Politische Theorie

 

Friedrich Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht

 

Verfasser: Richard Schapke, im Dezember 2003

An dieser Stelle soll auszugsweise die Nietzsche-Interpretation des Philosophen und Pädagogen Alfred Baeumler wiedergegeben werden. Zur Erhellung des historisch-weltanschaulichen Hintergrundes scheint es angebracht, sich eingangs mit Baeumlers Person näher zu befassen.

Alfred Baeumler wurde am 19. November 1887 in Neustadt an der Tafelfichte im damals österreichischen Sudetenland geboren. Er studierte in München, Bonn und Berlin Kunstgeschichte und Philosophie. In letzterem Fach etablierte Baeumler sich rasch als einer der führenden Wissenschaftler des deutschen Sprachraumes, was nicht zuletzt durch sein 1923 veröffentlichtes Erstlingswerk zu Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“ begründet wurde. Nach der Habilitation an der Technischen Hochschule Dresden entwickelte Baeumler sich infolge seiner guten Beziehungen zum Weimarer Nietzsche-Archiv zu dem Nietzsche-Kenner im Deutschland der 20er und 30er Jahre. Seine Bedeutung für die damalige Philosophie wird dadurch illustriert, dass er in den 20er Jahren gemeinsam mit Manfred Schröter das „Handbuch der Philosophie“ herausgab, sich um die Veröffentlichung von Hegels Schriften zur Gesellschaftsphilosophie verdient machte und zwischen 1930 und 1932 die Werke Friedrich Nietzsches in einer achtbändigen Gesamtausgabe editierte.

In Alfred Baeumler ist einer der ersten nationalsozialistisch orientierten Pädagogen und Philosophen zu sehen. Im Gegensatz zur Mehrzahl der NS-Ideologen (Alfred Rosenberg!) orientierte er sich allerdings nicht an rückwärtsgewandten völkischen Vorstellungen, Biologismen und pseudometaphysischen Schwärmereien, sondern betrieb die Neuausrichtung der Philosophie durch eine an Nietzsche angelehnte Politische Pädagogik. Erwähnenswert erscheint, dass Baeumler zunächst Mitarbeiter an Ernst Niekischs nationalbolschewistischer Monatsschrift „Widerstand“ war. Auf seine Vermittlung hin kam seinerzeit die Bekanntschaft zwischen Niekisch und Ernst Jünger zustande; mit letzterem stand er in engem Kontakt, der erst nach der Hinwendung Baeumlers zur NSDAP 1933 ein Ende finden sollte.

Nach der Machtergreifung des real existierenden Nationalsozialismus setzte ein regelrechter Konkurrenzkampf unter den nicht emigrierten oder ins gesellschaftliche Abseits gedrängten Intellektuellen um die Führungsrolle in der offiziellen Philosophie des Dritten Reiches ein. Nicht zuletzt zum Leidwesen des Propagandaministers Goebbels zeichnete sich die NSDAP bislang durch eine regelrechte Intellektuellenfeindlichkeit aus, was angesichts des geistigen Niveaus großer Teile der NS-Reichsleitung nicht weiter verwundert. Das Klima des Jahres 1933 lässt sich daran erkennen, dass auch Persönlichkeiten wie Gottfried Benn, Carl Schmitt, Martin Heidegger oder Hugo Dingler, der geistige Vater des Konstruktivismus, den Sturz der Weimarer Republik mit Begeisterung begrüßten. Baeumlers Einstellung kann anhand eines Satzes charakterisiert werden: "Ich hielt die nähere Bestimmung des geistigen Gehaltes des Nationalsozialismus für eine Aufgabe der besten Geister der Nation."

Kurz nach der Machtergreifung erhielt Baeumler eine Professur für Politische Pädagogik an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Seine Antrittsvorlesung zum Thema „Wider den undeutschen Geist“ wurde zur Initialzündung der Bücherverbrennungen vom 1. Mai 1933, auch an der Ächtung Oswald Spenglers als „undeutscher Ästhet“ hatte er regen Anteil. Bei Ernst Jünger handelte Baeumler sich sehr bald den Spitznamen "Magister Holzkopf" ein. 1934 übernahm er das Wissenschaftsressort im so genannten Amt Rosenberg, der Dienststelle des Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP. Festzuhalten bleibt allerdings, dass Alfred Baeumler auf philosophischem Wege stets bemüht war, den vulgären Sozialdarwinismus und rassistischen Biologismus des Regimes einzuschränken; unter Rekurs auf Nietzsche war er bemüht, gewissermaßen einen geläuterten Hitlerismus zu schaffen. Zudem gehörte er zu den wenigen Protektoren der Rudolf-Steiner-Schulen. Rosenberg und sein Ressortleiter waren erbitterte ideologische Widersacher.

Auf pädagogischem Gebiet sind die Veröffentlichungen „Rasse als Grundbegriff der Erziehungswissenschaft“ (1939) und „Die deutsche Schule im Zeitalter der totalen Mobilmachung“ zu nennen. In dieser 1937 veröffentlichten Arbeit forderte Baeumler (unter deutlichem Rekurs auf Ernst Jünger!) die Vermittlung einer neuen „politischen Religion“ durch den Geschichtsunterricht. Wichtigstes erzieherisches Anliegen war ihm die Schaffung eines kollektivistischen deutschen Tat-Menschen, dem das heroische Griechentum und das ihm verwandte deutsche Krieger- bzw. Frontsoldatentum die Urbilder liefern sollten. Die Jugend sollte zu konkreten Zielen erzogen werden, "die vom Herzen ergriffen werden, innerhalb einer konkreten Ordnung, die vom Willen bejaht wird." Diese Erziehung hatte mittelbar an der Schule durch Lehrer und Arbeitsgemeinschaften und unmittelbar durch die Hitler-Jugend zu erfolgen, deren Führer ihren Zöglingen durch ihr persönliches Vorbild vorleben sollten. Wie die meisten der intellektuellen „Märzgefallenen“ des Jahres 1933 scheiterte auch Baeumler an der rauen Realität des Dritten Reiches. 1940/41 verlief ein letzter Versuch im Sande, gemeinsam mit der Deutschen Hochschule für Politik die NS-Ideologie philosophisch zu systematisieren.

