Wirtschaft und Soziales

 

Der EU-Gipfel in Nizza

 

Die Nacht der langen Messer - Die EU in der Krise?

 

Verfasser: Richard Schapke

 

"Der Gipfel von Nizza wird in die Geschichte Europas als ein großer Gipfel eingehen."
Jacques Chirac, französischer Staatspräsident
 
"Wir haben das hinbekommen, was zu erreichen gewesen war."
Gerhard Schröder, Bundeskanzler
 

"Wenn es so weitergeht, werden wir uns in einer richtigen Krise wiederfinden. Was sich da zwischen Deutschland und Frankreich abspielt, ich habe so etwas noch nicht gesehen."

Wim Kok, niederländischer Ministerpraesident

 

Vorbemerkung

Sinn und Zweck des vorliegenden Aufsatzes ist nicht die Agitation, sondern die Information. Genau wie das derzeitige System in der BRD ist die Europäische Union eine politische und wirtschaftliche Realität, und gerade der gescheiterte EU-Reformgipfel von Nizza bietet einen hervorragenden Anlaß, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und die internen Zustände sowie die Interessen vor allem der BRD und Frankreichs zu beleuchten. Ferner bietet der Nizza-Vertrag einen Ausblick auf die künftige Entwicklung der schwerfälligen Maschinerie in Brüssel vor allem im Hinblick auf die anstehende Süd-Ost-Erweiterung. Aus Platzgründen wurde auf eine nähere Erläuterung institutioneller Begriffe und Verfahrensweisen verzichtet - Konversationslexika oder Handbücher bieten hier Abhilfe.

 

Dienstag, 30. November 2000

Die spanische Presse meldet nach der Begegnung zwischen dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac, zugleich auch EU-Ratspräsident, und Ministerpräsident Aznar, es zeichneten sich Differenzen zwischen Paris und Berlin ab. Chirac habe sich dagegen ausgesprochen, daß die BRD im EU-Ministerrat entsprechend ihres höheren demographischen Gewichtes mehr Stimmen als Frankreich erhalte. Der deutsch-französische Pakt in Europa beruhe auf Bedingungen der Gleichheit, was schon bei der Aussöhnung zwischen de Gaulle und Adenauer Grundsatz gewesen sei: "Nach all den Kriegen mit zahllosen Toten und all den Grausamkeiten schlossen beide Staatsmänner auf der Grundlage der Gleichberechtigung einen Pakt der definitiven Versöhnung." Mit der Bemerkung, dieser Grundsatz sei unumstößlich, schmettert Chirac Schröders Regierungserklärung ab, in welcher eine Rücksichtnahme auf "demographische Tatsachen" gefordert wurde. Im Ministerrat sind Frankreich (58,5 Millionen Einwohner) und die BRD (82 Millionen Einwohner) mit der gleichen Stimmenanzahl vertreten.

In der Tat versucht Berlin, über die demographische Karte die Vormachtstellung in Kontinentaleuropa zu erreichen und bringt damit die für die europäische Stabilität unerläßliche deutsch-französische Symmetrie ins Wanken. Spanien zeigt sich dagegen bereit, der BRD aufgrund ihrer Einwohnerzahl mehr Gewicht einzuräumen. Jedoch verknüpft Madrid damit die Forderung, daß Spanien in die Gruppe der "Großen" im Ministerrat aufgenommen wird. Die BRD, Frankreich, Großbritannien und Italien sind hier mit je 10 Stimmen vertreten, während Spanien nur 8 besitzt.

Angesichts der Mißtöne erhebt Schröders Vizeregierungssprecherin Charima Reinhardt die Neuausrichtung der Stimmgewichtung zur entscheidenden Voraussetzung für die Erweiterungsfähigkeit der EU. EU-Kommissionspräsident Prodi warnt bereits vor einem Scheitern des Gipfels und mahnt vor allem Frankreich zur Kompromißbereitschaft. Die Presse unkt, in Nizza stehe die Nacht der langen Messer bevor.

Spanien ist die 8. Station der umfangreichen Vorbereitungsreise Chiracs für den Nizza-Gipfel, die ihn über insgesamt 20.000 Flugkilometer führt. Die vorausgehenden Gespräche in Wien verliefen in eisiger Atmosphäre, Station Nummer 9 wird Hannover sein. Insgesamt wird auf Beamten- und Regierungsebene 325 Stunden lang zur Vorbereitung des Reformgipfels verhandelt.

