Politische Theorie

 

1990: Politische Säuberungen in den neuen Bundesländern

Auszug aus einer Stellungnahme der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e. V. (GBM) zum 5. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 40 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte aus Anlass der Berichtsbehandlung durch den Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen im März 2004:

In den Ziffern 314 bis 320 ihres Berichtes geht die Regierung der Bundesrepublik Deutschland auf die Anmerkung 17 der »Concluding observations« des Menschenrechtsausschusses zum 4. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland ein. Es ist bezeichnend, dass, obwohl der gesamte Abschnitt die Überschrift »Entlassungen von Angehörigen des öffentlichen Dienstes der Deutschen Demokratischen Republik« trägt, die Bedeutung dieses in der gesamten deutschen Geschichte angesichts seiner Dimension und Nachhaltigkeit beispiellosen Geschehens offensichtlich heruntergespielt werden soll. Dies beginnt bereits mit der stark einschränkenden und damit das eigentliche Anliegen der Anmerkung verfälschenden Bezugnahme auf dieselbe. In der Wiedergabe im Bericht der Bundesregierung geht es der Anmerkung, wie in Ziffer 314 des Berichts ausgeführt, angeblich um folgendes: »Der Menschenrechtsausschuss äußert sich ferner besorgt bezüglich der Kriterien, anhand derer über den Verbleib oder die Entlassung von öffentlich Bediensteten der Deutschen Demokratischen Republik nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten entschieden wurde und regt eine Konkretisierung der Kriterien an.« (...)

Wie aus dem Originaltext ersichtlich, ging es dem Menschenrechtsausschuss nicht schlechthin um unkonkrete Kriterien, sondern um den Ausschluss der Möglichkeit, unter Verwendung unkonkret vorgegebener Kriterien öffentlich Bedienstete der Deutschen Demokratischen Republik wegen ihrer »eingenommenen oder geäußerten politischen Meinung« zu entlassen. Auf die politische Dimension der bekannt gewordenen Vorgänge und auf die gezielte Richtung der Anfrage geht die Bundesregierung offenbar bewusst nicht ein. (...)

Die den Gesamtzusammenhang stark verkürzenden weiteren Ausführungen im Bericht der Bundesregierung, aus denen ein Bild entstehen soll, als handele es sich um ein Problem einer marginalen Randgruppe von Personen, die »für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR« gearbeitet hatten und deshalb von einer Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik auszuschließen seien (zur Sache selbst wäre gesondert viel zu sagen), machen die Absicht bewusster Irreführung vollends deutlich.

Die reale Situation, zu der sich die Bericht erstattende Bundesregierung nicht äußert, ist hingegen durch eine völlig andere Sachlage gekennzeichnet.

Erstens: Es handelt sich, worauf in erster Linie hinzuweisen ist, bei der Entlassung von ehemals Beschäftigen im öffentlichen Dienst der Deutschen Demokratischen Republik keineswegs um eine marginale Begleiterscheinung. Es geht vielmehr um die massenhafte Entlassung von Angestellten des Staatsapparates, Wissenschaftlern, Richtern und Staatsanwälten, Polizei- und Armeeangehörigen sowie Lehrern. Größenordnungen dieses Prozesses der faktischen Eliminierung des überwiegenden Teils der Funktionselite der Deutschen Demokratischen Republik finden ihren Ausdruck darin, dass davon fast 100 Prozent der im diplomatischen Dienst Tätigen und etwa 70 - 80 Prozent des gesamten Hochschullehrerbestandes der DDR betroffen wurden.

Zwei Zahlen verdeutlichen die massenhafte Entfernung von ehemaligen DDR-Bürgern aus dem öffentlichen Dienst: Von ursprünglich über zwei Millionen hier tätigen Personen waren es im April 1991 nur noch 1,2 Millionen.

Über die genauen Angaben zum Umfang der ebenfalls in signifikanten Größenordnungen erfolgten Entlassungen von Juristen, Lehrern, Polizei- und Armeeangehörigen sowie anderen Kategorien von öffentlich Bediensteten schweigt sich die Bundesregierung aus.

Angaben liegen ihr angeblich nicht vor, Nachfragen in den dafür zuständigen Ländern werden offensichtlich nicht für opportun gehalten.

Zweitens: Das von der Bundesregierung in ihrem Bericht genannte angebliche Ziel, »die Bediensteten des öffentlichen Dienstes der Deutschen Demokratischen Republik weitgehend in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik einzugliedern«, ist nie ernsthaft verfolgt worden.