Nach 1945 wurde Alfred Baeumler für drei Jahre in den Lagern Hammelburg und Ludwigsburg interniert. Im Gegensatz zu vielen seiner Professorenkollegen bekannte er sich zu seinen Irrtümern, auch der Kontakt zu Ernst Jünger wurde wieder belebt. Danach lebte er in Eningen bei Reutlingen, wo er am 19. März 1968 starb.

Der Wille als Macht (aus: Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931)

Anmerkung: Alle kursiv gesetzten Zitate entstammen den Werken Nietzsches, vor allem aber dem erst posthum veröffentlichten „Willen zur Macht“. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Baeumlers Interpretation zugrunde liegende Fassung in nicht unerheblichem Maße von Elisabeth Förster-Nietzsche manipuliert wurde. Dennoch legt der Autor hier eine durchaus brauchbare Zusammenfassung der Philosophie des Willens zur Macht vor. Der Originaltext wurde geringfügig bearbeitet.

 

Der Wille als Macht

Dem Verständnis der Philosophie Nietzsches hat nichts so im Wege gestanden wie der Titel seines philosophischen Hauptwerkes. Man glaubte zu wissen, was Wille und was Macht sei und legte den Titel entsprechend aus. In Wahrheit ist nichts so schwer zu verstehen und zu umschreiben wie das, was Nietzsche mit den Worten „Wille zur Macht“ eigentlich meint. Das Verständnis beginnt in dem Augenblick, wo man die Verkoppelung der Begriffe Wille und Ziel aufgibt. Der Wille zur Macht ist nicht ein Wille, der Macht zum Ziele hat, der nach Macht strebt. Der Wille ist auch nicht auf etwas gerichtet - alle diese Vorstellungen verfälschen die Wirklichkeit des Wollens. Insofern Zwecke und Ziele da sind, sind sie vom Willen gesetzt, stehen sie in seinem Dienst und können daher nicht etwas außer ihm sein, dem er zustrebt. Er selber strebt keinem Ziele zu, er ist das ewige Werden selbst, das kein Ziel kennt. Dieses Werden ist ein Kampf. Was ist demnach das Wollen? Nietzsche erklärt: "Wollen überhaupt ist soviel wie Stärkerwerdenwollen, Wachsenwollen - und dazu die Mittel wollen." Die Stärke ist kein Ziel des Willens, denn sie ist der Wille selbst. Der Wille will also nur sich: soweit gibt die Erklärung keinen Anstoß. Das Wachsen aber könnte als passiver Vorgang aufgefasst werden - dann wäre das Nietzschesche Bild der Welt entscheidend missverstanden. Das Wachsen ist kein Vorgang: unter dem Wachsen versteht Nietzsche vielmehr ein Tun - es ist nichts anderes als eine Folge von Siegen. Der Kausalismus wird von Nietzsche abgelehnt, weil er die Welt als Kampf verdeckt; aus dem gleichen Grunde wendet er sich gegen die Teleologie: die anscheinende Zweckmäßigkeit im Geschehen ist bloß die Folge des Willens zur Macht: jeder Sieg setzt eine neue Ordnung, "das Stärkerwerden bringt Ordnungen mit sich, die einem Zweckmäßigkeits-Entwurf ähnlich sehen".

Das Wollen hat kein Ziel, das außer ihm läge - es ist überhaupt nichts für sich: Wille ist nur ein Ausdruck für den jeweiligen Gesamtzustand eines Seienden. Im Menschen sieht das so aus: Wollen ist Befehlen, Befehlen aber ist ein Affekt, und dieser Affekt ist eine plötzliche Kraftexplosion. Der Weg des Willens ist durch lauter Kraftexplosionen bezeichnet. Was wir unter Wollen im engeren Sinne verstehen, der bewusste Wille, ist nur eine Begleiterscheinung des Wesentlichen, das ein Ausströmen von Kraft ist. "Das Wollen ist nur ein Nebenbei." Der bewusste Wille begleitet den eigentlichen Willen, der immer die Unendlichkeit vor sich hat und deshalb frei ist. Er ist also nicht frei, weil er sich selber Ziele setzt, sondern umgekehrt, weil er kein Ziel hat, weil er, vom Bewusstsein her gesehen, immer ins Dunkle geht. Etwas wollen heißt nicht ein Ziel anstreben, sondern es heißt: "ein Experiment machen, um zu erfahren, was wir können; darüber kann uns allein der Erfolg oder Misserfolg belehren". Alles Wollen ist also in Wahrheit ein Können: es ist ein Probieren der Kraft. Damit ist die herkömmliche Willenslehre verlassen, und Nietzsche kann sagen: "Es gibt gar keinen Willen, weder einen freien noch einen unfreien. Unter gewissen Umständen folgt auf einen Gedanken eine Handlung: zugleich mit dem Gedanken entsteht der Affekt des Befehlenden, - zu ihm gehört das Gefühl von Freiheit, das man gemeinhin in den Willen selber verlegt (während es nur eine Begleiterscheinung des Wollens ist)." Das so genannte Wollen ist ein Vorurteil: Tatsache ist lediglich, dass etwas durch uns geschieht. Die Regelmäßigkeit dieses Geschehens führt uns zu dem Glauben: was wir regelmäßig tun, das wollen wir, also sind wir frei. "Die Tatsache ist: in dem und dem Falle pflege ich das zu tun. Der Schein ist: es ist der und der Fall eingetreten - ich will jetzt dies tun." Wenn einer von seinen eigenen Handlungen überrascht wird, wie im Falle der Leidenschaft, dann zweifelt er an seiner Freiheit, und man redet vielleicht von dämonischen Einflüssen. In solchen Fällen scheitert unsere oberflächliche Psychologie des Willens. Die Frage ist: woraus wird gehandelt? Das Wozu? Wohin? ist etwas Zweites. Es kann gehandelt werden aus Lust, d.h. aus überströmendem Kraftgefühl, oder aus Unlust, d.h. aus Hemmung des Machtgefühls. In keinem Falle aber wird des Glücks oder des Nutzens wegen oder um Unlust abzuwehren gehandelt: es "gibt sich vielleicht eine gewisse Kraftmenge aus und ergreift etwas, woran sie sich auslassen kann. Das, was man Ziel, Zweck nennt, ist in Wahrheit das Mittel für diesen unwillkürlichen Explosions-Vorgang".