 

Samstag, 02.12.2000

In Hannover bekräftigen Schröder und Chirac ihren Einigungswillen. Nizza werde nicht an deutsch-französischen Differenzen scheitern. Die Stimmengewichtung sei kein bilaterales Problem, sondern gehe auch die kleineren und mittleren Staaten an. Hierbei werde man jedoch darauf hinarbeiten, daß die "Großen" von den kleineren Mitgliedern nicht in die Defensive gedrängt werden. Chirac verlängert den Nizza-Gipfel wohlweislich von 2 auf 4 Tage.

 

Sonntag, 03.12.2000

Bis zum nächsten Tag halten die Außenminister der EU ihre Konferenz in Brüssel ab. Joschka Fischer gibt sich optimistisch, obwohl kein abschlußreifer Kompromiß vorhanden ist. Berlin bringt sein Modell der doppelten Mehrheit ins Spiel: Die Entscheidungen der EU benötigen eine Stimmenmehrheit der Mitgliedsländer und zugleich eine demographische Mehrheit der Gesamtbevölkerung. Durch Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips soll die schwerfällige EU flexibler und handlungsfähiger werden. Die Komplexe Stimmrechte und Größe der EU-Kommission werden jedoch zur Chefsache erhoben und auf Nizza abgewälzt. Frankreichs Außenminister Vedrine äußert, 48 der 70 EU-Vertragsartikel könnten theoretisch in die qualifizierte Mehrheit überführt werden. Viele Staaten haben ihre "speziellen Hobbies" und beharren auf ihrem Vetorecht in bestimmten Bereichen: Die BRD bei Asyl- und Einwanderungspolitik, Frankreich beim Dienstleistungshandel.

Hinsichtlich der Bildung von Avantgardegruppen, die dem Gros der EU auf dem Pfad der europäischen Einigung voranschreiten, ist Land in Sicht: Kleine Gruppen von Mitgliedsstaaten sollen den anderen beispielsweise bei der Kriminalitätsbekämpfung vorangehen können. Fischer argumentiert, nach den bisherigen Stimmverhältnissen im Ministerrat werde nach einer neuen Erweiterung eine Mehrheit von "Kleinen" die "Großen" überstimmen können, und daher müsse neu gewichtet werden.

Die EU vereinbart eine Beitrittspartnerschaft mit der Türkei und leitet damit den Aufnahmeprozeß Ankaras ein. Das Hauptthema Zypern wird in den politischen Dialog der EU mit der Türkei aufgenommen. Vor allem Griechenland stellt weitreichende Forderungen hinsichtlich der Grenzen in der Ägäis und Zyperns, so daß intensiv vermittelt werden muß. Die Beitrittsverhandlungen mit den am weitesten fortgeschrittenen Kandidaten in Osteuropa und dem Mittelmeerraum sollen bis Ende 2002 abgeschlossen werden. Ferner bekräftigen die Außenminister die Bereitschaft der EU, ab 2003 militärische Operationen auch ohne die NATO durchzuführen. Ein Kompromißvorschlag zur Reorganisation der aufgeblähten EU-Kommission kursiert. Bis 2005 sollen 20 Kommissare beibehalten werden. Ab 2005 wird jeder EU-Staat nur noch einen Kommissar stellen, wobei die BRD, Frankreich, Spanien und Italien auf jeweils einen Vertreter verzichten müssen. Somit wird Platz für die erste Gruppe der neuen Mitglieder geschaffen, die jeweils einen Kommissar nach Brüssel schicken werden. Ab 2010 ist ein Rotationssystem für die Besetzung der Kommissarsposten vorgesehen.

Im Anschluß an das Außenministertreffen sichert Berlin Paris rückhaltlose Unterstützung bei der EU-Reform zu. Die Mehrheitsfrage wird zum Angelpunkt der Reform erhoben. Hinsichtlich der demographischen Gewichtung sei man jedoch bei grundsätzlicher Anerkennung des deutschen Übergewichtes zu Zugeständnissen bereit.

 

Dienstag, 05.12.2000

In Brüssel treffen die Verteidigungsminister der NATO zusammen. Die Nordamerikaner drängen ihre europäischen Verbündeten, die auf dem Gipfel von Washington beschlossene Aufrüstung und Modernisierung der Streitkräfte endlich umzusetzen - eine Erhöhung der Militäretats ist somit unausweichlich. Die USA, Kanada und Großbritannien warnen massiv vor der Entwicklung einer EU-Parallelstruktur innerhalb der NATO, da diese die westliche Allianz schwächen werde. Die Türkei wiederum fordert den gleichberechtigten Zugang zu den militärpolitischen Gremien der EU. Brüssel will jedoch die Entsendestaaten außerhalb der EU erst dann hinzuziehen, wenn man sich untereinander über eine militärische Mission einig ist. Nicht-EU-Mitglieder haben vorher nur ein Recht auf Information und Konsultation.

