Politische Theorie

 

Das Problem der Dekadenz

von Julius Evola


Quelle: Junges Forum 5-6/2000, Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Regin-Verlages: www.regin-verlag.de

Wer den bereits größtenteils gescheiterten Mythos von Fortschritt und Evolution ablehnt, um die Geschichte nach höheren Werten auszulegen, stellt ein Überhandnehmen des Negativen fest und lernt das Problem der Dekadenz kennen. Beruht der Fortschrittsglaube auf einer logischen Unmöglichkeit - da das „mehr“ nicht aus dem „weniger“, das Höhere nicht aus dem Entarteten entspringen kann -, so scheint eine ähnliche Schwierigkeit bei der Erklärung der negativen Evolution aufzutauchen. Wie kann überhaupt das Höhere entarten, wie kann ein gegebenes geistiges Niveau verloren gehen?

Die Lösung wäre nicht schwierig, wollte man sich mit bloßen Analogieschlüssen begnügen: Der Gesunde kann erkranken, der Tugendhafte dem Laster verfallen. Ein selbstverständliches Naturgesetz bewirkt, dass jeder Organismus nach der Geburt, der Entwicklung, dem Höhepunkt altert, verwelkt und stirbt. Das ist aber eine Feststellung, keine Erklärung, selbst wenn man eine vollständige Ähnlichkeit zwischen beiden Erscheinungen annimmt. Wie könnte es auch anders sein? Es handelt sich ja um Zivilisationen, um politische und soziale Organisationen, wobei der Wille und die Freiheit des Menschen eine größere Rolle spielen als in diesen Naturvorgängen.

Jedoch besteht ein gleicher Einwand gegen Oswald Spenglers Theorie, welche die Analogie einer schicksalhaften Entwicklung übernimmt, wonach - wie jeder Organismus - jede Zivilisation eine Morgenröte, eine volle Entfaltung, ein herbstliches Altern, eine Sklerose und schließlich Tod und Auflösung kennt. Der Zyklus beginnt mit den organischen geistigen und heldischen Formen - was Spengler Kultur nennt - und endet mit den anorganischen materialistischen, vermassten und seelenlosen - was er Zivilisation nennt. In Bezug auf die „zyklischen Gesetze“ wiederholt diese Theorie jene der Überlieferung, welche jedoch viel weitere, sogar metaphysische Gebiete betrifft und uns stellenweise helfen kann, unser Problem zu vertiefen. Tatsächlich bietet sie Ansätze einer Erklärung, weil sie von einer Kraft spricht, die sich nach und nach erschöpft: Genau wie - um einen alltäglichen, aber brauchbaren Vergleich zu benutzen - sich die Bewegung eines Kolbens verlangsamt und allmählich aufhört, es sei denn, eine neue Kraft werde zugeführt (was dann einen neuen Zyklus auslöst). Was den Menschen anbelangt, sollte diese Kraft hauptsächlich als eine höhere ordnende Kraft verstanden werden, welche die niederen Kräfte bindet und formt.

Im Rahmen unserer Problemstellung dürfte sich dieser Gesichtspunkt nützlich erweisen. Der Ausgangspunkt, ähnlich dem Spenglers, ist der Gegensatz von zwei Zivilisations- und folglich Staatstypen.

Einerseits finden wir die überlieferten Zivilisationen, die wohl in ihrer Gestalt und im Zufälligen verschieden sind, aber in ihren Grundsätzen übereinstimmen: Dort bilden die geistigen, überindividuellen Kräfte und Werte den Maßstab allgemeiner Organisation und die Rechtfertigung jeder untergebenen Wirklichkeit. Andererseits gibt es die so genannte moderne, überlieferungsfeindliche Zivilisation, die nur auf menschlich-irdischen, individualistischen und kollektivistischen Momenten beruht: die vollständige Entfaltung aller Möglichkeiten eines Lebens, welches das „mehr als das Leben“ nicht mehr kennt. Die Dekadenz spielt sich als „Sinn der Geschichte“ auf, da in ihr die überlieferten Zivilisationen untergehen, um immer deutlicher eine neue „moderne“ Zivilisation auf dem ganzen Planeten aufkommen zu lassen.