Als Resultat besteht jedenfalls eine reale Sachlage, die als wirkliches Ziel eine bewusste Diskriminierung der ostdeutschen Bevölkerung vermuten lässt: Bei einem Anteil von 20 Prozent an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland beträgt der Anteil der Ostdeutschen am Führungspersonal der Bundesrepublik in der Justiz und beim Militär null Prozent, in der Wirtschaft 0,4 Prozent, in der Verwaltung 2,5 Prozent, in der Wissenschaft 7,3 Prozent, in den Medien 11,8 Prozent und in den Gewerkschaften 12,4 Prozent.

Drittens: Die Bundesregierung hält, wie in Ziffer 320 ausdrücklich vermerkt, eine weitere Konkretisierung von Maßstäben für nicht erforderlich. Sie leugnet damit zugleich die Existenz von vage vorgegebenen Kriterien, die die Möglichkeit zur Entlassung aus politischen Gründen (im Sinne der Anmerkung des Ausschusses) eröffnen. Hinreichende Klarheit und Konkretheit der bestehenden Kriterien wird anhand des Beispiels der »Stasi-Verstrickung« demonstriert. Geflissentlich wird dabei übergangen, dass der weitaus überwiegende Teil erfolgter Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst nicht wegen einer wie auch immer gearteten Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik erfolgte. Dieser von der Bundesregierung immer wieder in die Öffentlichkeit lancierte Eindruck hat mit der Realität des »Elitewechsels« in Ostdeutschland nur sehr wenig zu tun, abgesehen davon, dass es unhaltbar ist, ohne nähere Präzisierung etwa jedwede Zusammenarbeit eines DDR-Bürgers mit einem dafür zuständigen Organ im Interesse der äußeren Sicherheit dieses Staates zu kriminalisieren. Für die massenhafte Entlassung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes der Deutschen Demokratischen Republik wurden im Gegensatz zu den Erklärungen der Bundesregierung eine ganze Reihe von Kriterien vorgegeben, die eindeutig darauf zielten, Entlassungen aus Gründen vorzunehmen, die sich nicht aus Qualifikation oder Verhalten im Arbeitsprozess, sondern aus politischen Haltungen, Überzeugungen und deren Verbreiten ableiteten.

Kategorien wie eine nicht näher definierte »Staatsnähe«, »persönliche Systemnähe« oder aber aus der Tätigkeit in der Deutschen Demokratischen Republik abgeleitet zu vermutende mangelnde Treue zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland belegen eindeutig, dass nicht exakt definierte Vergehen oder justiziell festgestelltes Fehlverhalten, sondern die politische Nähe zur DDR bzw. nicht vorhandene offene Auflehnung gegen die bestehende Staats- und Rechtsordnung der DDR durch ihre Bediensteten die Nichtübernahme in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik verursachten. Es handelt sich also im Sinne der in der Anmerkung 17 des Menschenrechtsausschusses zum 4. Staatenbericht ausgedrückten Besorgnis um »eingenommene oder ausgedrückte politische Meinungen« par excellence - es sei denn, die loyale Haltung eines öffentlich Bediensteten der Deutschen Demokratischen Republik zu seinem Arbeitgeber wird nicht als politische Haltung, sondern a priori als Verbrechen oder Verstoß gegen (welche?) rechtliche Regelung gewertet.

Zur Illustration dieser politischen Dimension seien lediglich zwei Beispiele angeführt, die eindeutig die Verletzung von durch internationale Konventionen geschützten Regelungen zum Verbot politischer Diskriminierung belegen:

Erstens: Die Auflösung und »Abwicklung« der in der DDR an Universitäten und Hochschulen bestehenden sozialwissenschaftlichen Sektionen, darunter vor allem die Sektionen für das seinerzeit so bezeichnete gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium, die als solche hier nicht diskutiert werden sollen, waren in den aus der DDR entstandenen neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland mit einem eindeutig politisch motivierten Berufsverbot für die an diesen ehemaligen Sektionen beschäftigten Mitarbeiter (Philosophen, Juristen, Ökonomen, Historiker, Friedensforscher u.a.) verbunden. Die »Abwicklungsbeschlüsse« enthielten die Festlegung, dass z.B. selbst jene Angehörigen dieser Sektionen, die auf Grund ihrer Ausbildung und Qualifikation an anderen Universitäts- oder Hochschuleinrichtungen eine andere Tätigkeit aufgenommen hatten oder hätten aufnehmen können, allein wegen ihrer ehemaligen Zugehörigkeit zu einer solchen Sektion zu entlassen seien.