Das Europaparlament wird bei der Vorbereitung des Nizza-Gipfels außen vor gelassen und muß befürchten, von der BRD und Frankreich zur reinen Manövriermasse degradiert zu werden. Parlamentarier der Christdemokraten und der Sozialisten warnen bereits, bei der Nichterfüllung von Mindestbedingungen werde man den Nizza-Vertrag ablehnen. Zu diesen Mindestbedingungen gehören die deutliche Ausweitung des Mehrheitsprinzips im Ministerrat und die Gleichberechtigung des Europaparlaments in allen Gereichen, in denen die Mehrheitsentscheidung eingeführt wird. Jo Leinen von der SPD prophezeit, ohne die Gleichberechtigung des Parlaments werde man "den schiefen Turm von Brüssel" beibehalten - und der könne umfallen. Eine Ablehnung der EU-Reform durch das Europaparlament ist zwar unerheblich, weil der Vertrag der Zustimmung des Alibi-Parlaments in Straßburg nicht bedarf, aber das italienische Parlament hat bereits zugesichert, es werde Nizza nur ratifizieren, wenn die EU-Kollegen zustimmen. Eine Ratifizierung durch die nationalen Parlamente ist in allen Mitgliedsstaaten erforderlich.

Konservative wie Sozialisten kritisieren Schröders auf Kosten der Kleinen gehende Verhandlungsstrategie. Der Ministerrat als Organ der Staaten müsse auch die kleineren Mitgliedsländer angemessen berücksichtigen. Im Europaparlament solle man jedoch die Sitze entsprechend des demographischen Gewichts verteilen. Hiervon ist Straßburg derzeit weit entfernt. Ein Abgeordneter aus Luxemburg vertritt 38.000 Bürger, einer aus der BRD 614.000. Bei der Osterweiterung droht zudem ein Sitzverlust der bisherigen Mitglieder, da die Abgeordnetenzahl auf maximal 700 begrenzt ist.

 

Mittwoch, 06.12.2000

Zum EU-Reformgipfel in Nizza versammeln sich 2000 Delegierte, 3000 Medienvertreter und 4500 Polizisten. Schröder kommt direkt aus Warschau, wo er sich zum entschiedenen Fürsprecher einer schnellstmöglichen Aufnahme Polens mit Verhandlungsabschluß spätestens Ende 2001 aufschwang. Vor allem die polnische Landwirtschaft ist meilenweit von der EU-Fähigkeit entfernt, aber schließlich geht es hier um Machtpolitik. Der Bundeskanzler ruft seine Amtskollegen auf, ihre nationalen Interessen zum Wohle der EU zurückzustellen. Romano Prodi appelliert, man müsse die künftige Entscheidungsfähigkeit der Union sicherstellen.

Die Londoner "Times" veröffentlicht ein Geheimabkommen zwischen der BRD und Italien, nach dem eine weitere Regierungskonferenz zur engeren europäischen Integration im Jahr 2004 herbeigeführt werden soll. Die britische Öffentlichkeit reagiert irritiert, man befürchtet die Bildung eines europäischen Superstaates mit Sitz in Brüssel.

 

Donnerstag, 07.12.2000

Der Reformgipfel wird durch das Zusammentreffen der Staats- und Regierungschefs mit ihren Amtskollegen aus den 12 Beitrittsländern sowie der Türkei eröffnet. Malta und Zypern sind wirtschaftlich beitrittsreif, innenpolitisch jedoch nicht. Polens Probleme sind die Inflationsrate, die Justiz, der Umweltschutz sowie das Ausbleiben einer planmäßigen Agrarreform. Trotz gewisser Inflationstendenzen gilt Ungarn als wirtschaftlicher Spitzenreiter unter den osteuropäischen Beitrittskandidaten - allerdings werfen Korruption, Umweltzerstörung und überfüllte Gefängnisse noch Fragen auf. Estland ist der Primus unter den Balten, aber erneut werden Justiz und Verwaltung bemängelt. Lettland hat Agrarprobleme, und Litauen wird wirtschaftlich erst mittelfristig beitrittsreif sein. Slowenien hinkt in Sachen Privatisierung und Verwaltungsreform hinterher. Die tschechischen Wirtschaftsreformen werden positiv bewertet, aber Prag muß sich Korruption und Menschenhandel ankreiden lassen. Die Slowakei, Bulgarien und Rumänien sind die ökonomischen und politischen Schlußlichter unter den Kandidaten. An die Adresse der Türkei richtet sich herbe Kritik bezüglich der Menschenrechtsverletzungen, der Macht des Militärs und der Behandlung der Kurden. Diese Angelegenheiten sollen im Rahmen der Beitrittspartnerschaft angegangen werden. Über die wirtschaftliche Lage der am Rande des Staatsbankrotts stehenden und am IWF-Tropf hängenden Türkei breitet man den Mantel des Schweigens.