Daraus ergibt sich eine streng anti-hedonistische Auffassung vom Wesen des wirklichen Wollens. Lust und Unlust werden etwas Sekundäres: sie sind die ältesten Symptome aller Werturteile, nicht aber ihre Ursachen. Vor allem entsteht Lust nicht aus der Befriedigung des Wollens. Da es kein Ziel des Willens gibt, gibt es auch keinen Endzustand, in welchem der Wille sich befriedigen könnte. Nichts war dem nordisch-gespannten Wesen Nietzsches verhasster als die orientalische Vorstellung wonnevoller Ruhe, der Begriff des „Sabbats der Sabbate“ Augustins. Seine Lehre vom Willen ist der vollkommenste Ausdruck seines Germanismus. "Das Glück als Ziel des Handelns ist nur ein Steigerungsmittel der Spannung: es darf nicht verwechselt werden mit dem Glück, das in der Aktion selber liegt. Das finale Glück ist sehr bestimmt; das Glück in der Aktion würde durch hundert solche bestimmte Glücksbilder zu bezeichnen sein." Das Damit ist eine Illusion: der Handelnde spiegelt sich ein Glück vor, das er einernten will, und vergisst darüber die eigentliche treibende Kraft. Das vorgestellte Ziel ist nur dazu da, um die Begierde der Entladung aufs höchste zu steigern. "Ein überströmendes geladenes Kraftgefühl ist da: das vorgestellte Ziel der Handlung gibt eine Vorwegnahme der Ausspannung und reizt dadurch noch mehr zur Entladung: die folgende Handlung gibt die eigentliche Ausspannung."

Wir sagen, wir wollen etwas; in Wirklichkeit will etwas in uns. Dieses Etwas spiegelt uns ein Bild, ein Ziel vor, das nun als Motiv wirkt - in Wahrheit ist es immer nur die Kraft, die wirkt. Alle unsere Handlungen, alle unsere Gedanken kommen unverbunden, jeder für sich aus derselben Tiefe unseres Selbst hervor. Das Bewusstsein sieht nur zu. „Alles, was ins Bewusstsein tritt, ist das letzte Glied einer Kette, ein Abschluss. Dass ein Gedanke unmittelbar Ursache eines anderen Gedankens wäre, ist nur scheinbar. Das eigentliche verknüpfte Geschehen spielt sich ab unterhalb unseres Bewusstseins: die auftretenden Reihen und Nacheinander von Gefühlen, Gedanken usw. sind Symptome des eigentlichen Geschehens! Unter jedem Gedanken steckt ein Affekt. Jeder Gedanke, jedes Gefühl, jeder Wille ist nicht geboren aus einem bestimmten Triebe, sondern er ist ein Gesamtzustand, eine ganze Oberfläche des ganzen Bewusstseins und resultiert aus der augenblicklichen Macht-Feststellung aller der uns konstituierenden Triebe, - also des eben herrschenden Triebes sowohl als der ihm gehorchenden oder widerstrebenden. Der nächste Gedanke ist ein Zeichen davon, wie sich die gesamte Macht-Lage inzwischen verschoben hat.“ Jede Handlung ist von dem bleichen Bewusstseinsbild, das wir von ihr während der Ausführung haben, etwas unendlich Verschiedenes. Zwecke sind Zeichen, nichts mehr. "Während sonst die Kopie hinter dem Vorbild nachfolgt, geht eine Art Kopie dem Vorbild voraus. In Wahrheit wissen wir nie ganz, was wir tun, zum Beispiel wenn wir einen Schritt tun wollen oder einen Laut von uns geben wollen. Vielleicht ist dies Wollen nur ein bleicher Schatten davon, was wirklich schon im Werden ist, ein nachkommendes Abbild von unserem Können und Tun: mitunter ein sehr falsches, wo wir nicht zu können scheinen, was wir wollen."

Bis in die alltäglichsten Vorstellungen hinein verdirbt der Begriff des Zwecks und des Willens uns alle Wirklichkeit. Überall finden wir eine Zweckmäßigkeit der Natur - aber das, was wir wollen, und das, was wir tun, ist etwas Verschiedenes. Es führt keine Brücke hinüber. (…) Es liegt nur ein terminologischer, kein sachlicher Widerspruch vor, wenn Nietzsche manchmal den Willen ganz leugnet und dann doch vom Willen zur Macht spricht. Was er leugnet, ist der bewusste, zielsetzende Wille, der zu den erdichteten Wesen der inneren Welt gehört. Der Grundsatz seiner Psychologie lautet daher: "Hier genügen Empfindung und Denken. Das Wollen als etwas Drittes ist eine Einbildung." Der Wille zur Macht ist nicht ein Wollen, sondern ein Können, er ist die wirklich arbeitende Einheit, an deren Stelle der Idealismus das Bewusstsein tätig sein lässt. Der Irrtum der bisherigen Philosophen war, dass sie der Einheit des Bewusstseins zuschrieben, was in Wirklichkeit die Einheit der Kraft, die Nietzsche den Willen zur Macht nennt, leistet. Im Begriff des Willens zur Macht erreicht der moderne Anti-Cartesianismus seinen Höhepunkt. Deshalb trägt auch das Hauptwerk diesen Begriff als Titel.

