bereits im Frühjahr 1992 waren 43 % aller ostdeutschen Haushalte von mindestens einem Fall von Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen betroffen.

Als problematisch erwies sich auch die zu rasche Steigerung der Tarifgrundlöhne in der Ex-DDR: Die Ausgangslohnsätze wurden im Vergleich zur westdeutschen Konkurrenz schon 1990 viel zu hoch angesetzt. Sie sind zwar deutlich niedriger als im Westen, aber dieser arbeitet weitaus produktiver - also sind die Lohnstückkosten zu hoch. Produktivitätssteigerungen wurden durch weitere Lohnschübe aus den Stufentarifverträgen ausgeglichen, und der Wettbewerbsnachteil verfestigte sich. Die Lage führte damals sogar zur ersten Kündigung eines Tarifvertrages in der Geschichte der BRD, und zwar durch den Arbeitgeberverband Gesamtmetall.

Strukturelle Rückständigkeit der deutschen Wirtschaft

Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch die „strukturelle Rückständigkeit“ der bundesdeutschen Volkswirtschaft. Während andere Industrienationen, allen voran die USA, sich bereits in den 60er Jahren zu „Dienstleistungsgesellschaften“ entwickelten, setzte man hierzulande weiterhin auf industrielle Massenproduktion. Infolge dessen verzögerte sich die Rationalisierung und Modernisierung in allen Wirtschaftssektoren und damit auch der Übergang zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft.

Die bundesdeutsche Industrie deckte ihren Arbeitskräftebedarf seit den 60er Jahren durch die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte, da nach dem Mauerbau der Zustrom an Ostdeutschen abriss. Diese Entscheidung gehört zu denjenigen, welche die Rückkehr der BRD an die Spitze der nachindustriellen Entwicklung verzögerten. Sie befriedigte die Bedürfnisse der industriellen Massenproduktion nach einfachen Qualifikationen und war der Rückkehr an die ehemalige Spitzenstellung der postindustriellen Wirtschaftsentwicklung (bis zum Zweiten Weltkrieg war Deutschland hinsichtlich chemischer Industrie, Elektro- und Leichtindustrie eine der weltweit führenden Nationen) alles andere als förderlich. Die Verfügbarkeit eines scheinbar unbegrenzten Reservoirs von aus privatwirtschaftlicher Sicht relativ preiswerter Arbeitskraft verzögerte die Rationalisierung in allen Sektoren der BRD-Wirtschaft und damit auch den Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft. Dies gilt vor allem im Vergleich zu Japan oder den USA, die entweder überhaupt keine ausländischen Arbeitskräfte anwarben oder gezielt nach bestimmten Qualifikationen suchten. Die Strukturpolitik der jeweiligen Bundesregierungen war bezeichnenderweise bis weit in die 90er Jahre hinein an den Anforderungen der Industrie und nicht etwa des Dienstleistungssektors orientiert.

Der bundesrepublikanische Wirtschaftskonservatismus zeigt sich auch in der erheblich verspäteten Übernahme moderner Techniken in Personalführung sowie Arbeits- und Produktionsweise, wie sie in Japan oder auch in Skandinavien erprobt waren. Teilweise hielten diese Ansätze erst mit 20- bis 30-jähriger Verspätung in den 90er Jahren Einzug in die BRD. Bemerkenswert erscheint die nach wie vor höhere industrielle Effizienz in Deutschland ansässiger ausländischer Direktinvestoren oder selbst von Auslandskapital kontrollierter deutscher Unternehmen - die angewandten Methoden in Management, Arbeitsorganisation und Produktion sind moderner und effektiver.