Erst am Abend beginnt die erste Verhandlungsrunde zur EU-Reform. Spanien und die Niederlande fordern wie die BRD die Mehrgewichtung ihrer Stimmen im Ministerrat. Großbritannien beharrt auf seinem Vetorecht in Sachen Steuer- und Sozialpolitik, ferner dürfe es keine militärpolitischen Avantgardegruppen geben. Schweden pocht ebenfalls auf das steuerliche Vetorecht, Frankreich auf die "kulturelle Autonomie" der Handelspolitik und Spanien auf die Einstimmigkeit bei der Verteilung der Strukturfonds-Milliarden. Italien und Spanien drängen gemeinsam auf eine europäische Asylpolitik, um den Ansturm der Verzweifelten aus dem Süden aufzuhalten. Frankreich signalisiert Entgegenkommen gegenüber den deutschen Vorstellungen hinsichtlich der Stimmengewichtung im Ministerrat. Zur Bestürzung der Diplomaten hat Chirac nach, wie gesagt, 20.000 Reisekilometern und 325 Verhandlungsstunden, keinen einzigen Kompromißvorschlag vorzuweisen. Selbst der Franzose Michel Barnier als EU-Reformkommissar stärkt Berlin den Rücken, indem er auf Mehrheitsentscheidungen und doppelte Mehrheiten pocht.

Schröder gibt sich als Staatsmann á la Kohl und als europäischer Einiger, um eine deutsche Dominanz im Ministerrat durchzusetzen, während Chirac knallhart französische Interessenpolitik betreibt. In Frankreich stehen 2002 Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an, und der Präsident braucht für die Wiederwahl gar nicht erst zu kandidieren, wenn er die größtenteils imaginäre Rolle als Hegemonialmacht des europäischen Kontinents an die rivalisierenden Nachbarn jenseits des Rhein abtritt. Die Staats- und Regierungschefs verabschieden die nicht rechtsverbindliche EU-Grundrechtecharta als reine Absichtserklärung und verkaufen sie pompös der Öffentlichkeit.

 

Freitag, 08.12.2000

Die Verhandlungspartner segnen die Militärplanungen zur Aufstellung von Krisenreaktionskräften in Stärke von 60.000 Mann zuzüglich Reserven, Polizeikräften etc. bis 2003 ab. Bis spätestens Sommer 2001 sollen der verteidigungs- und sicherheitspolitische Ausschuß der EU, der Europäische Militärstab und der Militärpolitische Ausschuß voll funktionsfähig sein. Ziel ist die volle internationale Handlungsfähigkeit der EU unter Entwicklung "enger und vertrauensvoller Beziehungen" zur NATO. Die kollektive Verteidigung Europas bleibt Angelegenheit des NATO-Oberkommandos, aber auch bei Katastrophenhilfe, Friedensbewahrung und Friedenserzwingung wird die EU weiterhin auf NATO- und damit US-Strukturen angewiesen sein. Die BRD stellt das größte Kontingent der Krisenreaktionskräfte noch vor Frankreich und Großbritannien. Frankreich streicht demonstrativ den eigenständigen Charakter der EU-Armee heraus und provoziert damit geradezu den Widerspruch Londons. Blair verhindert die Streichung der pro-NATO-Passagen aus dem Grundsatzpapier durch Chirac. Paris will die europäische Verteidigung mit der NATO koordinieren, aber über Planung und Ausführung von Kriseneinsätzen soll die EU alleine entscheiden. Eine offene Frage bleibt die Anbindung nicht der EU angehörender europäischer NATO-Staaten wie der Türkei, außerdem ist der Grad der Verflechtung der Krisenreaktionskräfte mit dem Nordatlantikpakt auch weiterhin vollkommen unklar.

Weiterhin vereinbaren die Staats- und Regierungschefs schärfere Kontrollen risikoträchtiger Schiffe, Ausmusterung einwandiger Öltanker, Verbesserung des Melde- und Informationssystems im Seeverkehr und die Bildung einer EU-Agentur für Sicherheit auf See. Die Sozialagenda legt bis 2005 die Bekämpfung von Ausgrenzung, die Schaffung von Arbeitsplätzen, Arbeitssicherheit, den Kampf gegen Armut und Diskriminierung, die Modernisierung der Sozialversicherungen und die Gleichberechtigung der Frau als Ziele fest.

