Politische
Theorie
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Josef Stalin: Die nationale Frage
Aus diesem Thema greife ich zwei Hauptfragen heraus:
a) die Fragestellung;
b) die Befreiungsbewegung der unterdrückten Völker und die proletarische
Revolution.
1. Die Fragestellung.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat die nationale Frage eine Reihe höchst
bedeutsamer Wandlungen erfahren. Die nationale Frage in der Periode der II.
Internationale und die nationale Frage in der Periode des Leninismus sind
bei weitem nicht ein und dasselbe. Sie unterscheiden sich gründlich voneinander
nicht nur dem Umfang, sondern auch ihrem inneren Charakter nach.
Früher beschränkte sich die nationale Frage gewöhnlich auf
einen engen Kreis von Fragen, die hauptsächlich die "zivilisierten"
Nationalitäten betrafen. Irländer, Ungarn, Polen, Finnen, Serben
und einige andere Nationalitäten Europas - das war der Kreis der nicht
vollberechtigten Völker, für deren Schicksal sich die Führer
der II. Internationale interessierten. Die Millionen und aber Millionen der
Völker Asiens und Afrikas, die unter der nationalen Bedrückung in
ihrer rohesten und grausamsten Form litten, blieben gewöhnlich außerhalb
ihres Gesichtsfeldes. Man konnte sich nicht entschließen, Weiße
und Farbige, "Zivilisierte" und "Unzivilisierte" auf eine
Stufe zu stellen. Zwei, drei nichts sagende und süßsaure Resolutionen,
die die Frage der Befreiung der Kolonien geflissentlich umgingen - das war
alles, womit die Führer der II. Internationale paradieren konnten. Jetzt
muss diese Zwiespältigkeit und Halbheit in der nationalen Frage als beseitigt
angesehen werden. Der Leninismus hat dieses schreiende Missverhältnis
aufgedeckt, die Scheidewand zwischen Weißen und Farbigen, zwischen Europäern
und Asiaten, zwischen "zivilisierten" und "unzivilisierten"
Sklaven des Imperialismus niedergerissen und auf diese Weise die nationale
Frage mit der Frage der Kolonien verknüpft. Dadurch wurde die nationale
Frage aus einer Einzelfrage und innerstaatlichen Frage zu einer allgemeinen
und internationalen, zur Weltfrage der Befreiung der unterdrückten Völker
der abhängigen Länder und der Kolonien vom Joche des Imperialismus.
Früher wurde das Prinzip der Selbstbestimmung der Nationen gewöhnlich
falsch ausgelegt und nicht selten zu dem Recht der Nationen auf Autonomie
eingeengt. Manche Führer der II. Internationale gingen sogar so weit,
dass sie aus dem Selbstbestimmungsrecht ein Recht auf kulturelle Autonomie
machten, das heißt das Recht der unterdrückten Nationen, ihre eigenen
Kultureinrichtungen zu besitzen, während die gesamte politische Macht
in den Händen der herrschenden Nation belassen werden sollte. Dieser
Umstand führte dazu, dass die Idee der Selbstbestimmung Gefahr lief,
sich aus einem Mittel des Kampfes gegen Annexionen in ein Mittel zur Rechtfertigung
der Annexionen zu verwandeln. Jetzt muss diese Konfusion als überwunden
angesehen werden. Der Leninismus hat den Begriff der Selbstbestimmung erweitert,
indem er ihn auslegte als das Recht der unterdrückten Völker der
abhängigen Länder und der Kolonien auf voll-ständige Lostrennung,
als das Recht der Nationen auf selbständige staatliche Existenz. Damit
wurde die Möglichkeit ausgeschlossen, Annexionen zu rechtfertigen durch
die Auslegung des Selbstbestimmungsrechts als des Rechtes auf Autonomie. Das
Prinzip der Selbstbestimmung selbst wurde somit aus einem Mittel zur Täuschung
der Massen, das es in den Händen der Sozialchauvinisten während
des imperialistischen Krieges zweifellos war, zu einem Mittel der Entlarvung
aller und jeglicher imperialistischer Gelüste und chauvinistischer Machinationen,
zu einem Mittel der politischen Aufklärung der Massen im Geiste des Internationalismus.