Rationalisierungseffekte und Modernisierung setzten in der BRD im internationalen Vergleich also verspätet ein. Der wirtschaftliche Strukturwandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft (Tertiarisierung) kam erst in den 90er Jahren richtig in Schwung. Technischer Wandel schafft neue Arbeitsplätze, vernichtet allerdings auch alte. Rationalisierungen und neue Technologien sind ein Haupterzeuger von Arbeitslosigkeit, vor allem im produzierenden Gewerbe, aber auch im Dienstleistungssektor (Einführung von EDV und Internet in Handel, Banken, Versicherungen etc.). Wiesen die USA Ende der 80er Jahre 70 % Beschäftigtenanteil im tertiären Sektor auf, waren es in der BRD nur 55 %. Die Bundesrepublik wird gerade infolge ihres auch im europäischen Vergleich hohen Anteils an Lohnarbeitern in der Privatwirtschaft (vor der Wiedervereinigung 60 % der Erwerbsbevölkerung) besonders stark von den ökonomischen Strukturveränderungen, wie sie alle entwickelten kapitalistischen Volkswirtschaften durchmachen, betroffen. Umstritten ist zudem, ob der Dienstleistungssektor ein genügendes Kompensationspotenzial besitzt, um den Arbeitsplatzabbau vor allem in der Industrie aufzufangen. Bereits seit den frühen 90er Jahren schwächt sich der Arbeitsplatzzuwachs auf diesem Sektor ab, und auch die Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien helfen hier nicht weiter. Vor allem liegt das Lohnniveau im Dienstleistungsbereich deutlich niedriger als in der Industrie, was sich hinsichtlich der Binnenkaufkraft bemerkbar macht.

Globalisierung

Die BRD ist außenwirtschaftlich durch Exporte, Importe und Kapitalbewegungen äußerst stark verflochten. Aus diesem Grunde ist sie sehr anfällig für außenwirtschaftliche Schocks, wie die Ölpreissteigerungen der 70er und frühen 80er zeigen. Die Weltwirtschaft unterliegt durch den Aufstieg der neuen Industrienationen und der Schwellenländer - südostasiatische Tigerstaaten, aber auch Argentinien, Brasilien etc., vor allem aber Indien und China - einer massiven Strukturveränderung. Der sekundäre Sektor, die klassische Industrieproduktion, verlagert sich parallel zur Tertiarisierung aus den alten Industrienationen in die aufstrebenden neuen Konkurrenten. Der Wandel und die immer engere Verflechtung der Weltwirtschaft, auch als Globalisierung bezeichnet, erzeugen einen verschärften inter-nationalen Wettbewerb, Folgen sind Rationalisierungsdruck und binnenwirtschaftliche Strukturveränderungen.

Arbeitsplätze fallen weg, die Schaffung neuer orientiert sich oftmals am hemmenden Kriterium internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Es entsteht in den entwickelten Volkswirtschaften die Klasse der working poor mit unterdurchschnittlichen Löhnen. Die Bedingungen des liberalisierten Weltmarktes üben allenorts einen Absenkungsdruck auf die Löhne und Sozialstandards aus. Transnationale Konzerne sind im rücksichtslosen Konkurrenzkampf auf günstige Produktionsbedingungen bedacht, was sich in Gestalt von Rationalisierung und Arbeitsplatzabbau bemerkbar macht. Der Extremfall ist die Produktionsverlagerung ins billigere Ausland.

Als Auswirkung der Globalisierung ist auch zu nennen, dass intensive Handelsbeziehungen zu Ländern mit einem breiten Angebot an „unqualifizierter Arbeitskraft“ zur Verlagerung eben dieses Produktionssegments weg aus den entwickelten Volkswirtschaften führen. Umgekehrt steigert dieser Prozess in den „Erstweltländern“ die Nachfrage nach qualifizierter Arbeit (Bedeutungssteigerung des Humankapitalfaktors und „Upgrading“ einfacher Tätigkeiten), was eben die Randbelegschaften dieser Länder hart zu treffen vermag.

Sonstige Ursachen

Ursachen für die Massenarbeitslosigkeit sind auch im maroden Bildungs- und Ausbildungssektor zu finden. Zu viele Abgänger verlassen die Schule ohne Abschluss und haben folgerichtig kaum Aussichten auf eine Berufsausbildung. Die Ausbildungsplatzmisere ist allerdings auch auf die nachlassende Bereitschaft der Betriebe zur Ausbildung zurückzuführen. Mit zunehmender Modernisierung steigen die Qualifikationsanforderungen, es gibt immer weniger Jobs mit niedrigem Anforderungsprofil - die ökonomischen Nischen der Randbelegschaften schrumpfen immer weiter zusammen. Es ist jedoch eine Schwäche der Humankapitaltheorie, dass sie quasi unterstellt, Höherqualifizierung führe automatisch zu einem Arbeitsplatz oder besserer Entlohnung. Quantität und Qualität der Arbeitsmarktnachfrage werden hier nicht mit einbezogen.