Chirac lehnt die von Schröder im Vorfeld befürwortete Fixierung von Beitrittsdaten für die Süd- und Osteuropäer ab: "Das einzige Datum, das existiert, ist der 1. Januar 2003, wenn sich die Türen für diejenigen öffnen, die die Bedingungen zum Beitritt erfüllen." In der Kommissarfrage gleichen sich die Standpunkte. Die Kleinstaaten werden einen Kommissar behalten, die großen ab 2005 auf einen Kommissar verzichten. Das von Frankreich und der BRD vorgeschlagene Rotationsmodell ist damit erledigt. Hinsichtlich der Stimmengewichtung im Ministerrat prallen die Gegensätze jedoch aufeinander.

Frankreich kündigt bilaterale Gespräche zwischen der französischen EU-Präsidentschaft und den einzelnen Staaten zur Auslotung der Lage an. Anschließend wird Paris ein Kompromißpapier vorlegen, über das die Plenarrunde des Gipfels entscheiden soll. Die BRD kündigt ihre Kompromißbereitschaft an, Schröder konzediert, man betreibe keine Prestigepolitik. Man solle jedoch nicht verfrüht von Erfolgen sprechen. Die Delegation aus Berlin ist als 12. von 14 Delegationen im "Beichtstuhlverfahren" an der Reihe. Ein Kompromiß deutet sich an: Die BRD und Frankreich werden weiterhin gleich viele Stimmen im Ministerrat besitzen, aber Deutschland erhält künftig 104 statt 99 Sitze im Europaparlament. Berlin lehnt entschieden die französische Absicht ab, Polen weniger Stimmen im Ministerrat zu geben als Spanien, obwohl beide Staaten rund 40 Millionen Einwohner haben. Schröder gibt geschickt Verständnis für die Sorgen der Kleinen vor, um Paris zu Zugeständnissen zu zwingen.

 

Samstag 09.12.2000

Die Kampfhähne einigen sich in groben Zügen auf die Reform der EU-Kommission. Ab 2005 wird jedes EU-Land einen Kommissar stellen - die Brüsseler Verwaltung wird sich also zunächst weiter aufblähen. Hat die Kopfstärke der Kommission 27 Mitglieder erreicht, soll bis 2010 eine Verkleinerung einsetzen, die von der Stellenbesetzung per Rotationsprinzip flankiert wird. Der Präsident der Kommission wird auf Forderung Berlins die Richtlinienkompetenz erhalten, um ein völliges Chaos zu vermeiden. Frühestens 5 Jahre nach Ratifikation des Nizza-Vertrages (also wahrscheinlich um 2007) soll die Einführung der qualifizierten Mehrheit in allen Bereichen einstimmig beschlossen werden. Indirekte Steuern und Unternehmenssteuern werden auf Druck Großbritanniens vorerst nicht harmonisiert, die BRD setzt das Vetorecht für die betriebliche Mitbestimmung durch. Bundesaußenminister Fischer erklärt das Papier für nicht abschlußfähig und verweigert gegenüber den Medienvertretern konkrete Angaben zu den deutschen Verhandlungspositionen.

 

Sonntag 10.12.2000

Frankreich legt ein neues Verhandlungspapier vor. Die Mitgliedsstaaten regeln die Neubesetzung der EU-Kommission und stimmen der Bildung europäischer Avantgardegruppen zu. Das noch im Amsterdam-Vertrag von 1997 vorgesehene Vetorecht hiergegen entfällt. Der Wunsch der BRD nach einer neuen Regierungskonferenz im Jahr 2004 wird abgesegnet. Auf dieser sollen Fragen der Kompetenzabgrenzung zwischen EU, Mitgliedsländern und Regionalinstanzen wie den deutschen Bundesländern geklärt werden. Bei 40 von 73 EU-Themen soll das Einstimmigkeitsprinzip aufgehoben werden. Es bleibt jedoch bis auf weiteres bei z.B. Handelspolitik, Steuerfragen, Asylpolitik und Strukturpolitik bestehen. Vor allem Madrid will weitere 7 Jahre die Strukturmilliarden einstreichen und blockt alle Pressionen Schröders gemeinsam mit Paris und London ab. Belgien, Portugal, Schweden, Österreich, Griechenland und Finnland drohen mit dem Abbruch der Verhandlungen, da sie die Extrawürste für die "speziellen Hobbies" der Großen und vor allem deren Aufwertung im Ministerrat ablehnen. Der Streit um die Stimmengewichtung im Ministerrat erfordert eine Marathonsitzung. Angesichts des zähen Feilschens konstatiert ein Diplomat, es gehe zu wie auf einem orientalischen Basar. Sonntagnachmittag liegt erstmals ein vollständiger Vertragstext vor.