Die ungeheuren Fehlgriffe des Idealismus können folgendermaßen systematisch zusammengefasst werden: Der Grundirrtum ist die unsinnige Überschätzung des Bewusstseins, aus welchem man eine Einheit, ein Wesen gemacht hat, das fühlt, denkt und will. Dieses Wesen nennt man den Geist. Überall, wo Zweckmäßigkeit, System, Koordination erscheinen, wird dieser Geist als Ursache angesetzt. Das Bewusstsein tritt als die höchste Art Sein auf - als Gott. Überall, wo es Wirkung gibt, wird das Wirken eines Willens angenommen. Die wahre Welt tritt als geistige Welt auf und ist folglich nur durch die Tatsachen des Bewusstseins zugänglich. Das Erkennen wird als Bewusstseinstätigkeit aufgefasst. Aus diesen Grundannahmen werden Folgerungen von entscheidender Wichtigkeit gezogen. Diese Folgerungen sind: Jeder Fortschritt liegt in der Richtung des Bewusstwerdens, Unbewusstwerden ist Rückschritt; man nähert sich der Realität durch Logik, man entfernt sich von ihr durch die Sinne; die Annäherung an den Geist bedeutet eine Annäherung an Gott; alles Gute muss aus der Geistigkeit stammen, muss Bewusstseinstatsache sein; der Fortschritt zum Besseren kann nur ein Fortschritt im Bewusstwerden sein.

Wie schon Ludwig Feuerbach vor ihm, sieht Nietzsche in der Philosophie des Geistes von Descartes bis Hegel eine Tochter der christlichen Theologie. Seine Kritik des Bewusstseins und des Willens ist zugleich eine Kritik der christlichen Interpretation der Welt. Die idealistische Weltauffassung ist nur eine philosophisch-moralische Kosmo- und Theodizee. Sie geht von höchsten Werten und Zielen aus, denen das Leben dient - aber damit wird eine Art Mittel (der Geist) als Zweck missverstanden, das Leben dafür umgekehrt zum Mittel erniedrigt. Alles wird von der bewussten Welt des Geistes her beurteilt. Doch die bewusste Welt kann nicht als Wertausgangspunkt gelten: eine objektive Wertsetzung ist notwendig. Nicht der Geist kann den Ausgangspunkt aller unserer Schätzungen bilden, denn der Geist ist als Täter (z.B. in unserem Denken) fingiert. Auch unsere Gedanken stammen aus der Tiefe der Gesamteinheit, die wir sind. Was ins Bewusstsein tritt, ist immer schon etwas Abgeleitetes und oft etwas Täuschendes. Die Wirklichkeit breitet sich in unermesslicher Tiefe unter der Oberflächenwelt des Bewusstseins aus. Sie ist kein Chaos, sondern das wohlgeordnete Reich des Willens zur Macht. "In Hinsicht auf das Ungeheure und Vielfache des Für- und Gegeneinanderarbeitens, wie es das Gesamtleben jedes Organismus darstellt, ist dessen bewusste Welt von Gefühlen, Absichten, Wertschätzungen ein kleiner Ausschnitt. Dies Stück Bewusstsein als Zweck, als Warum? für jenes Gesamtphänomen von Leben anzusetzen, fehlt uns alles Recht: ersichtlich ist das Bewusstwerden nur ein Mittel mehr in der Entfaltung und Machterweiterung des Lebens. Deshalb ist es eine Naivität, Lust oder Geistigkeit oder Sittlichkeit oder irgendeine Einzelheit der Sphäre des Bewusstseins als höchsten Wert anzusetzen: und vielleicht gar die Welt aus ihr zu rechtfertigen."

Die theologische, die moralische und die hedonistische Beurteilung und Rechtfertigung des Lebens werden von Nietzsche als auf gleichem Fuße behandelt: es sind Wahnwitz-Interpretationen, die das Leben mit Faktoren des Bewusstseins messen (Lust und Unlust, Gut und Böse). Statt das Bewusstsein als Werkzeug und Einzelheit im Gesamtleben zu verstehen, dreht man das Verhältnis um und setzt eine geistige Welt als Maßstab des Lebens an. Alles wirkliche, aus der Tiefe des Seins kommende Handeln erscheint bei dieser Optik entstellt und verborgen: statt kämpfender Lebenseinheiten glaubt man eine imaginäre Welt geradlinig sich bewegender, durch geistige Werte bestimmter Bewusstseinseinheiten zu sehen. Das ist die fehlerhafte Perspektive von einem Teil auf das Ganze, aus welcher die Tendenz der idealistischen Philosophen hervorgeht, ein Gesamtbewusstsein, einen Geist oder einen Gott zu imaginieren. Dadurch wird der Sinn aus dem Leben hinausverlegt, das Dasein wird zum Monstrum, zu etwas, das verurteilt werden muss. "Gerade dass wir das Zweck und Mittel setzende Gesamtbewusstsein eliminiert haben: das ist unsere große Erleichterung.Unser größter Vorwurf gegen das Dasein war die Existenz Gottes."