Zu erwähnen sind auch die Folgen der Öffnung der EU-Arbeitsmärkte ohne vorherige Vereinbarung gemeinsamer Sozialstandards. Die Lohnniveaus in anderen EU-Ländern sind oftmals deutlich niedriger als in Deutschland. Über Subunternehmer sickern so billige Arbeitskräfte ein, was beispielsweise im Baugewerbe verheerende Folgen hatte.

 

Folgen der Massenarbeitslosigkeit

Schwächung der Gewerkschaften

Im Zeitalter der Massenarbeitslosigkeit und der Globalisierung sind die goldenen Zeiten der Gewerkschaften vorüber. Arbeitsplatzverluste in den Großindustrien als traditionelle Hochburgen der Arbeiterbewegung schwächen die Position des DGB. Zwar haben die Gewerkschaften in der BRD im internationalen Vergleich noch eine starke Stellung, doch diese bröckelt zusehends ab, wie die jüngsten Arbeitskämpfe in der Metall- und Elektroindustrie gezeigt haben. Die Zeiten der einvernehmlichen Konfliktlösung (Sozialpartnerschaft der 80er Jahre) gehen nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Konkurrenzdrucks zwischen den Transnationalen Konzernen ihrem Ende zu. Die Gewerkschaftsbewegung ist durch Massenarbeitslosigkeit, Deregulierung und Aushöhlung der Flächentarife in die Defensive gedrängt. Eine weitere Gefährdung stellt der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft dar. Angestellte weisen nach wie vor nur einen geringen gewerkschaftlichen Organisierungsgrad auf.

Verteilungskonflikte

Die personen- und haushaltsbezogenen Dienstleistungen als Hauptwachstumsbranche des Tertiärsektors dazu, Niedriglohnarbeitsplätze zu schaffen. Diese Entwicklung kann einen Lohn- und Verteilungskonflikt zwischen Industrie- und Dienstleistungsgewerkschaften auslösen. Die Industrie kann sich auch bei hohem internationalem Wettbewerb zukünftig hohe Lohnsteigerungen erlauben - im Gegensatz zu weiten Teilen des Dienstleistungssektors. Hier entstehen neue Arbeitsplätze nur bei moderater Lohnentwicklung. Folgen die Dienstleistungsgewerkschaften der Hochlohnpolitik der Industriegewerkschaften, verringert sich die Zahl neu entstehender Arbeitsplätze. Folgen die Industriegewerkschaften der Lohnentwicklung im tertiären Sektor, liegen die Lohnabschlüsse unterhalb der Wachstumsrate der Arbeitsproduktivitität. Schließen die Dienstleistungsgewerkschaften deutlich niedriger als die Industriegewerkschaften ab, entstehen billige Arbeitsplätze zweiter Klasse. Die Folge kann also ein Verteilungskonflikt zwischen potenziellem Produktionswachstum und lohngespeister Konsumnachfrage sein, was erhebliche destabilisierende Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft haben dürfte.

Langfristig kann bei anhaltendem ökonomisch-gesetzgeberischen Druck auf die Arbeitslosen auch ein massiver Interessenkonflikt mit den Gewerkschaften die Folge sein. Die tendenziell eher gewerkschaftlich organisierten Arbeitsplatzbesitzer als „Insider“ werden sich gegen den Versuch der erwerbslosen „Outsider“ zur Wehr setzen, durch Lohnunterbietung eine Beschäftigung zu erhalten. Als Paradebeispiel nennen wir Betriebe mit einer Mischung aus Festbelegschaft und Leiharbeitnehmern - hier sind derartige Spannungen bereits spürbar.

