Politische
Theorie
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Rudolf Rocker
Prinzipienerklärung des Syndikalismus (1919)
Die heutige Gesellschaftsordnung, die auch die kapitalistische genannt wird,
gründet sich auf die wirtschaftliche, politische und soziale Versklavung
des werktätigen Volkes und findet einerseits im so genannten "Eigentumsrecht",
d.h. im Monopol des Besitzes, andererseits im Staat, d.h. im Monopol der Macht
ihren wesentlichen Ausdruck.
Durch Monopolisierung des Bodens und der übrigen Produktionsmittel in
der Hand kleiner privilegierter Gesellschaftsgruppen sind die produzierenden
Klassen gezwungen, ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten den
Eigentümern zu verkaufen, um ihr Leben fristen zu können, und müssen
infolge dessen einen erheblichen Teil ihres Arbeitsertrages an die Monopolkapitalisten
abtreten. Auf diese Weise in die Stellung rechtloser Lohnsklaven gedrängt,
haben sie keinerlei Einfluss auf den Gang und die Gestaltung der Produktion,
die ganz und gar dem Selbstbestimmungsrecht des Kapitalisten überlassen
ist. Es ist daher auch ganz natürlich, dass bei einem solchen Zustand
der Dinge die Grundlage der heutigen Gütererzeugung nicht durch die Bedürfnisse
der Menschen, sondern in erster Linie durch die Voraussetzung des Gewinns
für den Unternehmer bestimmt wird. Da aber dasselbe System auch dem Austausch
und der Verteilung der Produkte zugrunde liegt, so sind die Folgen auch auf
diesem Gebiet dieselben und finden in der rücksichtslosen Ausbeutung
der breiten Massen zugunsten einer kleinen. Minderheit Besitzender ihren Ausdruck.
Ist die Beraubung des Produzenten der mehr oder weniger verschleierte Zweck
der kapitalistischen Produktion, so ist der Betrug an den Konsumenten der
eigentliche Zweck des kapitalistischen Handelns.
Unter dem System des Kapitalismus werden alle Errungenschaften der Wissenschaft
und des geistigen Fortschritts den Monopolisten Untertan gemacht. jede neue
Entwicklung auf dem Gebiet der Technik, der Chemie usw. trägt dazu bei,
die Reichtümer der besitzenden Klasse ins Ungemessene zu steigern, im
schauerlichen Gegensatz zu dem sozialen Elend breiter Gesellschaftsschichten
und zu der andauernden wirtschaftlichen Unsicherheit der produzierenden Klassen.
Durch den ununterbrochenen Kampf der verschiedenen nationalen kapitalistischen
Gruppen um die Beherrschung der Märkte, wird eine ständige Ursache
innerer und äußerer Krisen geschaffen, die periodisch in verheerenden
Kriegen zur Entladung kommt, unter deren schrecklichen Folgen wiederum die
unteren Schichten der Gesellschaft fast ausschließlich zu leiden haben.
Die gesellschaftliche Klassenteilung und der brutale Kampf „Aller gegen
Alle“, diese charakteristischen Merkmale der kapitalistischen Ordnung,
wirken in der selben Zeit auch degenerierend und verhängnisvoll auf den
Charakter und das Moralempfinden des Menschen, indem sie die unschätzbaren
Eigenschaften der gegenseitigen Hilfe und des solidarischen Zusammengehörigkeitsgefühls,
jene kostbare Erbschaft, welche die Menschheit aus den frühen Perioden
ihrer Entwicklung übernommen hat, in den Hintergrund drängen und
durch krankhafte antisoziale Züge und Gewohnheiten ersetzen, die im Verbrechen,
in der Prostitution und in allen anderen Erscheinungen der gesellschaftlichen
Fäulnis ihren Ausdruck findet.
Mit der Entwicklung des Privatbesitzes und den damit verbundenen Klassengegensätzen
entstand für die besitzenden Klassen die Notwendigkeit einer mit allen
technischen Mitteln ausgerüsteten politischen Organisation zum Schutz
ihrer Privilegien und zur Niederhaltung der breiten Massen - der Staat. Ist
der Staat somit in erster Linie ein Produkt des Privatmonopols und der Klassenteilung,
so wirkt er, einmal in Existenz, mit allen Mitteln der List und Gewalt für
die Aufrechterhaltung des Monopols und der Klassenunterschiede, folglich für
die Verewigung der wirtschaftlichen und sozialen Versklavung der breiten Masse
des Volkes und hat sich im Laufe seiner Entwicklung zur gewaltigen Ausbeutungsinstitution
der zivilisierten Menschheit emporgeschwungen.