Von dieser Stelle aus ist das ganze philosophische System Nietzsches zu überschauen. Der einheitliche Grundgedanke seiner theoretischen wie seiner praktischen Philosophie wird hier sichtbar. Dem Kampf gegen das Bewusstsein, gegen das Subjekt, den Willen, den Geist in der theoretischen Sphäre entspricht der Kampf gegen die Unterscheidung von Gut und Böse, gegen die Schuld, das schlechte Gewissen und die moralische Verantwortlichkeit in der praktischen. Nietzsche muss die christliche Gottesvorstellung bekämpfen, weil durch sie der Charakter des Daseins, wie er ihn erkennt, aufgehoben wird: „Sobald wir uns jemanden imaginieren, der verantwortlich ist dafür, dass wir so und so sind usw. (Gott und Natur), ihm also unsere Existenz, unser Glück und Elend als Absicht zulegen, verderben wir uns die Unschuld des Werdens. Wir haben dann jemanden, der durch uns und mit uns etwas erreichen will.“

Das Geheimnis des Kampfes, den Nietzsche gegen den Gottbegriff führt, ist damit ausgesprochen. Eine flüchtige Notiz des Nachlasses lautet: "Die Widerlegung Gottes: eigentlich ist der moralische Gott widerlegt." Es ist also nur der priesterliche Gottesbegriff, gegen den der Kampf sich richtet - der Gott der Priester ist tot. In unserem Herzen leben kann nur ein Gott, der dem Dasein, dem ewigen Werden, seine Unschuld lässt. Wie in harten Stein meißelt Nietzsche die Worte, die seine Religion des Schicksals umschreiben: "Niemand ist dafür verantwortlich, dass er überhaupt da ist, dass er so und so beschaffen ist, dass er unter diesen Umständen, in dieser Umgebung ist. Die Fatalität seines Wesens ist nicht herauszulösen aus der Fatalität alles dessen, was war und was sein wird. Er ist nicht die Folge einer eigenen Absicht, eines Willens, eines Zwecks, mit ihm wird nicht der Versuch gemacht, ein Ideal von Mensch oder ein Ideal von Glück oder ein Ideal von Moralität zu erreichen - es ist absurd, sein Wesen in irgendeinen Zweck hin abwälzen zu wollen." Es gibt keine Kritik des Seins, denn dies würde voraussetzen, dass wir einen festen Punkt außerhalb des Seins haben, von dem aus wir es abschätzen können. Aber in jedem Abschätzen selbst ist dieses Sein noch - ob wir Ja oder ob wir Nein zum Dasein sagen, wir tun immer nur, was wir sind. Alle Wertschätzungen sind nur Folgen und Perspektiven im Dienste des Willens zur Macht. Wille zur Macht ist aber nur ein anderes Wort für die Unschuld des Werdens.

Von diesem Zentralbegriff aus erläutert Nietzsche seinen eigenen Willen zur Philosophie und die Wege dieses Willens - er interpretiert sich selbst mit Hilfe eines Grundbegriffs seines Systems: "Wie lange ist es nun her, dass ich bei mir selber bemüht bin, die vollkommene Unschuld des Werdens zu beweisen! Und welche seltsamen Wege bin ich dabei schon gegangen! Einmal schien mir dies die richtige Lösung: dass ich dekretierte: das Dasein ist, als etwas von der Art des Kunstwerks, gar nicht unter der jurisdictio der Moral; vielmehr gehört die Moral selber ins Reich der Erscheinung. Ein andermal sagte ich: alle Schuld-Begriffe sind objektiv völlig wertlos, subjektiv aber ist alles Leben notwendig ungerecht und unlogisch. Ein drittes Mal gewann ich mir die Leugnung aller Zwecke ab und empfand die Unverkennbarkeit der Kausal-Verknüpfungen. Und wozu dies alles? War es nicht, um mir selber das Gefühl völliger Unverantwortlichkeit zu schaffen, mich außerhalb jedes Lobs und Tadels, unabhängig von allem Ehedem und Heute hinzustellen, um auf meine Art meinem Ziele nachzulaufen?"

Als Nietzsche die ersten Überlegungen über das Werk anstellte, welches sein eigentliches Philosophenwerk werden und für das der Zarathustra nur die Vorhalle bedeuten sollte, da schrieb er sich unter anderen auch den Titel nieder: „Die Unschuld des Werdens. Ein Wegweiser zur Erlösung der Moral“. Diesen Titel hat ein aktiverer, geladenerer verdrängt. Das, worauf es ankommt, in seiner philosophischen Bedeutung verstehen zu lassen ist aber nichts besser geeignet als jener niemals mißzuverstehende erste Titelentwurf. Dieser Titel will sagen: sobald wir ein Sein unabhängig und über dem Werden ansetzen, ist die Wirklichkeit um ihren Sinn gebracht. Sie wird zu einer scheinbaren Welt neben der wirklichen - sie wird überflüssig. Die Hypothese eines wahren Seins steht demnach im Dienste der Welt-Verleumdung. Das Werden ist in Wahrheit, "wertgleich in jedem Augenblick.anders ausgedrückt: es hat gar keinen Wert, denn es fehlt etwas, woran es zu messen wäre". Es gibt kein Gegenüber des Lebens, von dem aus über das Dasein reflektiert werden kann, es gibt keine Instanz, vor der das Leben sich schämen könnte: darin besteht die Unschuld des Werdens.

Das Leben hat keinen Richter über sich: "man muss die Absurdität dieser daseinsrichtenden Gebärde einsehen". Feststellen, was ist, wie es ist, scheint dem Realisten etwas unsäglich Höheres, Ernsteres als jedes „so sollte es sein“. "Ein Mensch, wie er sein soll: das klingt uns so abgeschmackt, wie: ein Baum, wie er sein soll." Die Moral enthält lauter Wünschbarkeiten - aber gerade wenn der Mensch sich Ideale erträumt, wird er klein. "Man kann nicht genug Achtung vor dem Menschen haben, sobald man ihn daraufhin ansieht, wie er sich durchzuschlagen, auszuhalten, die Umstände sich zunutze machen, Widersacher niederzuwerfen versteht; sieht man dagegen auf den Menschen, sofern er wünscht, ist er die absurdeste Bestie." In allem Wünschen ist etwas Feminines: es ist, als ob der Mensch "einen Tummelplatz der Feigheit, Faulheit, Schwächlichkeit, Süßlichkeit, Untertänigkeit zur Erholung für seine starken und männlichen Tugenden brauchte".