Früher pflegte man die Frage der unterdrückten Nationen als rein
rechtliche Frage zu behandeln. Feierliche Proklamierung der "nationalen
Gleichberechtigung", unzählige Deklarationen über "Gleichheit
der Nationen" - damit begnügten sich die Parteien der II. Internationale,
die die Tatsache zu vertuschen suchten, dass "Gleichheit der Nationen"
unter dem Imperialismus, wo eine Gruppe von Nationen (die Minderheit) von
der Ausbeutung der anderen Gruppe von Nationen lebt, eine Verhöhnung
der unterdrückten Völker ist. Jetzt muss diese bürgerlich-rechtliche
Auffassung in der nationalen Frage als entlarvt angesehen werden. Der Leninismus
hat die nationale Frage von den Himmelshöhen hochtrabender Deklarationen
auf die Erde heruntergeholt, indem er erklärte, dass Deklarationen über
"Gleichheit der Nationen", die nicht von den proletarischen Parteien
durch direkte Unterstützung des Befreiungskampfes der unterdrückten
Völker bekräftigt werden, hohle und verlogene Deklarationen sind.
Damit wurde die Frage der unterdrückten Nationen zur Frage der Unterstützung,
der Hilfe, der wirklichen und ständigen Hilfe für die unterdrückten
Nationen in ihrem Kampf gegen den Imperialismus, für die wirkliche Gleichheit
der Nationen, für ihre selbständige staatliche Existenz.
Früher pflegte man die nationale Frage reformistisch zu behandeln, als
eine gesonderte, selbständige Frage, ohne Zusammenhang mit der allgemeinen
Frage der Herrschaft des Kapitals, des Sturzes des Imperialismus, der proletarischen
Revolution. Stillschweigend wurde vorausgesetzt, dass der Sieg des Proletariats
in Europa möglich sei ohne direktes Bündnis mit der Befreiungsbewegung
in den Kolonien, dass die nationale und koloniale Frage im stillen, "ganz
von selbst", gelöst werden könne, abseits von der breiten Heerstraße
der proletarischen Revolution, ohne revolutionären Kampf gegen den Imperialismus.
Jetzt muss dieser antirevolutionäre Standpunkt als entlarvt angesehen
werden. Der Leninismus hat den Beweis erbracht, und der imperialistische Krieg
und die Revolution in Rußland haben bestätigt, dass die nationale
Frage nur im Zusammenhang mit der proletarischen Revolution und auf dem Boden
der proletarischen Revolution gelöst werden kann, dass der Weg zum Siege
der Revolution im Westen über das revolutionäre Bündnis mit
der Befreiungsbewegung der Kolonien und der abhängigen Länder gegen
den Imperialismus führt. Die nationale Frage ist ein Teil der allgemeinen
Frage der proletarischen Revolution, ein Teil der Frage der Diktatur des Proletariats.
Die Frage ist die: Sind die im Schoße der revolutionären Befreiungsbewegung
der unterdrückten Länder vorhandenen revolutionären Möglichkeiten
bereits erschöpft oder nicht, und falls sie nicht erschöpft sind,
besteht begründete Hoffnung darauf, diese Möglichkeiten für
die proletarische Revolution nutzbar machen, die abhängigen und kolonialen
Länder aus einer Reserve der imperialistischen Bourgeoisie zu einer Reserve
des revolutionären Proletariats, zu seinem Bundesgenossen machen zu können?
Der Leninismus bejaht diese Frage, das heißt, er vertritt die Ansicht,
dass im Schoße der nationalen Befreiungsbewegung der unterdrückten
Länder revolutionäre Potenzen vorhanden sind, und hält es für
möglich, diese für den Sturz des gemeinsamen Feindes, für den
Sturz des Imperialismus nutzbar zu machen. Die Mechanik der Entwicklung des
Imperialismus, der imperialistische Krieg und die Revolution in Rußland
bestätigen völlig die Schlussfolgerungen des Leninismus in dieser
Hinsicht.
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass das Proletariat der "herrschenden"
Nationen die nationale Befreiungsbewegung der unterdrückten und abhängigen
Völker unterstützen, entschieden und aktiv unterstützen muss.