Belastungen der Gesamtgesellschaft

Die Auswirkungen von steigender Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, niedrigen Tarifabschlüssen und rückläufigen Realeinkommen schlagen auf die Finanzmittel der Gesetzlichen Krankenversicherung durch, und zwar in Form eines fallenden Gesamtvolumens der Mitgliedsbeiträge. Hinzu kommt die hohe Zahl der vorzeitig in Rente gehenden Erwerbslosen - nur wenige Betriebe beschäftigen noch teure Arbeitnehmer jenseits der 50. Durch die faktische Abschiebung älterer Arbeitsloser in die Rentenversicherung und die Massenarbeitslosigkeit verschlechtert sich die Relation zwischen erwerbstätigen und nichterwerbstätigen Mitgliedern der GKV. Immer weniger arbeitende Krankenversicherte müssen für immer mehr nicht arbeitende aufkommen. Die enge Verzahnung der beiden Sozialversicherungen lässt sich daran ablesen, dass die Transferzahlungen aus der letzteren die zweitwichtigste Finanzquelle der Krankenversicherung nach den Mitgliedsbeiträgen sind.

Die Arbeitslosenversicherung wird durch die Massenarbeitslosigkeit belastet bis überlastet, es greift die Letztverpflichtung des Bundes. Dieser ist in Zeiten mangelnder Liquidität zuschusspflichtig, um die Leistungserbringung sicherstellen zu können. Belastet werden auch die Kommunen, denn Langzeitarbeitslose mit erschöpftem oder Arbeitslose ohne jeglichen Leistungsanspruch beziehen Sozialhilfe bzw. ab Januar 2005 die Grundsicherung nach Hartz IV (Kosten für Unterkunft und Heizkosten obliegen weiterhin den Kommunen). Die Zahl der Sozialhilfeempfänger stieg beispielsweise alleine in den alten Bundesländern bis Mitte der 90er Jahre um 500 % an!

Nicht nur die Gesamtgesellschaft, die ALV und die Volkswirtschaft (Konsumausfall!) sind von den Kosten der Massenerwerbslosigkeit betroffen, sondern auch die Arbeitslosen selbst. Der Verlust des Arbeitsplatzes ist mit erheblichen finanziellen Einbußen verbunden, da die durchschnittlichen Leistungssätze weit unter dem Durchschnittseinkommen liegen. Bei Nichtbedienbarkeit finanzieller Verpflichtungen ist Verschuldung die zwangsläufige Folge, hinzu kommt der Verlust von Mitteln der Alters- und Lebensvorsorge bei Empfängern von Arbeitslosenhilfe.

Dualisierung der Gesellschaft

Zu den Gefahren der Massenarbeitslosigkeit zählt die Dualisierung der Gesellschaft. Diese polarisiert sich in gut verdienende Facharbeitskräfte in sicheren Positionen und niedrig entlohnte Randbelegschaften in gefährdeten Jobs, verstärkt durch die die wachsende industrielle Reservearmee der Arbeitslosen. Dieses Szenario stellt eine erhebliche Bedrohung für den Bestand von Staat, Gesellschaft und Verfassung dar und kann ab einem gewissen Grad gefährlich werden, bezieht die Bundesrepublik ihre Legitimation nicht zuletzt aus der bis zum Beginn der Krise relativ breiten Wohlstandsverteilung durch die Soziale Marktwirtschaft.

Noch verschärft werden diese Tendenzen durch die neoliberalen Tendenzen in der Wirtschaftspolitik. Die Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt und damit in der Gesamtgesellschaft sind politisch gewollt. Ziel der Deregulierung des Arbeitsmarktes ist nicht zuletzt das Aufbrechen der tariflichen Lohnuntergrenzen zugunsten der Schaffung von Billigjobs.