Unter philosophischem Gesichtspunkt ist die Ausschließung jedes Zielzustandes durch den Begriff der Unschuld besonders bemerkenswert. Zur Unschuld des Daseins gehört seine Gegenwärtigkeit: niemals darf "das Gegenwärtige um eines Zukünftigen willen oder das Vergangene um des Gegenwärtigen willen gerechtfertigt werden". Deshalb ist es nötig, "ein Gesamtbewusstsein des Werdens, einen Gott  zu leugnen, um das Geschehen nicht unter den Gesichtspunkt eines mitfühlenden, mitwissenden und doch nichts wollenden Wesens zu bringen". Ist ein solches Wesen aber einmal imaginiert worden, hat sich dann durch die Logik der Dinge der Glaube an die wahre Welt hinter der wirklichen, der Glaube an die Moral, die höchsten Werte und Zwecke des Lebens selber widerlegt, ist ein Zustand erreicht, in welchem jener Grundirrtum überall ausschlägt wie ein Krankheitsstoff, der einem gesunden Leibe eingeimpft wurde - dann stehen wir vor dem Phänomen des Nihilismus, mit dessen Schilderung das geplante Hauptwerk beginnen sollte. Nihilismus bedeutet, dass die obersten Werte sich entwerten, Nihilismus ist die zu Ende gedachte Logik unserer Ideale.

Man meint gewöhnlich, Nietzsche habe nichts weiter getan als die Tatsache des europäischen Nihilismus zu registrieren, er sei seinem Wesen nach ein Kritiker, ein bloßer Vernichter und Zerstörer, der das Aufbauen anderen überlasse. Es steht mit diesen Vorwürfen ebenso wie mit den billigen Feststellungen seines Atheismus. Nietzsche hat den Nihilismus auf dem Grunde der modernen Kultur, er hat das Chaos der modernen Seele schonungslos entlarvt; er hat aber auch ein neues Bild der Welt und des Menschen in reiner Größe aufgerichtet. Nicht darin besteht seine Bedeutung, dass er das getan hat, was so viele vor ihm taten - auch darin hatte er müde Stunden: dass er neue Werte, neue Ideale formulierte, sondern vielmehr darin, dass er uns weiter in die Tiefen der Wirklichkeit hat schauen lassen als irgendein Denker vor ihm. Er hat nicht kalt und ohnmächtig die Trümmerwelt beschrieben, die den vom Idealismus erzogenen Menschen umgibt, sondern er hat auch die Ordnung schauen lassen, die immer war und immer sein wird. Diese Aufzeigung der ewigen Ordnung der Welt, die seine eigentliche philosophische Leistung ausmacht, hängt mit seinem Schicksalsglauben aufs engste zusammen. Er hat die falsche Ordnung des Bewusstseins nur vernichtet, um im Reiche unserer Gedanken die wahre Ordnung des Willens zur Macht an ihre Stelle treten zu lassen, so wie er dem moralischen Gott die Fehde angesagt hat, ohne Gott zu bekämpfen.

 

Die heraklitische Welt

Die Philosophie, die mit dem Subjekt, den Tatsachen des Bewusstseins beginnt, endet mit der Annahme eines Gesamtbewusstseins oder eine Welt geistiger Werte. Nietzsches Philosophie der objektiven Wertsetzung gipfelt in der Feststellung, dass es ein Gesamtphänomen von Leben, eine Einheit des Lebens gibt, aus der alle unsere Gedanken und Taten hervorkommen. Der Wille zur Macht ist nur ein anderer Name für diese Einheit. Unter diesem Willen haben wir also nicht nur ein subjektives Phänomen, eine Willensanstrengung oder Willensregung zu verstehen, sonder etwas Objektives: die Wohlordnung als die Wirklichkeit des Lebens. Die Einheit des Organismus und die Gesamtheit des Lebens, ja des Daseins überhaupt, werden dabei von Nietzsche als wesensgleich angesehen. Der Größenunterschied, der zwischen dem menschlichen Leibe und dem Kosmos besteht, fällt nicht ins Gewicht, wenn wir in beiden Fällen den Aufbau ins Auge fassen, der aus der Grundnatur des Willens zur Macht folgt, denn beide, Leib und Kosmos, sind unendlich gegliederte Vielheiten, konstituiert durch den Willen zur Macht. "Wir können uns unsern Leib auseinanderlegen, und dann erhalten wir ganz dieselbe Vorstellung davon wie vom Sternensystem, und der Unterschied von organisch und unorganisch fällt nicht mehr in die Augen." 

Die Seele, aus der schließlich das Subjekt der Idealisten hervorgegangen ist, mag ein anziehender und geheimnisvoller Gedanke gewesen sein - aber vielleicht, sagt Nietzsche, ist das, was wir nunmehr dagegen einzutauschen lernen, noch anziehender und geheimnisvoller. "Der menschliche Leib, an dem die ganze fernste und nächste Vergangenheit alles organischen Werdens wieder lebendig und leibhaft wird, durch den hindurch, über den hinweg und hinaus ein ungeheurer, unhörbarer Strom zu fließen scheint: der Leib ist ein erstaunlicherer Gedanke als die alte Seele." Am Leitfaden des Leibes durchwandert er die Reiche der Natur und der Geschichte. Der Leib ist die vollkommenste Erscheinung des Willens zur Macht, er ist dasjenige Phänomen, an dem wir alle Züge dieses Willens am reinsten ausgeprägt finden. Im Grunde ist Nietzsches Philosophie ein einziger Lobgesang auf die Wirklichkeit des Leibes. Es ist die Philosophie eines echt hellenischen Instinkts.