Das bedeutet natürlich nicht, dass das Proletariat jede nationale Bewegung,
immer und überall, in allen einzelnen konkreten Fällen unterstützen
muss. Es handelt sich um die Unterstützung der nationalen Bewegungen,
die auf die Schwächung, auf den Sturz des Imperialismus und nicht auf
seine Festigung und Erhaltung gerichtet sind. Es gibt Fälle, wo die nationalen
Bewegungen einzelner unterdrückter Länder mit den Interessen der
Entwicklung der proletarischen Bewegung in Konflikt geraten. Es ist selbstverständlich,
dass in solchen Fällen von einer Unterstützung keine Rede sein kann.
Die Frage nach den Rechten der Nationen ist keine isolierte, in sich abgeschlossene
Frage, sondern ein Teil der allgemeinen Frage der proletarischen Revolution,
der dem Ganzen untergeordnet ist und vom Standpunkt des Ganzen aus betrachtet
werden muss. In den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war Marx für
die nationale Bewegung der Polen und Ungarn und gegen die nationale Bewegung
der Tschechen und Südslawen. Warum? Weil die Tschechen und Südslawen
damals "reaktionäre Völker", "russische Vorposten"
in Europa, Vorposten des Absolutismus waren, während die Polen und Ungarn
"revolutionäre Völker" waren, die gegen den Absolutismus
kämpften. Weil die Unterstützung der nationalen Bewegung der Tschechen
und Südslawen damals eine indirekte Unterstützung des Zarismus,
des gefährlichsten Feindes der revolutionären Bewegung in Europa,
bedeutete.
Die einzelnen Forderungen der Demokratie", sagt Lenin, "darunter
das Selbstbestimmungsrecht, sind nichts Absolutes, sondern ein kleiner Teil
der allgemein-demokratischen (jetzt: allgemein-sozialistischen) Weltbewegung.
Es ist möglich, dass in einzelnen konkreten Fällen der Teil dem
Ganzen widerspricht, dann muss man den Teil verwerfen." (Siehe 4. Ausgabe,
Bd. 22, S. 326, russ.)
So verhält es sich mit der Frage der einzelnen nationalen Bewegungen,
des möglichen reaktionären Charakters dieser Bewegungen, natürlich
nur, wenn man sie nicht vom formalen Standpunkt, nicht vom Standpunkt abstrakter
Rechte, sondern konkret, vom Standpunkt der Interessen der revolutionären
Bewegung betrachtet.
Das gleiche gilt auch für den revolutionären Charakter der nationalen
Bewegungen überhaupt. Die zweifellos revolutionäre Natur der gewaltigen
Mehrzahl der nationalen Bewegungen ist ebenso relativ und eigenartig, wie
die mögliche reaktionäre Natur mancher einzelner nationaler Bewegungen
relativ und eigenartig ist. Der revolutionäre Charakter einer nationalen
Bewegung unter den Verhältnissen der imperialistischen Unterdrückung
setzt keinesfalls voraus, dass an der Bewegung unbedingt proletarische Elemente
teilnehmen müssen, dass die Bewegung ein revolutionäres beziehungsweise
republikanisches Programm, eine demokratische Grundlage haben muss. Der Kampf
des Emirs von Afghanistan für die Unabhängigkeit Afghanistans ist
objektiv ein revolutionärer Kampf, trotz der monarchistischen Anschauungen
des Emirs und seiner Kampfgefährten, denn dieser Kampf schwächt,
zersetzt, unterhöhlt den Imperialismus, während der Kampf solcher
"verbissenen" Demokraten und "Sozialisten", "Revolutionäre,´
und Republikaner wie, sagen wir, Kerenski und Zereteli, Renaudel und Scheidemann,
Tschernow und Dan, Henderson und Clynes während des imperialistischen
Krieges ein reaktionärer Kampf war, denn er hatte die Beschönigung,
die Festigung und den Sieg des Imperialismus zur Folge. Der Kampf der ägyptischen
Kaufleute und bürgerlichen Intellektuellen für die Unabhängigkeit
Ägyptens ist aus denselben Gründen objektiv ein revolutionärer
Kampf, obgleich die Führer der ägyptischen nationalen Bewegung bürgerlicher
Herkunft und bürgerlichen Standes sind, obgleich sie gegen den Sozialismus
sind, wohingegen der Kampf der englischen "Arbeiter"regierung für
die Aufrechterhaltung der abhängigen Stellung Ägyptens aus denselben
Gründen ein reaktionärer Kampf ist, obgleich die Mitglieder dieser
Regierung proletarischer Herkunft und proletarischen Standes sind, obgleich
sie "für" den Sozialismus sind. Schon gar nicht zu reden von
der nationalen Bewegung anderer, größerer kolonialer und abhängiger
Länder, wie Indien und China, bei denen jeder Schritt auf dem Wege zur
Befreiung, auch wenn er gegen die Forderungen der formalen Demokratie verstößt,
ein wuchtiger Hammerschlag gegen den Imperialismus, das heißt zweifellos
ein revolutionärer Schritt ist.