Schon der Armutsbericht des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes von 1994 konstatierte, dass 9,1 % der Bevölkerung in Einkommensarmut leben = 7,25 Millionen Menschen. Das Schlagwort von der Neuen Armut macht die Runde. Deutschland ist eine doppelt gespaltene Gesellschaft, nicht nur in Facharbeitskräfte und Randbelegschaften/Arbeitslose, sondern auch in Ost und West. Die Einkommensarmut ist im Osten beinahe doppelt so hoch wie im Westen. Vor allem in der Ex-DDR besteht eine steigende soziale Ungleichheit hinsichtlich Einkommens- und Lebenslagen. Soziale Problemgruppen sind vor allem Langzeitarbeitslose, Arbeitslose ohne Ausbildung, Arbeitslose über 45 Jahren (deren Lage mittlerweile dramatisch ist), Jugendliche, Ausländer und Frauen. Die Langzeitarbeitslosigkeit kann nur durch eine lang andauernde Aufschwungphase abgebaut werden, wenige Jahre wie beispielsweise der Wendeboom sind offenbar nicht genug hierfür. Fraglich erscheint allerdings, ob im kapitalistischen Weltsystem derartige Aufschwungphasen überhaupt noch möglich sind.

Resultat der Dualisierung, also der Marginalisierung ganzer Bevölkerungsschichten, sind wachsende Armut, Wohnungsnot, Kriminalität und immens zunehmende Soziallasten. Namentlich bei den deklassierten Migranten braut sich ein gefährlicher sozialer Sprengsatz zusammen, wie die Tendenz hin zur Ghettoisierung in Großstädten wie Berlin („Problemkieze“) zeigt.

Problemgruppenarbeitslosigkeit

Auffallend ist zunächst der seit 1993 immer mehr anwachsende Anteil der Langzeitarbeitslosen. Lediglich zwischen 1989 und 1993 gelang ein geringer Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit, aber die 93er Rezession reichte aus, um alle Fortschritte zunichte zu machen. Die Langzeitarbeitslosigkeit baut sich erheblich leichter auf als ab. Ab 1996 sind hier Männer deutlich überrepräsentiert. Im Jahr 2002 war jeder zweite Erwerbslose länger als ein Jahr erwerbslos. Noch dramatischer ist die Lage im Osten, wo die Zahl der Haushalte mit männlichen Erwerbslosen seit Mitte der 90er Jahre konstant doppelt so hoch ist.

Langzeitarbeitslosigkeit ist in erster Linie eine Problemgruppenarbeitslosigkeit. Zu nennen sind in dieser Reihenfolge ältere Arbeitnehmer, gering Qualifizierte, Ausländer, Personen mit gesundheitlichen Problemen und Frauen. Gerade die ersten drei Gruppen sind besonders anfällig für Langzeitarbeitslosigkeit, was bei älteren Jahrgängen schon seit den 80er Jahren beobachtet wurde. Allerdings sollte man sich vor dem Credo hüten, dass besonders benachteiligte Personengruppen stabil sind, beispielsweise gelang im Jahrzehnt zwischen 1983 und 1992 ein deutlicher Abbau der Erwerbslosigkeit bei Frauen und Ausländern.

Nicht zuletzt aus Gründen der Lohnkostensenkung erfolgte im Zuge der technischen Revolution seit den 70er Jahren die Wegrationalisierung der Arbeitsplätze in den unteren Lohngruppen (das so genannte unstrukturierte Segment des Arbeitsmarktes, die Randbelegschaften). Einfacharbeit verlagert sich ins Ausland oder wird zu anspruchsvolleren Tätigkeiten aufgewertet. Es wird vermutet, dass in der BRD sogar weitaus mehr Niedriglohnjobs vernichtet wurden als im internationalen Vergleich - was auch durch eine neuere Studie belegt wird, nach der die BRD im Bereich der Arbeitslosigkeit Geringqualifizierter den Spitzenplatz innerhalb der OECD belegt. 40 % aller Geringqualifizierten hatten sich 2002 bereits aus dem aktiven Erwerbsleben zurückgezogen, bis zu 25 % sind als arbeitslos gemeldet.