Die Frage besteht also darin, zu wissen, wie das möglich war. Nun ist das Problem zweckmäßiger gestellt und wir können untersuchen, was wirklich mit einem hierarchischen Aufbau und mit dem Führerprinzip zusammenhängt, denn hier liegt der Schlüssel vieler weiterer Vorgänge. Bei den traditionellen Hierarchien, deren Bildung wir vorhin im Zusammenhang mit den zyklischen Gesetzen erwähnt haben, ist zuerst die Behauptung zu verwerfen, wonach sie grundsätzlich durch unmittelbare Kontrolle und gewaltsame Herrschaft auferlegt würden. Es hieße, das Höhere dem Niederen anzugleichen. Außerdem müssen wir die entscheidende Bedeutung des geistigen Moments anerkennen. In der Welt der Überlieferung konnte von einem „Moment ohne Handlung“ die Rede sein; gültig war das Geheimnis des „unbewegten Motors“ (im Sinne Aristoteles´), des Pols, der unveränderlichen Achse jeder geordneten Bewegung der subjektiven Kräfte; für das wahre Führertum galt das Prädikat „olympisch“; wahre Herrscher brauchen keine Gewalt, ihre Gegenwart genügte; manchmal sprach man vom Magneten, der, wie weiter gezeigt, unser ganzes Problem auch löst. Die Idee des gewaltsamen Ursprungs jeder hierarchischen Organisation des Staates, wie sie immer wieder von den linksgerichteten Geschichtsforschern und Schriftstellern ins Feld geführt wird, ist zu verwerfen, da primitiv, falsch oder zumindest unvollständig.

Der Gedanke wäre auch unsinnig, wonach die Vertreter eines wahren geistigen Führertums den Menschen nachliefen, um jeden an einen Ort zu binden und so die hierarchischen Verhältnisse zu erschaffen und zu erhalten, wodurch ihre Herrschaft gesichert wird. Nicht die bloße Unterwerfung, sondern die Zustimmung und die Anerkennung seitens des Untergebenen ist die Grundlage jeder normalen und überlieferten Hierarchie. Nicht der Höhere bedarf des Niederen, der Niedere bedarf des Höheren; nicht der Führer braucht die Gefolgschaft, sondern die Gefolgschaft den Führer. Das Wesen der Hierarchie liegt darin, dass bei einigen Menschen klar ausgeprägt ist, was bei anderen nur als verschwommene Sehnsucht, als Ahnung, als dunkles Streben vorkommt. So folgen letztere notwendigerweise den ersten und unterordnen sich naturgemäß. Hier ist die Unterordnung kein Zwang von außen, sie gilt vielmehr einem eigentlichen „Ich“. Daher der Opfergeist, das bewusste Heldentum, die männliche Hingabe in der Welt der früheren Hierarchien; daher auch das Ansehen, die Autorität, die ruhige Macht und der Einfluss, die selbst ein Tyrann mit dem mächtigsten Heer nie genossen hätte.

Diese Einsicht wirft nicht nur ein neues Licht auf das Problem der Dekadenz, aber auch auf die allgemeine Möglichkeit jeder umstürzlerischen Revolution. Wird folgendes nicht zur Genüge wiederholt: Wenn eine Revolution gelingt, so nur deshalb, weil die vorige Führung schwach und die obere Schicht degeneriert war? Es mag stimmen, aber es reicht nicht. Daran könnte man denken, wenn an der Leine geführte Hunde plötzlich die Oberhand bekommen; dann sind eben die führenden Hände nicht mehr stark genug. Glaubt man aber nicht an das Entstehen eines wirklichen Staates durch Gewalt und fasst man ins Auge die soeben erwähnte Hierarchie, so liegen die Dinge anders. Eine solche Hierarchie wird lediglich in einem Fall gestützt: Wenn der Abstieg jeden erfasst, wenn jeder seine wesentliche Freiheit dazu missbraucht, das eigene Leben von allem Höheren loszulösen und zu verstümmeln. Dann müssen alle Verbindungen reißen; die Spannung, die den überlieferten Organismus zusammenhielt, dessen politische Gestalt einem Aufstiegs- und Einordnungsvorgang für jeden Menschen entsprach, lässt nach; jede einzelne Kraft schwankt auf ihrer Bahn, versucht gegebenenfalls, die verlorene Tradition durch nationalistische und utilitaristische Systeme zu ersetzen, um schließlich dahin zu treiben.