Lenin hat recht, wenn er sagt, dass man die nationale Bewegung der unterdrückten
Länder nicht vom Standpunkt der formalen Demokratie, sondern vom Standpunkt
der wirklichen Resultate in der Gesamtbilanz des Kampfes gegen den Imperialismus
einschätzen muss, das heißt "nicht isoliert, sondern im Weltausmaß"
(siehe 4. Ausgabe, Bd. 22, S. 326, russ.).
2. Die Befreiungsbewegung
der unterdrückten Völker und die proletarische Revolution. Bei der
Lösung der nationalen Frage geht der Leninismus von folgenden Sätzen
aus:
a) Die Welt ist in zwei Lager geteilt: in das Lager einer Handvoll zivilisierter
Nationen, die über das Finanzkapital verfügen und die die gewaltige
Mehrheit der Bevölkerung des Erdballs ausbeuten, und in das Lager der
unterdrückten und ausgebeuteten Völker der Kolonien und der abhängigen
Länder, die diese Mehrheit bilden;
b) die Kolonien und die abhängigen Länder, die vom Finanzkapital
unterdrückt und ausgebeutet werden, bilden eine gewaltige Reserve und
eine überaus wichtige Kraftquelle des Imperialismus;
c) der revolutionäre Kampf der unterdrückten Völker in den
abhängigen und kolonialen Ländern gegen den Imperialismus ist der
einzige Weg zu ihrer Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung;
d) die wichtigsten kolonialen und abhängigen Länder haben bereits
den Weg der nationalen Befreiungsbewegung beschritten, die zur Krise des Weltkapitalismus
führen muss;
e) die Interessen der proletarischen Bewegung in den entwickelten Ländern
und der nationalen Befreiungsbewegung in den Kolonien erheischen die Vereinigung
dieser beiden Arten der revolutionären Bewegung zu einer gemeinsamen
Front gegen den gemeinsamen Feind, gegen den Imperialismus;
f) der Sieg der Arbeiterklasse in den entwickelten Ländern und die Befreiung
der unterdrückten Völker vom Joch des Imperialismus sind unmöglich
ohne die Bildung und Festigung einer gemeinsamen revolutionären Front;
g) die Bildung einer gemeinsamen revolutionären Front ist unmöglich
ohne direkte und entschiedene Unterstützung der Befreiungsbewegung der
unterdrückten Völker durch das Proletariat der unterdrückenden
Nationen gegen den "vaterländischen" Imperialismus, denn "ein
Volk, das andere Völker unterdrückt, kann nicht frei sein"
(Engels);
h) diese Unterstützung bedeutet die Verfechtung, Verteidigung und Verwirklichung
der Losung: Recht der Nationen auf Lostrennung, auf selbständige staatliche
Existenz;
i) ohne Verwirklichung dieser Losung ist es unmöglich, die Vereinigung
und das Zusammenwirken der Nationen in einer einheitlichen Weltwirtschaft
in die Wege zu leiten, die die materielle Basis für den Sieg des Sozialismus
in der ganzen Welt bildet;
j) diese Vereinigung kann nur eine freiwillige Vereinigung sein, die auf der
Grundlage des gegenseitigen Vertrauens und der brüderlichen Beziehungen
der Völker zustande kommt.
Hieraus ergeben sich zwei Seiten, zwei Tendenzen in der nationalen Frage:
die Tendenz zur politischen Befreiung von den imperialistischen Fesseln und
zur Bildung eines selbständigen Nationalstaates, eine Tendenz, die auf
der Grundlage der imperialistischen Unterdrückung und kolonialen Ausbeutung
entstanden ist, und die Tendenz zur wirtschaftlichen Annäherung der Nationen,
die sich aus der Bildung des Weltmarkts und der Weltwirtschaft ergeben hat.