Infolge der Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit sowie durch den Zustrom von Schülern und Studenten herrscht auf diesem Sektor ohnehin ein erheblicher Andrang mit starkem Verdrängungsdruck, weiter verschärft eben durch den Stellenabbau. Personen mit geringwertigen Qualifikationen leiden vor allem in konjunkturell schwachen Zeiten zu einem hohen Arbeitslosigkeitsrisiko. Betroffen sind tendenziell mehr Männer. Langzeiterwerbslose sind zu 75 % gering- oder unqualifiziert. Umstritten ist, ob die so genannte Randgruppenarbeitslosigkeit letztlich rein konjunkturell verursacht ist. Allerdings ist es ebenfalls fraglich, ob ein für den Abbau erforderlicher Konjunkturschub überhaupt noch möglich ist. In jedem Fall wird ein „Bodensatz“ an Arbeitsüberangebot bestehen bleiben.

Mismatch-Erwerbslosigkeit

Ein Teil der Arbeitnehmerschaft besitzt unpassende Qualifikationen. Ursachen können das Studium wenig aussichtsreicher Fächer, eine Berufsausbildung in den aussterbenden Berufen der Montan- und Textilindustrie usw. sein. In der BRD als Hochlohnland sind die Anforderungen am Arbeitsplatz sehr hoch, und oftmals sind die Qualifikationen der Arbeitslosen zu geringwertig. In diesen Zusammenhang gehören auch die Ausbildungsmängel der Institutionen Schule und Universität. Bereits Anfang der 90er Jahre, also während des Wendebooms, wurde mit einer halben Million von Mismatch-Erwerbslosen gerechnet.

Ein Abbau der Mismatch-Erwerbslosen ist angesichts ihrer Fehl- oder Nichtqualifikation auch in Anbetracht der demographischen Entwicklung fraglich. Die Mismatch-Erwerbslosigkeit kann langfristig zur Entstehung eines völlig chancenlosen Arbeitsmarktproletariats führen. Allerdings schützt auch eine hohe Qualifikation nicht vor strukturell bedingter Arbeitslosigkeit: Im Osten sind Ausbildungs- und Bildungsniveau der Erwerbslosen weitaus höher als im Westen, und dennoch ist die durchschnittliche Arbeitslosenquote doppelt so hoch.

Jugendarbeitslosigkeit

Ursache für die vermehrte Arbeitslosigkeit von Jugendlichen bzw. Jungarbeitnehmern ist nicht zuletzt die verringerte Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen - nur noch jeder 4. Betrieb bildet überhaupt aus. Hunderttausende werden in schulischen oder berufsqualifizierenden Maßnahmen „geparkt“. Gründe sind der Kostenfaktor sowie die eingeschränkte Nutzbarkeit jugendlicher Arbeitskraft (Berufsschule, Arbeitszeitbeschränkung usw.). Hiervon abgesehen, gibt es allerdings auch Anzeichen für eine gewisse Passivität von Jungarbeitnehmern gegenüber dem Risiko Arbeitslosigkeit. Allerdings ist die Lage der Jungarbeitnehmer nicht mehr so dramatisch wie noch in den 70er und frühen 80er Jahren.

Erwerbslosigkeit von Ausländern

Unter den Jugendlichen sind überproportional viele Ausländer von Arbeitslosigkeit betroffen; ihr Anteil steigt seit Anfang der 80er Jahre kontinuierlich an. Die Arbeitslosenquote von Einwanderern aus Nicht-EU-Altstaaten und ihren Nachfahren ist mehr als doppelt so hoch, und die Wahrscheinlichkeit, dass ein ausländischer Arbeitsloser jemals wieder einen Arbeitsplatz findet, ist verheerend gering (25 % bei Türken!). Ausländer stellen eine so genannte harte Randgruppe mit einer konstant überdurchschnittlich hohen Erwerbslosenquote dar. Sie haben generell schlechte Arbeitsmarktchancen und finden selbst in der wissenschaftlichen Theoriediskussion nur eine geringe Beachtung. Verheerend wirkten sich hier die Einbrüche und Rationalisierungen im Bereich der Elektro- und Maschinenbauindustrie aus. Migranten und ihre Nachkommen sind vor allem durch ein tendenziell niedrigeres Ausbildungsniveau mit einem sehr hohen Anteil an Ungelernten benachteiligt. Vor allem die Kindergenerationen sind infolge der auf ganzer Linie gescheiterten Bemühungen zur Ausländerintegration (Sprachschwierigkeiten, Ghettobildung) von Erwerbslosigkeit betroffen.