Die äußerliche Form des Staates ändert an dieser geschichtlichen
Tatsache nichts. Monarchie und Republik, Despotie oder Demokratie - sie alle
stellen nur verschiedene politische Ausdrucksformen des jeweiligen wirtschaftlichen
Ausbeutungssystem vor, die sich zwar in ihrer äußerlichen Gestaltung,
nie aber in ihrem innerlichen Wesen voneinander unterscheiden und in allen
ihren Formen nur eine Verkörperung der organisierten Gewalt der besitzenden
Klassen sind.
Mit der Entstehung des Staates beginnt die Ära der Zentralisation, der
künstlichen Organisation von oben nach unten. Kirche und Staat waren
die ersten Vertreter dieses Systems und sind bis heute seine vornehmsten Träger
geblieben. Und da es im Wesen des Staates liegt alle Zweige des menschlichen
Lebens seiner Autorität unterzuordnen, so muss die Methode der Zentralisierung
desto verhängnisvollere Folgen haben, je mehr der Staat den Kreis seiner
Funktionen erweitern und ausbauen konnte. Ist doch der Zentralismus die extremste
Verkörperung jenes Systems, das die Regelung der Angelegenheit Aller,
einzelnen Personen in Bausch und Bogen überträgt.
Dadurch wird der Einzelne zur Marionette, die von oben her gelenkt und geleitet
wird, ein totes Rad in einem ungeheuren Mechanismus. Die Interessen der Allgemeinheit
müssen den Privilegien einer Minderheit das Feld räumen, die persönliche
Initiative dem Befehl von oben, die Verschiedenartigkeit der Uniformität,
die innere Verantwortlichkeit einer toten Disziplin, die Erziehung der Persönlichkeit
einer geistlosen Dressur. - und das alles zu dem Zwecke, loyale Untertanen
heranzubilden, die an dem Fundament des Bestehenden nicht zu rütteln
wagen, willige Ausbeutungsobjekte für den kapitalistischen Arbeitsmarkt.
So wird der Staat zum mächtigsten Hemmnis jedes Fortschritts und jeder
kulturellen Entwicklung, zum festen Bollwerk der besitzenden Klassen gegen
die Befreiungsbestrebungen des arbeitenden Volkes.
Die Syndikalisten, in klarer Erkenntnis der oben festgestellten Tatsachen,
sind prinzipielle Gegner jeder Monopolwirtschaft. Sie erstreben die Vergesellschaftung
des Bodens, der Arbeitsinstrumente, der Rohstoffe und aller sozialen Reichtümer;
die Reorganisation des gesamten Wirtschaftslebens auf der Basis des freien,
d.h. des staatenlosen Kommunismus, der in der Devise: "jeder nach seinen
Fähigkeiten, jeder nach, seinen Bedürfnissen!" seinen Ausdruck
findet.
Ausgehend von der Erkenntnis, dass der Sozialismus letzten Endes eine Kulturfrage
ist und als solche nur von unten nach oben durch die schöpferische Tätigkeit
des Volkes gelöst werden kann, verwerfen die Syndikalisten jedes Mittel
einer so genannten Verstaatlichung, das nur zur schlimmsten Form der Ausbeutung,
zum Staatskapitalismus, nie aber zum Sozialismus führen kann.
Die Syndikalisten sind der Überzeugung, dass die Organisation einer sozialistischen
Wirtschaftsordnung nicht durch Regierungsbeschlüsse und Dekrete geregelt
werden kann, sondern nur durch den Zusammenschluss aller Kopf- und Handarbeiter
in jedem besonderen Produktionszweige: durch die Übernahme der Verwaltung
jedes einzelnen Betriebes durch die Produzenten selbst und zwar in der Form,
dass die einzelnen Gruppen, Betriebe und Produktionszweige selbständige
Glieder des allgemeinen Wirtschaftsorganismus sind, die auf Grund gegenseitiger
und freier Vereinbarungen die Gesamtproduktion und die allgemeine Verteilung
planmäßig gestalten im Interesse der Allgemeinheit.