 

Montag, 11.12.2000

Nach hektischen Verhandlungen einigt man sich auf einen neuen EU-Vertrag. Nach Ausweitung der EU auf 27 Mitgliedsstaaten setzt unter Einführung des Rotationsprinzips die Reduktion der Kommission bis 2010 ein. Der Präsident erhält die politische Richtlinienkompetenz. Ferner gliedert er die Zuständigkeiten der Kommissare und beaufsichtigt diese. Die "speziellen Hobbies" der großen Mitgliedsstaaten bleiben gewahrt und damit der Mitsprache vor allem der ohnmächtigen Kleinen entzogen. Als Trostpflaster für den außenpolitischen Schiffbruch mit der Forderung nach demographischer Stimmengewichtung im Ministerrat stellt die BRD auch weiterhin 99 Abgeordnete im EU-Parlament, während die anderen Großstaaten wie Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien deutlich an Gewicht verlieren. Da das Europaparlament jedoch so gut wie nichts zu entscheiden hat, handelt es sich hier um eine vordergründige Kosmetik für das vollständige Fiasko Schröders und Fischers. Belgien hat immerhin durchgesetzt, daß die Benelux-Staaten im Ministerrat zusammen genauso stark sind wie einer der Großen.

Auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Parlaments oder der Kommission kann der Ministerrat fortan die Verletzung von Grundrechten durch ein Land feststellen und Empfehlungen aussprechen. Dafür ist eine Mehrheit von neun Zehnteln der Mitglieder erforderlich. Die Grundrechte selbst sind in Art. 6, Abs. 1 festgelegt: "Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam." Bislang konnte nur bei einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung eingeschritten werden. Vor Feststellung der Gefahr muß der Ministerrat den betroffenen Staat anhören und kann Beobachtermissionen entsenden.

Nach dem "Basarprinzip" wird die Macht im Ministerrat neu verteilt. Die Stimmenneugewichtung war der hartnäckigste Knackpunkt, der den Gipfel an den Rand des Scheiterns brachte. Eine Logik hinter den Vorschlägen sei nicht erkennbar, moniert der belgische Außenminister Louis Michel das Flickwerk. Ursprünglich sollte die Neugewichtung der Stimmen die demographischen Verhältnisse zwischen den Mitgliedstaaten deutlicher widerspiegeln. Diesem Anspruch hätte das Prinzip der doppelten Mehrheit - nach Mitgliedstaaten und Bevölkerungszahl - auf einfache und verständliche Weise genügt. Doch dies wollte Frankreich nicht dulden, weil es ein Abweichen vom Gleichheitsprinzip zwischen ihm und dem deutschen Nachbarn bedeutet hätte. Für die Abstimmungen im Ministerrat wird die alte Stimmenskala gespreizt - das Gewicht der Kleinen wird verdoppelt, das der Großen verdreifacht, das der Neuen eingeordnet und dazwischen noch die eine oder andere Relation geradegerückt.

Um ein demographisches Element einzubauen, wird eine Klausel eingeführt, nach der eine Bevölkerungsmehrheit von 62 % für eine qualifizierte Mehrheit nötig ist. Außerdem kann nichts gegen die einfache Mehrheit der Mitgliedstaaten entschieden werden. Für die BRD bedeutet dies, daß sie gemeinsam mit zwei anderen großen EU-Staaten alle Entscheidungen im Ministerrat blockieren kann. Für die Europäische Union bedeutet es, daß die Beschlußfassung in Zukunft noch schwerer wird, als sie ohnehin schon ist. Die Schwelle für die qualifizierte Mehrheit wird auf 255 Stimmen (73,4 %, bisher 71 %) festgesetzt. Ein Mitgliedsstaat kann beantragen, daß nachgeprüft wird, ob die qualifizierte Mehrheit mindestens 62 % der Bevölkerung der Union repräsentiert.