Erwerbslosigkeit von Älteren

Ältere Arbeitnehmer sind generell stark von Arbeitslosigkeit betroffen. Darüber hinaus sind sie auch stark bei den Erwerbslosen mit gesundheitlichen Einschränkungen vertreten (siehe unten). Der Ausbildungsstand spielt hier nur eine geringe Rolle. Hauptursachen der Arbeitslosigkeit sind hier die Lohnnebenkosten, die höheren Sozialstandards und der höhere Krankenstand von Erwerbslosen ab 45 Jahren, also betriebswirtschaftliche Kalkulationen. Erwerbslosigkeit älterer Arbeitnehmer tritt vor allem in schrumpfenden Branchen auf. Ab 55 scheidet der von Arbeitslosigkeit Betroffene faktisch aus dem Erwerbsleben aus. Die Zahl älterer Erwerbsloser hat die Millionengrenze bereits Mitte der 90er Jahre überschritten. Im Jahre 2002 waren 10 % aller Arbeitnehmer über 55 Jahren arbeitslos, und 57 % hatten sich aus dem aktiven Erwerbsleben zurückgezogen. Unter Berücksichtigung der zahlreichen Vorruheständler (nicht zuletzt im Osten) ist die Lage noch dramatischer.

Erwerbslosigkeit von Frauen

Ein Hauptgrund für weibliche Erwerbslosigkeit ist die Tatsache, dass Kinder im betriebswirtschaftlichen Kalkül Kosten für den Unternehmer verursachen (Mutterschutz etc.). Die Quote weiblicher Arbeitslosigkeit gleicht sich langsam, sehr langsam derjenigen der Männer an, was allerdings auf die rapidere Zunahme männlicher Erwerbslosigkeit zurückzuführen ist. Bei den neu auf den Arbeitsmarkt strömenden Geringqualifizierten sind männliche Jugendliche sogar deutlich überrepräsentiert und werden künftig einen großen und wachsenden Teil dieser Gruppe stellen. Frauen stellen vor allem im Bereich der Jungarbeitslosen in den vergangenen Jahren keine Problemgruppe mehr dar - mit der Ausnahme ausländischer Arbeitnehmerinnen. Im Bereich der älteren Arbeitnehmer sind Frauen ebenfalls weniger von Erwerbslosigkeit betroffen, wobei allerdings seit 1993 wieder ein Trend hin zu einem überdurchschnittlichen Zuwachs weiblicher Erwerbslosigkeit zu beobachten ist (Stellenabbau im Dienstleistungssektor!). Problematisch ist die Lage natürlich im Osten, wo nach der Wiedervereinigung die Frauen als erste aus dem Arbeitsleben verdrängt wurden.

Arbeitslose mit gesundheitlichen Einschränkungen

Menschen mit geistigen, körperlichen oder psychischen „Funktionsbeeinträchtigungen“ sind doppelt so oft erwerbslos wie der Durchschnitt. Ihre Situation ist dermaßen schlecht, dass 75 % von ihnen vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Interessanter weise kommen die meisten Schwerbehinderungen und chronischen Erkrankungen allerdings durch die Auswirkungen eben dieses Erwerbslebens zustande. Auch hier regiert wieder die Kostenkalkulation der Betriebe (Krankenstand, Sondermaßnahmen für Behinderte usw.). Arbeitsbedingte Krankheiten und arbeitsbedingter Verschleiß werden unzureichend durch das Sozialversicherungssystem abgedeckt und sind zudem unklar definiert. Die Kehrseite der Medaille besteht zudem noch darin, dass Erwerbslose ein weitaus höheres Krankheitsrisiko aufweisen als Berufstätige, ein Teufelskreis ist die Folge. In Zeiten, in denen Gesundheitschecks sich als Voraussetzung für einen Arbeitsvertrag etablieren, hat ein chronisch kranker oder behinderter Erwerbsloser faktisch keinerlei Aussicht auf einen Arbeitsplatz mehr.