"Der in Entwicklung begriffene Kapitalismus", sagt Lenin, "kennt
in der nationalen Frage zwei historische Tendenzen. Die erste Tendenz: Erwachen
des nationalen Lebens und der nationalen Bewegungen, Kampf gegen jede nationale
Unterdrückung, Schaffung von Nationalstaaten. Die zweite Tendenz: Entwicklung
und Vervielfachung der verschiedenartigen Beziehungen zwischen den Nationen,
Niederreißung der nationalen Schranken, Schaffung der internationalen
Einheit des Kapitals, des Wirtschaftslebens überhaupt, der Politik, der
Wissenschaft usw.
Beide Tendenzen sind ein Weltgesetz des Kapitalismus. Die erste überwiegt
im Anfangsstadium seiner Entwicklung, die zweite kennzeichnet den reifen,
seiner Umwandlung in die sozialistische Gesellschaft entgegengehenden Kapitalismus."
(Siehe 4. Ausgabe, Bd. 20, S. 11, russ.)
Für den Imperialismus sind diese beiden Tendenzen unversöhnliche
Widersprüche, denn der Imperialismus kann nicht leben, ohne Kolonien
auszubeuten und sie gewaltsam im Rahmen des "einheitlichen Ganzen"
festzuhalten, denn der Imperialismus kann nur durch Annexionen und koloniale
Eroberungen, ohne die er, allgemein gesprochen, undenkbar ist, die Nationen
einander näher bringen.
Für den Kommunismus dagegen sind diese Tendenzen nur zwei Seiten ein
und derselben Sache, der Sache der Befreiung der unterdrückten Völker
vom Joch des Imperialismus, denn der Kommunismus weiß, dass die Vereinigung
der Völker in einer einheitlichen Weltwirtschaft nur auf der Grundlage
gegenseitigen Vertrauens und freiwilligen Übereinkommens möglich
ist, er weiß, dass der Weg zur Bildung einer freiwilligen Vereinigung
der Völker über die Lostrennung der Kolonien von dem "einheitlichen"
imperialistischen "Ganzen", über ihre Umwandlung in selbständige
Staaten führt.
Daher die Notwendigkeit eines hartnäckigen, ununterbrochenen, entschlossenen
Kampfes gegen den Großmachtchauvinismus der "Sozialisten"
der herrschenden Nationen (England, Frankreich, Amerika, Italien, Japan usw.),
die nicht gewillt sind, gegen ihre eigenen imperialistischen Regierungen zu
kämpfen, nicht gewillt sind, den Kampf der unterdrückten Völker
"ihrer" Kolonien für die Befreiung von der Unterdrückung
und für die staatliche Lostrennung zu unterstützen.
Ohne diesen Kampf wäre es undenkbar, die Arbeiterklasse der herrschenden
Nationen im Geiste des wahren Internationalismus, im Geiste der Annäherung
an die werktätigen Massen der abhängigen Länder und der Kolonien,
im Geiste der wirklichen Vorbereitung der proletarischen Revolution zu erziehen.
Die Revolution in Rußland hätte nicht gesiegt und Koltschak und
Denikin wären nicht geschlagen worden, wenn das russische Proletariat
nicht die Sympathien und die Unterstützung der unterdrückten Völker
des ehemaligen Russischen Reiches genossen hätte. Um aber die Sympathien
und die Unterstützung dieser Völker zu erwerben, musste es vor allem
die Ketten des russischen Imperialismus sprengen und diese Völker von
der nationalen Unterdrückung befreien.
Sonst wäre es unmöglich gewesen, die Sowjetmacht zu festigen, den
wirklichen Internationalismus durchzusetzen und jene großartige Organisation
der Völkergemeinschaft zu schaffen, die den Namen Union der Sozialistischen
Sowjetrepubliken trägt und das lebendige Vorbild der künftigen Vereinigung
der Völker in einer einheitlichen Weltwirtschaft ist.
Daher die Notwendigkeit des Kampfes gegen die nationale Abgeschlossenheit,
Beschränktheit und Isoliertheit der Sozialisten der unterdrückten
Länder, die nicht über ihren nationalen Kirchturm hinaussehen wollen
und den Zusammenhang zwischen der Befreiungsbewegung ihres Landes und der
proletarischen Bewegung der herrschenden Länder nicht begreifen.