Die Syndikalisten sind der Meinung, dass politische Parteien, welchem Ideenkreis
sie auch angehören, niemals imstande sind, den sozialistischen Aufbau
durchführen zu können, sondern dass diese Arbeit nur von den wirtschaftlichen
Kampforganisationen der Arbeiter geleistet werden kann. Aus diesem Grunde
erblicken sie in der Gewerkschaft keineswegs ein vorübergehendes Produkt
der kapitalistischen Gesellschaft, sondern die Keimzelle der zukünftigen
sozialistischen Wirtschaftsorganisation. In diesem Sinne erstreben die Syndikalisten
schon heute eine Form der Organisation, die sie befähigen soll, ihrer
großen historischen Mission und in derselben Zeit dem Kampfe für
die täglichen Verbesserungen der Lohn- und Arbeitsverhältnisse gerecht
zu werden.
An jedem Ort schließen sich die Arbeiter der revolutionären Gewerkschaft
ihrer resp. Berufe an, die keiner Zentrale unterstellt ist, ihre eigenen Gelder
verwaltet und über vollständige Selbstbestimmung verfügt. Die
Gewerkschaften der verschiedenen Berufe vereinigen sich an jedem Orte in der
Arbeiterbörse, dem Mittelpunkt der lokalen gewerkschaftlichen Tätigkeit
und der revolutionären Propaganda. Sämtliche Arbeiterbörsen
des Landes vereinigen sich in der Allgemeinen Föderation der Arbeiterbörsen,
um ihre Kräfte in allgemeinen Unternehmungen zusammenfassen zu können.
Außerdem ist jede Gewerkschaft noch föderativ verbunden mit sämtlichen
Gewerkschaften desselben Berufs im ganzen Lande und diese wieder mit den verwandten
Berufen, die sich zu großen allgemeinen Industrieverbänden zusammenschließen.
Auf diese Weise bilden die Föderation der Arbeiterbörsen und die
Föderation der Industrieverbände die beiden Pole, um die sich das
ganze gewerkschaftliche Leben dreht.
Würden nun bei einer siegreichen Revolution die Arbeiter vor das Problem
des sozialistischen Aufbaues gestellt, so würde sich jede Arbeiterbörse
in eine Art lokales statistisches Büro verwandeln, und sämtliche
Häuser, Lebensmittel, Kleider usw. unter ihre Verwaltung nehmen. Die
Arbeiterbörse hätte die Aufgabe, den Konsum zu organisieren und
durch die Allgemeine Föderation der Arbeiterbörsen wäre man
dann leicht Imstande, den Gesamtverbrauch des Landes zu berechnen und auf
die einfachste Art organisieren zu können.
Die Industrieverbände ihrerseits hätten die Aufgabe, durch die lokalen
Organe und mit Hilfe der Betriebsräte sämtliche vorhandenen Produktionsmittel,
Rohstoffe usw. unter ihre Verwaltung zu nehmen und die einzelnen Produktionsgruppen
und Betriebe mit allem Notwendigen zu versorgen. Mit einem Worte: Organisation
der Betriebe und Werkstätten durch die Betriebsräte; Organisation
der allgemeinen Produktion durch die industriellen und landwirtschaftlichen
Verbände; Organisation des Konsums durch die Arbeiterbörsen.
Als Gegner jeder staatlichen Organisation verwerfen die Syndikalisten die
so genannte Eroberung der politischen Macht, und sehen vielmehr in der radikalen
Beseitigung jeder politischen Macht die erste Vorbedingung zu einer wahrhaft
sozialistischen Gesellschaftsordnung. Die Ausbeutung des Menschen durch den
Menschen ist aufs engste verknüpft mit der Beherrschung des Menschen
durch den Menschen, so dass das Verschwinden der einen notwendigerweise zum
Verschwinden der anderen führen muss.
Die Syndikalisten verwerfen prinzipiell jede Form der parlamentarischen Betätigung,
jede Mitarbeit in den gesetzgebenden Körperschaften" ausgehend von
der Erkenntnis, dass auch das freieste Wahlrecht die klaffenden Gegensätze
innerhalb der heutigen Gesellschaft nicht mildern kann und dass das ganze
parlamentarische System nur den Zweck verfolgt, dem System der Lüge und
der sozialen Ungerechtigkeit den Schein des legalen Rechts zu verleihen -
den Sklaven, zu veranlassen, seiner eigenen Sklaverei den Stempel des Gesetzes
aufzudrücken.