Psychosoziale Folgen

Arbeitslosigkeit ist nicht nur für den Einzelnen eine erhebliche Belastung. Sie trifft auch die unter den finanziellen Einbußen leidenden Familien. Zu den materiellen Auswirkungen gesellen sich die psychischen und sozialen. Das persönliche und soziale Selbstwertgefühl erfährt eine Minderung, da Arbeitslosigkeit nach wie vor als Folge persönlichen Versagens gedeutet wird. Gravierende Folgen sind auch die Auflösung familiärer und gesellschaftlicher Bindungen und die Ausgrenzung aus der Spaßgesellschaft. Die sozialen Kontakte zu Arbeitskollegen und damit auch die Anerkennung gehen verloren, die Möglichkeit zur persönlichen Selbstdarstellung im Berufsleben entfällt. Innerhalb der Familien erfolgt ein Autoritätsverlust durch Beeinträchtigung der Ernährerfunktion. Hinzu kommen individuelle Ohnmacht bei erfolgloser Arbeitssuche und wiederholter Arbeitslosigkeit das Gefühl der Abhängigkeit von Arbeits- und Sozialamt sowie das Aufkommen individueller Schuldgefühle. Der Alltagsrhythmus zwischen Arbeit und Freiheit gerät aus den Fugen. Nicht zuletzt bewirkt die Erwerbslosigkeit einen Verlust an Lebensperspektive.

Vor allem Langzeitarbeitslosigkeit ist in einem Kulturkreis, in dem Erwerbsarbeit das primäre Mittel sozialer Existenzsicherung und eine vorrangige Quelle von Lebenssinn ist, geradezu eine Verletzung der Menschenwürde.

Schlussbetrachtung

Die kritische Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt lässt sich nicht monokausal erklären. Als Hauptursache der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit kann keinesfalls eine Konjunkturdelle angesehen werden. Wir haben es vielmehr mit den Auswirkungen sowohl des sozioökonomischen Wandels als auch der Globalisierung zu tun.

Die Bundesrepublik ist, wie alle entwickelten Industrienationen, dabei, sich von einer Industrie- in eine Dienstleistungsgesellschaft zu verwandeln. Allerdings hinkt sie dieser Entwicklung deutlich hinterher, so dass die Folgen der Tertiarisierung erst seit den 90er Jahren voll auf Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Gesellschaft durchschlagen. Hinzu gesellen sich die Einflüsse der Globalisierung: Der harte internationale Wettbewerb ist dazu angetan, in der Wirtschaft Rationalisierungs- und Modernisierungsprozesse voranzutreiben - mitunter ohne jede Rücksicht auf die gesamtgesellschaftlichen Folgen. Unter dem Einfluss neoliberaler Theoretiker neigt die Bundesregierung dazu, die „Standortvorteile“ des Modells Deutschland durch Deregulierung und Sozialdumping (Agenda 2010) zu verbessern.

Die Beschäftigungskrise schwächt nicht zuletzt die Gewerkschaften, die ihre Rolle als Gegenmacht gegen Konzern- und Regierungsinteressen immer weniger zu erfüllen vermögen.

Während Arbeitslosigkeit bereits für den Einzelnen eine erhebliche Belastung, sowohl sozialpsychologisch als ökonomisch betrachtet, darstellt, überlastet sie bei massenhaftem Auftreten die sozialen Sicherungssysteme wie Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung.

Bei weiterem Andauern der Arbeitsmarktkrise - und ein Ende ist in der Tat nicht absehbar - droht soziale Destabilisierung, und zwar durch Massenarmut und Verteilungskämpfe. Die gesellschaftliche Dualisierung und die Krise allgemein können langfristig die politische Stabilität unterminieren, da gerade die Bundesrepublik Deutschland seit den Wirtschaftswunderjahren ihre Legitimation aus einer erfolgreichen und am Allgemeinwohl orientierten Wirtschaftspolitik bezieht.

 

 

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