 

Das neue Europaparlament (738 Sitze)

Land

Neuer Abgeordnetenstand

Alter Abgeordnetenstand

Einwohnerzahl in Millionen

BRD

99

99

82,16

Frankreich

74

87

58,75

Großbritannien

74

87

59,62

Italien

74

87

57,68

Polen

52

Kandidat

38,666

Spanien

52

64

39,44

Rumänien

35

Kandidat

22,503

Niederlande

25

31

15,86

Belgien

20

25

10,24

Griechenland

20

25

10,55

Portugal

20

25

10,0

Tschechien

20

Kandidat

10,295

Ungarn

20

Kandidat

10,114

Schweden

18

22

8,86

Bulgarien

17

Kandidat

8,257

Österreich

17

21

8,09

Dänemark

13

16

5,33

Finnland

13

16

5,17

Slowakei

13

Kandidat

5,391

Irland

12

15

3,78

Litauen

12

Kandidat

3,703

Lettland

8

Kandidat

2,449

Slowenien

7

Kandidat

1,982

Estland

6

Kandidat

1,45

Luxemburg

6

6

0,44

Zypern

6

Kandidat

0,753

Malta

5

Kandidat

0,377

 

 

Der neue Ministerrat (insgesamt 345 Stimmen)

Mitgliedsland

Neuer Stimmenanteil

Alter Stimmenanteil

BRD

29

10

Großbritannien

29

10

Frankreich

29

10

Italien

29

10

Spanien

27

8

Polen

27

Kandidat

Rumänien

14

Kandidat

Niederlande

13

5

Griechenland

12

5

Portugal

12

5

Belgien

12

5

Ungarn

12

Kandidat

Tschechien

12

Kandidat

Schweden

10

4

Österreich

10

4

Bulgarien

10

Kandidat

Dänemark

7

3

Finnland

7

3

Irland

7

3

Slowakei

7

Kandidat

Litauen

7

Kandidat

Luxemburg

4

2

Estland

4

Kandidat

Lettland

4

Kandidat

Slowenien

4

Kandidat

Zypern

4

Kandidat

Malta

3

Kandidat

 

Die Regierungen sind um Schadensbegrenzung nach außen bemüht und loben in dürren Worten das Kompromißpapier. Die nationalen Parlamente hingegen üben teilweise heftige Kritik am Nizza-Vertrag. Selbst Schröder räumt ein, das Ergebnis lasse zu wünschen übrig. Natürlich habe man nie danach gestrebt, im Ministerrrat mehr Stimmen als Frankreich zu erhalten. CDU-Chefin Merkel spricht von einem "bedauerlichen Minimalkonsens", die FDP befürchtet gar eine Lähmung der EU. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger tituliert Nizza als einen "Stammtisch europapolitischen Versagens". Freidemokraten und PDS kündigen bereits jetzt ihre Ablehnung des Nizza-Vertrages im Bundestag an.

Karl Lamers, Europaexperte der CDU/CSU, hält ein Scheitern bei der Ratifizierung vor allem durch die Parlamente Dänemarks und Belgiens sowie durch das Europaparlament für möglich: "Ich befürchte eine schleichende Krise, die das Ziel einer umfassenden politischen Union zerbröselt." Es bestehe die Gefahr, daß sich nach der Erweiterung 27 Mitgliedsstaaten gegenseitig blockieren werden. Nach den Ereignissen von Nizza tendiere die Wahrscheinlichkeit einer deutsch-französischen Avantgardegruppe gegen Null. Die föderalistische CSU zeigt sich mit der Regierungskonferenz im Jahre 2004 zufrieden - ein Zeichen mehr, wie weit Stoibers EU-Kritik in Wahrheit reicht.

Im EU-Parlament kündigen Sozialisten, EVP und Grüne die Ablehnung an, der sich gegenebenfalls die Parlamente in Belgien und Italien anschließen werden. Ausnahmen sind die deutschen Grünen und die CSU, die sich mit der Flickschusterei und der weiteren Entmachtung des Europaparlaments abfinden.

 

Dienstag, 12.12.2000

Chirac bezeichnet Nizza vor dem EU-Parlament als "bestmögliches Ergebnis". Es habe weder Sieger noch Besiegte gegeben. Der Auftritt des Ratspräsidenten erfolgt in eisiger Atmosphäre, der Großteil der Abgeordneten verweigert den Applaus. Die positive Wertung Nizzas durch die französische Präsidentschaft stößt auf zum Teil scharfe Ablehnung. Alle Fraktionen bezeichnen die Ergebnisse als "enttäuschend" oder als "Pleite". In puncto Mehrheitsentscheid und Rechte des EU-Parlaments habe es keinerlei Fortschritte gegeben. Auch Kommissionspräsident Prodi konstatiert: "Es gab keine großen Fortschritte". Hinsichtlich der Mehrheitsentscheide habe sich bei einigen Staaten eine "Geisteshaltung der Abkapselung gezeigt". Prodi kritisiert vor allem, daß die Mehrheitsentscheide nicht auf Sozial- und Steuerpolitik ausgedehnt wurden. Die neue Stimmgewichtung sei ebenfalls enttäuschend. Das Gegenteil der angestrebten Transparenz sei erreicht worden, Blockaden würden künftig sogar erleichtert.