Die Gipfel mögen noch rein und unberührt bleiben. Das Übrige aber, das vorhin gleichsam an ihnen hing, setzt sich wie eine Lawine zuerst langsam, fast unmerklich, in Bewegung, dann immer schneller, verliert sein Gleichgewicht, stürzt in die Tiefe bis zur Talebene, zum Liberalismus, zum Sozialismus, zur Massengesellschaft, zum Kommunismus.

Hier liegt das Geheimnis der Dekadenz auf dem hier betrachteten Gebiet. Hier liegt das Geheimnis jeder umstürzlerischen Revolution. Der Revolutionär tötet zuerst die Hierarchie in sich selbst und verliert somit die Möglichkeiten, die sich aus der inneren Ordnung ergaben, einer Ordnung, die er dann auch nach außen hin zerstören wird. Ohne vorhergehende innere Zerstörung gibt es keine Revolution im Sinne eines antihierarchischen und antitraditionellen Umsturzes, Und da dieser Vorbereitungsprozess dem oberflächlichen oder kurzsichtigen Beobachter entgeht, der nur „Tatsachen“ sieht und wertet, gelten schließlich die Revolutionen als irrationale Erscheinungen, oder man erklärt sie lediglich durch materialistische und soziale Momente, die in jeder Zivilisation zweitrangig sind.

Wenn die katholische Mythologie den Fall des ersten Menschen und sogar den Aufstand der Engel auf die metaphysische Freiheit zurückführt, greift sie im Grunde zur gleichen Erklärung. Sie spricht vom gefährlichen angeborenen Vermögen des Menschen, seine Freiheit im Sinne einer geistigen Zerstörung zu gebrauchen, um alles zu verwerfen, was ihm zu höherer Würde verhelfen könnte. Dies ist eine metaphysische Entscheidung, die wir in der ganzen Geschichte und unter den verschiedensten Formen als Antitraditionalismus, Umstürzlertum, Humanismus, Laizismus, „Modernismus“ vorfinden. Diese Entscheidung ist die Ursache überhaupt der Dekadenz, der Antitradition, die sonst geheimnisvoll bleiben.

Nun versteht man auch den Sinn der alten Überlieferungen, die uns etwas chiffriert erscheinen und sich auf Führer beziehen, welche gewissermaßen schon da sind - weil sie immer da waren. Und diese Führer können wieder gefunden werden (sie selbst oder ihre „Sitze“), und zwar durch verschiedentlich beschriebene Handlungen symbolischen Charakters. Dieses Suchen bedeutet eigentlich ein Wiedereinordnen, ein Benehmen, das - gleich dem Gefühl des Eisens für den Magneten - den Führer entdeckt, sich nach ihm richtet und zu ihm strebt. Damit haben wir genug gesagt, wer will, kann weitergehen.

In der heutigen Zeit aber müssen wir einen tiefen Pessimismus ertragen. Würden jetzt wahre Führer auftauchen, so blieben sie verkannt, es sei denn, sie tragen die Maske von Demagogen und Verfechtern sozialer Mythen. Deswegen ist auch das Zeitalter des Königtums zu Ende. Bis dahin und solange die Ordnung bestand, reichte das bloße Symbol; es war nicht immer nötig, dass dessen Träger als Mensch seiner Aufgabe genügte.

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