Ohne diesen Kampf wäre es undenkbar, eine selbständige Politik des
Proletariats der unterdrückten Nationen und seine Klassensolidarität
mit dem Proletariat der herrschenden Länder im Kampf für den Sturz
des gemeinsamen Feindes, im Kampf für den Sturz des Imperialismus durchzusetzen.
Ohne diesen Kampf wäre der Internationalismus unmöglich.
Das ist der Weg zur Erziehung der werktätigen Massen der herrschenden
und der unterdrückten Nationen im Geiste des revolutionären Internationalismus.
Über diese zweifache Arbeit des Kommunismus zur Erziehung der Arbeiter
im Geiste des Internationalismus sagt Lenin:
"Kann diese Erziehung ... konkret die gleiche sein für die großen,
unterdrückenden und für die kleinen, unterdrückten Nationen,
für die annektierenden und für die annektierten Nationen?
Offenbar nicht. Der Vormarsch zum gemeinsamen Ziel: zur vollen Gleichberechtigung,
zur engsten Annäherung und weiteren Verschmelzung aller Nationen erfolgt
hier offenbar auf verschiedenen konkreten Wegen, ebenso wie, sagen wir, der
Weg zu einem Punkt, der sich in der Mitte der vorliegenden Buchseite befindet,
von einem Rande aus nach links, vom gegenüberliegenden Rande aus nach
rechts führt. Wenn der Sozialdemokrat einer großen, unterdrückenden
und annektierenden Nation, der sich im allgemeinen zur Verschmelzung der Nationen
bekennt, auch nur eine Minute lang vergisst, dass ,sein´ Nikolaus II.,
,sein´ Wilhelm, Georg, Poincaré usw. ebenfalls für die Verschmelzung
mit den kleinen Nationen ist (mittels Annexionen) - Nikolaus II. für
die ,Verschmelzung´ mit Galizien, Wilhelm II. für die ,Verschmelzung´
mit Belgien usw. -, so ist ein solcher Sozialdemokrat ein lächerlicher
Doktrinär in der Theorie, ein Helfershelfer des Imperialismus in der
Praxis.
Der Schwerpunkt der internationalistischen Erziehung der Arbeiter in den unterdrückenden
Ländern muss unbedingt darin liegen, dass sie die Freiheit der Lostrennung
der unterdrückten Länder propagieren und verfechten. Ohne das gibt
es keinen Internationalismus. Wir haben das Recht und die Pflicht, jeden Sozialdemokraten
einer unterdrückenden Nation, der diese Propaganda nicht betreibt, als
Imperialisten und Schurken zu behandeln. Das ist eine unbedingte Forderung,
selbst wenn der all der Lostrennung vor der Errichtung des Sozialismus auch
nur in einem von tausend Fällen möglich und ´durchführbar´
wäre...
Umgekehrt muss der Sozialdemokrat einer kleinen Nation den Schwerpunkt seiner
Agitation auf das zweite Wort unserer allgemeinen Formel legen: ´freiwillige
Vereinigung´ der Nationen. Er kann, ohne seine Verpflichtungen als Internationalist
zu verletzen, sowohl für die politische Unabhängigkeit seiner Nation
als auch für ihren Anschluss an den Nachbarstaat X, Y, Z usw. sein. In
allen Fällen aber muss er gegen die engnationale Beschränktheit,
Abgeschlossenheit und Isoliertheit kämpfen, für die Berücksichtigung
des Ganzen und Allgemeinen, für die Unterordnung der Interessen des Teils
unter die Interessen der Gesamtheit.
Leute, die sich nicht in diese Frage hineingedacht haben, finden, dass es
´widerspruchsvoll´ sei, wenn die Sozialdemokraten der unterdrückenden
Nationen auf der ´Freiheit der Lostrennung´ beharren, die Sozialdemokraten
der unterdrückten Nationen dagegen auf der ´Freiheit der Vereinigung´.
Einige Überlegung zeigt jedoch, dass es einen anderen Weg zum Internationalismus
und zur Verschmelzung der Nationen, dass es einen anderen Weg zu diesem Ziel
aus der gegebenen Lage nicht gibt und nicht geben kann." (Siehe 4. Ausgabe,
Bd. 22, S. 330-332, russ.)