Was aber ist der Leib? Er ist ein politisches Gebilde - eine Aristokratie. Nicht in subjektiven Einfällen und Stimmungen, nicht in zufälligen Wollungen und Begehrungen äußert sich der Wille zur Macht, sondern in dem Herrschaftsgebilde, das wir Leib nennen. "Die größere Kompliziertheit, die scharfe Abscheidung, das Nebeneinander der ausgebildeten Organe und Funktionen mit Verschwinden der Mittelglieder - wenn das Vollkommenheit ist, so ergibt sich ein Wille zur Macht im organischen Prozess, vermöge deren herrschaftliche, gestaltende, befehlende Kräfte immer das Gebiet ihrer Macht mehren und innerhalb desselben immer wieder vereinfachen: der Imperativ wachsend." Leben, so sahen wir, ist zu definieren als eine dauernde Form von Prozessen der Kraftfeststellungen, wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits ungleich wachsen. Diese Erklärung wird von Nietzsche in der Weise fortgeführt, dass der politische Charakter des Organismus völlig deutlich wird: "Inwiefern auch im Gehorchen ein Widerstreben liegt; es ist die Eigenmacht durchaus nicht aufgegeben. Ebenso ist im Befehlen ein Zugestehen, dass die absolute Macht des Gegners nicht besiegt ist, nicht einverleibt, aufgelöst. Gehorchen und Befehlen sind Formen des Kampfspiels."

Der Kampf, auf den die Philosophie des Willens zur Macht alles Geschehen zurückführt, ist also nicht ein sinnloses Wüten von Kräften gegeneinander. Er trägt eine Ordnung in sich, und den Gedanken dieser Ordnung gilt es zu verstehen, wenn man Nietzsches Philosophie verstehen will.

Wiederum wird die Unabgeschlossenheit des Systembaus empfindlich spürbar. Doch finden sich im Nachlass Stücke, mit denen wir diese Lücke schließen können. Im organischen Wesen, sagt eine Aufzeichnung, will sich nicht ein einzelnes Wesen, ein Subjekt erhalten, sondern der Kampf selber will sich erhalten, will wachsam und bewusst werden. "Das, was wir Bewusstsein und Geist nennen, ist nur ein Mittel und Werkzeug, vermöge dessen nicht ein Subjekt, sondern ein Kampf sich erhalten will. Der Mensch ist das Zeugnis, welche ungeheuren Kräfte in Bewegung gesetzt werden können durch ein kleines Wesen vielfachen Inhalts (oder durch einen perennierenden Kampf, konzentriert auf viele kleine Wesen). Wesen, die mit Gestirnen spielen." Es gibt also noch etwas außer dem Kampfe: es ist das, was den Kampf perennieren lässt, was die dauernde Form des Lebendigen ermöglicht, was das Herrschaftsgebilde des Leibes erbaut, das, was verhütet, dass die Kämpfenden sich zerstören und das Ende eintritt. Es kann dies nichts sein, was außerhalb des Kampfes liegt - diese Voraussetzung passt nicht zu einem System, welches das Werden von innen darstellen will. Es kann nicht ein Gesetz sein, das dem Kampfe Regeln vorschreibt - es kann nur das Gleichgewicht sein, das sich im Kampfe und durch den Kampf selber herstellt und so den Kampf erhält. "Der Kampf als Mittel des Gleichgewichtes" lautet in der Tat eine der Aufzeichnungen. Der Zusammenhang des Willens zur Macht fordert, dass dieser Satz auch in der Umkehrung seinen Sinn behält: das Gleichgewicht ist ein Mittel des Kampfes.

In dem angezogenen Satze und seiner Umkehrung gipfelt nach meiner Überzeugung der philosophische Gedankengang des Willens zur Macht. Wenn wir an einer anderen Stelle lesen, dass eine Gleichgewichtslage nie erreicht sei, beweise, dass sie nicht möglich sei, so bedeutet das keinen Einwand. Denn unter der Gleichgewichtslage ist hier der Stillstand zu verstehen ("Wäre der Stillstand möglich, so wäre er eingetreten.") - das Wort Gleichgewicht hat hier also einen rein mechanischen Sinn. Dagegen hat der Satz vom Kampf als Mittel des Gleichgewichts einen metaphysischen Sinn. Um diesen Sinn deutlich zu machen, muss gesagt werden, was Nietzsche unter Kampf versteht.

Dem Verständnis des philosophischen Systems Nietzsches steht nichts mit solcher Hartnäckigkeit entgegen als das aus mangelhafter Interpretation seiner Schriften geborene Vorurteil, er habe sich mehrfach gewandelt. In Wahrheit gibt es in der ganzen Geschichte der Philosophie nur wenige Denker, die mit solcher Sicherheit einen einzigen Gedanken von Jugend auf verfolgt haben wie Nietzsche. Man darf sich durch die Verschiedenheit der Ausdrucksweise nicht täuschen lassen; im folgenden Abschnitt wird dieser an sich völlig rätselhafte Wechsel der Einstellungen erklärt werden: Nietzsches Schriften sind die Werke eines Fechters; jedes einzelne Werk ist aus einer jeweils bestimmten Fechterposition zu verstehen. Hinter dem Wechsel der Position bleibt unverrückt die Grundkonzeption der heraklitischen Welt. So wie sie dem Jüngling aufging, so hat der Mann sie im „Willen zur Macht“ mit den entfalteten Kräften seines ganzen Wesens dargestellt. Die Übereinstimmung ist so vollkommen, dass sie Sätze aus dem Fragment über „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“ sogar zur Interpretation des Willens zur Macht benützen können.