Hans-Gert Pöttering als Fraktionschef der konservativen EVP erklärte, Nizza werde nicht als großer Gipfel in die Geschichte eingehen. Die Vorverhandlungen und die Länge des Gipfels haben Grenzen des Verfahrens und der beteiligten Personen offengelegt. Die Schattenseiten überwiegen, vor allem die Rechte des Europaparlaments wurden nicht gestärkt. Pöttering fordert unumwunden eine stärkere Einbindung des Parlaments in den in Nizza beschlossenen weiteren Reformprozeß, ansonsten werde er für die Ablehnung des Vertrages eintreten. Elmar Brok (CDU, Chef des Außenpolitischen Ausschusses im Europaparlament) stellte fest, Struktur- und Agrarpolitik seien der parlamentarischen Mitbestimmung entzogen, womit 80 % des EU-Haushaltes ohne Mitsprache der Volksvertreter verteilt werden. Sein Fraktionskollege Jarzembowski bescheinigte Chirac und Jospin vollständiges Versagen. Martin Schulz von der SPD sprach sich ebenfalls für die Ablehnung des "absolut unzureichenden" Nizza-Vertrages aus. Beide Großfraktionen urteilten,  die Mehrheitsfindung werde nunmehr noch schwieriger sein. Parlamentspräsidentin Nicole Fontaine äußerte, in Nizza habe eine "Atmosphäre der Mittelmäßigkeit" geherrscht, die Verhandlungspartner seien sich der historischen Bedeutung nicht bewußt gewesen. Das Europaparlament wird abschließend Stellung beziehen, nachdem der Verfassungsausschuß den Vertrag geprüft hat. Mit einer Abstimmung Straßburgs ist frühestens im Januar zu rechnen.

 

Konsequenzen

Die anvisierte Eröffnung des ersten Kapitels einer Nach-Nachkriegsordnung wurde nicht erreicht. Die Ratifikation des Vertrages durch die 15 Staaten ist keinesfalls sicher und wird im Erfolgsfall Jahre dauern. In Irland und Dänemark wird es womöglich Volksabstimmungen geben, deren Ausgang höchst zweifelhaft ist. Insbesondere in Portugal ist die Wahrscheinlichkeit einer Ablehnung sehr hoch.

Wie gesagt, ist eine Ablehnung des Europaparlaments unwichtig, aber das italienische und das belgische Parlament werden bei einer Ablehnung Straßburg folgen. Möglich ist auch eine Blockade der Osterweiterung durch das Europaparlament - bei Neuaufnahmen müssen die Abgeordneten zustimmen. Den Kabinetten war nicht bewußt, daß eine offene Rebellion der ohnmächtigen Parlamentarier in Straßburg provozieren würden - viele Regierungsvertreter höhnten den Europaabgeordneten offen ins Gesicht: "Ihr habt doch in Nizza gar nichts zu sagen."

Festzuhalten sind mehrere Schlüsse aus dem offenkundig gescheiterten Nizza-Gipfel:

1. Die Großmachtinteressen der BRD und Frankreichs prallen innerhalb der EU massiv aufeinander.
2. Deutschland wurde wieder einmal daran erinnert, daß Ordnung und Stabilität in Europa auf einem "Konzert der Mächte" beruhen.
3. Großbritannien fungiert weiterhin als Brückenkopf der USA in Europa.
4. Das künftige Verhältnis zwischen der EU und der NATO ist ungeklärt.
5. Das optimistische Projekt der "Vereinigten Staaten von Europa" stößt - für uns nicht überraschend - an seine organisatorischen und politischen Grenzen.
6. Es ist offensichtlich nicht ausreichend, Europas Völker auf wirtschaftlich-materieller Grundlage einigen zu wollen.
7. Die Regierenden innerhalb der EU-Staaten haben weiterhin keinerlei Interesse an der Einrichtung einer echten parlamentarischen Kontrollinstanz.
8. Mit der Süd-Ost-Erweiterung wird sich die Handlungsfähigkeit Brüssels weiter verringern.
9. In Parlamenten und Öffentlichkeit ist - zumindest in den nächsten zwei Jahren und aus welchen Beweggründen auch immer - mit einem vermehrten Widerstand gegen den EU-Zentralismus zu rechnen.
10.

Das Projekt EU ist - das sollten die geschilderten Vorgänge gezeigt haben - deutlich angeschlagen.

 

Zur Startseite!