Die Syndikalisten verwerfen alle willkürlich gezogenen politischen und
nationalen Grenzen; sie erblicken im Nationalismus lediglich die Religion
des modernen Staates und verwerfen prinzipiell alle Bestrebungen zur Erzielung
einer so genannten nationalen Einheit, hinter der sich doch nur die Herrschaft
der besitzenden Klassen verbirgt. Sie anerkennen nur Unterschiede regionaler
Natur und fordern für jede Volksgruppe das Recht, ihre Angelegenheiten
und ihre besonderen Kulturbedürfnisse gemäß ihrer eigenen
Art und Veranlagung erledigen zu können im solidarischen Einverständnis
mit allen anderen Gruppen und Volksverbänden.
Die Syndikalisten stehen auf dem Boden der direkten Aktion und unterstützen
alle Bestrebungen und Kämpfe des Volkes, die mit ihren Zielen - der Abschaffung
der Wirtschaftsmonopole und der Gewaltherrschaft des Staates nicht im Widerspruch
stehen. Ihre Aufgabe ist es, die Massen geistig zu erziehen und in den wirtschaftlichen
Kampforganisation zu vereinigen, um dieselben durch die direkte wirtschaftliche
Aktion, die im sozialen Generalstreik ihren höchsten Ausdruck findet,
der Befreiung vom Joche der Lohnsklaverei und des modernen Klassenstaates
entgegen zu führen.
Wenn ich das Wort zu einer näheren Begründung der Prinzipienerklärung
ergreife, so ist es deshalb, weil wir alle das Bedürfnis empfinden, gerade
jetzt, in unserer vielbewegten Zeit, den Grundsätzen und taktischen Methoden
des Syndikalismus in der klarsten und bestimmtesten Form Ausdruck zu geben.
Man hat sehr viel debattiert über den Namen unserer Bewegung und viele
Genossen hier haben Anstoß genommen an dem Wort "Syndikalismus".
Aber vergessen wir doch nicht, daß es nicht auf das Wort, sondern auf
die Idee ankommt, die eine Bewegung deckt. In den meisten Fällen sind
es die Gegner, die einer Partei ihren Namen aufzwingen. Daher kommt es, dass
die meisten Worte, die den Tageskampf beherrschen, in der Regel ganz nichtssagender
Natur sind, wenn man sie rein etymologisch beurteilt. Das Wort Bolschewismus,
das heute zum Schreckgespenst Europas geworden ist, und dem Sinn nach nicht
mehr bedeutet als Mehrheitsrichtung, ist der beste Beweis dafür. Aber
auch das Wort "Sozialismus" drückt eigentlich nur den Gedanken
der Gemeinschaft aus, ebenso das Wort "Kommunismus". Dasselbe ist
mit dem Wort "Syndikalismus" der Fall, das nicht mehr wie Vereinigung
heißt.
Es gibt kapitalistische und es gibt gewerkschaftliche Syndikate. Es handelt
sich also nicht um das Wort an und für sich, sondern um die Idee, die
es deckt. Wenn das Wort den Gegnern der Volksbestrebungen heute verhasst ist,
so ist es deshalb, weil die Bestrebungen und Methoden der syndikalistischen
Bewegung den herrschenden Klassen gefährlich erscheinen. Es gab eine
Zeit, wo das Wort "Christ" allgemein verpönt war, und wenn
wir uns heute die Freie Vereinigung katholischer Klosterbrüder nennen
würden, so wäre das Resultat ganz dasselbe. Man braucht sich auf
das Wort "Syndikalismus" ja nicht versteifen; allein es gibt einen
Umstand, der uns gerade verpflichtet, den alten, sturmerprobten Namen auch
fernerhin beizubehalten. Unsere Bewegung ist nämlich nicht nur nationaler,
sondern internationaler Natur. Der in Deutschland so verpönte Syndikalismus
ist in manchen Ländern die wirtschaftliche Einheitsorganisation des Proletariats
geworden, deshalb ist das Wort das Erkennungszeichen, das uns mit unseren
Brüdern jenseits der deutschen Grenzen verbündet. Das sollte auch
den Genossen zu denken geben, die da glauben, das Wort Syndikalismus aus praktischen
Gründen ablehnen zu müssen.