So heiß es im Beschluss Nr. 274/90 der Berliner Landesregierung vom 18.12.1990:

»Organisatorische Einheiten, die am 1. Januar 1989 der Vermittlung des Marxismus-Leninismus, der marxistisch-leninistischen Philosophie und/oder des wissenschaftlichen Kommunismus vorrangig gewidmet waren, werden mit Wirkung vom 1. Januar 1991 abgewickelt. Für das diesen Einheiten am 01.01.1989 zugeordnete und für diese Lehre vorwiegend eingesetzte Personal tritt ungeachtet einer nach diesem Zeitpunkt vorgenommenen anderweitigen Zuordnung das Ruhen der Dienstverhältnisse ein.«

Diese Regelung, die eine Beendigung des Dienstverhältnisses nicht etwa wegen konkreter Vorwürfe einer Gesetzesverletzung oder der Beeinträchtigung der Menschenrechte anderer, sondern wegen der bloßen Zugehörigkeit zu einer Lehr- oder Forschungseinrichtung eines bestimmten Profils vorsieht und allein aus diesem Grund auch eine anders geartete Weiterbeschäftigung ausschließt, verstößt eindeutig gegen Art. 2 und 21 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 sowie gegen die Art. 18, 19 und 26 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 16.12.1966.

Zweitens: Ein grober Verstoß gegen das in verschiedenen Menschenrechtsdokumenten verankerte Diskriminierungsverbot (Artikel 7 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948, Artikel 1 des Übereinkommens 111 der ILO über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf vom 25.6.1958, Artikel 26 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 16.12.1966) ist die in allen neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland gehandhabte Praxis, Wissenschaftlern wegen ihrer politischen Überzeugung und damit übereinstimmender Wahrnehmung ihres Rechts auf die Ausübung öffentlicher Ämter in der DDR von einer weiteren Tätigkeit auszuschließen bzw. ihnen den durch gültige internationale Übereinkommen geschützten Zugang zu öffentlichen Ämtern zu verweigern. Die Unterstellung, durch ihre Tätigkeit in der DDR eine besondere »Staatsnähe« gezeigt zu haben, wurde zum Anlass genommen, Wissenschaftlern die Übernahme in neue Dienstverhältnisse oder gar die Wahl in Ämter der akademischen Selbstverwaltung zu versagen. Es geht dabei nicht etwa um den Vorwurf einer konkreten Gesetzesverletzung oder eines Verstoßes gegen Prinzipien der Menschenrechte oder Ähnliches. Allein das aus politischer oder weltanschaulicher Überzeugung resultierende Engagement für die Verfassungs- und Rechtsordnung der DDR, d.h. eines Staates, der als vollberechtigtes und geachtetes Mitglied dem UNO-System angehörte, wird zum Vorwurf erhoben, aus dem Diskriminierung und Berufsverbot abgeleitet werden. So heißt es z.B. in Paragraph 2 des im Land Berlin erlassenen »Gesetzes über die Übernahme des wissenschaftlichen und künstlerischen Personals der Hochschulen im Ostteil Berlins in Rechtsverhältnisse nach dem Berliner Hochschulgesetz« vom 11.6.1992:

»Für eine Übernahme kann nicht berücksichtigt werden, wer vor dem 5. April 1990 in herausgehobener Position oder sonstiger Funktion auf nachhaltig wirksame Weise zur Stabilisierung des Herrschaftssystems der DDR beigetragen hat.«

Diese in der Tat sehr vage und breite Missdeutung zulassende, jedoch eindeutig die politische Haltung des Betreffenden als Grund für die Nicht-Übernahme definierende gesetzliche Regelung wird unterlegt durch von verschiedenen Verwaltungsdienststellen herausgegebene Kataloge von in der DDR ausgeübten bzw. innegehabten öffentlichen Ämtern bzw. Funktionen im öffentlichen Dienst, in Parteien oder Organisationen, für die eine Übernahme in neue Dienstverhältnisse und die Anerkennung von Dienstzeiten ausgeschlossen wird.

»Richtlinien zur Prüfung der persönlichen Integrität von Angehörigen der Universitäten und Hochschulen«, erlassen vom Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst, lauten, bezogen auf die Einschränkung des Rechts auf die Ausübung von Ämtern in der akademischen Leitungsstruktur, u.a. wie folgt:

»In den folgenden Fällen wird eine Bestätigung der Wahl in ein akademisches Leitungsamt (einschließlich Leiter/Dekan von Fachbereichen) durch das Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst in der Regel nicht erteilt, falls vor dem 9.10.1989 eine der folgenden Funktionen wahrgenommen wurde: Rektor (bzw. Direktor) einer Universität/Hochschule, Prorektor (bzw. Stellv. Direktor) einer Universität/Hochschule, Dekan (auch Prodekan), Sektionsdirektor/Institutsdirektor, Stellv. Sektionsdirektor.«


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