Mit einer wahrhaft wunderbaren Entschiedenheit hat sich der junge Nietzsche von den Moralitätsvorstellungen seiner Zeit frei zu halten gewusst. Er hatte von Anbeginn Zutritt zu einer Welt, die unberührt von den lügnerischen und weichlichen Begriffen der bürgerlichen Humanität in reiner Klarheit vor ihm lag. (…) Nicht die Schau der ewigen Symbole: die Lust des Kämpfens und Siegens, der unbefangene Blick für den Charakter der Welt als eines ewigen Kampfes der Kräfte ist es, was ihn der bürgerlichen Moralität entfremdet. Weit unmittelbarer und tiefer als das mystisch-musikalische Jugendwerk über die Tragödie führt das kleine Fragment über Homers Wettkampf in seine Vorstellung vom Leben ein. Der Wettkampf gilt ihm als der edelste hellenische Grundgedanke. Der griechische Genius, so erkennt er, ließ die gute Eris gelten - nichts scheidet die griechische Welt so sehr von der unseren. Wie barbarisch, wie im tiefsten Sinne unbürgerlich - aber wie wahr ist es, wenn er in jenem Fragment definiert: "die Grausamkeit des Sieges ist die Spitze des Lebensjubels." Man versteht Nietzsches Leben und Schriften nicht, wenn man nicht beachtet, welchen Wert das Erlebnis und der Begriff des Kampfes und des Sieges für ihn haben. In der späteren Vorrede zu der Schrift, die ihn von Wagner löste („Menschliches, Allzumenschliches“) glänzt das bedeutsamste Ergebnis seines Lebens als ein Ereignis des Sieges vor uns auf: "ein rätselhafter fragenreicher fragwürdiger Sieg, aber der erste Sieg immerhin." In der Vorrede zur „Fröhlichen Wissenschaft“ wird jede Philosophie, welche den Frieden höher stellt als den Krieg, als ein Symptom der Krankheit gedeutet. Und in der „Götzendämmerung“ (Moral als Widernatur) steht: "Man hat auf das große Leben verzichtet, wenn man auf den Krieg verzichtet."

In der bürgerlich-humanitären Sozietät wird der Kampf als etwas nicht sein Sollendes, bestenfalls als etwas zu Entschuldigendes behandelt. In dieser Sozietät gilt als das Höchste die Liebe - ein Gefühl also, ein Seelenzustand, etwas Subjektives jedenfalls, und vor allem etwas Vieldeutiges, was als Eros, als Sexus oder auch als Gottesminne verstanden werden kann. Nichts spiegelt die Unbestimmtheit, d.h. die Innerlichkeit der bürgerlichen Persönlichkeit besser wieder als dieser gleitende Begriff. Wo amor und caritas im Schatten der Banken die Hände sich reichen - da ist der Ort dieser Gesellschaft.

Ein einzelnes Wort des jungen Nietzsche beleuchtet grell die historische Relativität dieser theoretisch von der Liebe, praktisch von der Lüge konstituierten Welt: "Der Neid ist viel stärker bei den Griechen ausgeprägt. Der Begriff der Gerechtigkeit ist viel wichtiger als bei uns: das Christentum kennt ja keine Gerechtigkeit." Was bedeutet dieses Wort? Nietzsche muss in der Tiefe eines anderen Kosmos ganz zu Hause sein, um es überhaupt aussprechen zu können. Gerade der christliche Gott wird ja als der gerechte Richter vorgestellt, gerade das Leben des Christen ist ja begrenzt durch einen Akt göttlicher Jurisdiktion, den Jüngsten Tag. (…)

Wie kommt Nietzsche dazu, dem Christentum Gerechtigkeit abzusprechen? Weil er ganz in der heraklitischen Vorstellung von der Gerechtigkeit lebt. Im tiefsten Grunde fremd und unverständlich ist ihm die Vorstellung einer belohnenden und strafenden Gerechtigkeit, ja die Vorstellung des Gerichts überhaupt, wobei es einen moralisch Angeklagten, einen thronenden Richter und einen objektiven Spruch gibt. Diese juridische Vorstellungsweise bereitet nur einem Urteilen nach den Gesichtspunkten gut und böse die Bahn. Sie gehört zu einer Menschenart, die nicht aktiv ist, die lediglich reagiert. Der reagierende Mensch, der Mensch des Ressentiments, leitet zuletzt aus der Gerechtigkeit Forderungen an andere ab. Gerecht sein aber ist immer ein positives Verhalten: "Der aktive, der angreifende, übergreifende Mensch ist immer noch der Gerechtigkeit hundert Schritte näher gestellt als der reaktive." Der angreifende Mensch steht der Gerechtigkeit näher als der reaktive, weil Gerechtigkeit alles ein kann, nur nicht das, wozu der reaktive Mensch sie machen möchte: ein Mittel zur Abschaffung des Kampfes, zum Ausgleich der Gegensätze, zum Frieden. Eine Rechtsordnung, die nicht ein Mittel im Kampf von Machtkomplexen wäre, sondern ein Mittel gegen allen Kampf überhaupt, nennt Nietzsche ein lebensfeindliches Prinzip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Zeichen von Ermüdung, einen Schleichweg zum Nichts. Es ist die Moral, die diesen Schleichweg gehen lehrt, die Moral der Guten und Gerechten, bei denen die größte Gefahr für alle Menschenzukunft liegt. Gerechtigkeit wird schließlich die Tugend der letzten Menschen: "Und wenn sie sagen: ich bin gerecht, so klingt es immer gleich wie: ich bin gerächt!" Der rachsüchtige Mensch, der Mensch des Ressentiments, will, dass alle Menschen gleich seien. Zarathustra aber lehrt: "Denn die Menschen sind nicht gleich, so spricht die Gerechtigkeit."

Ungleichheit und Kampf sind die Voraussetzungen der Gerechtigkeit. Diese Gerechtigkeit waltet nicht über der Welt, nicht über dem Gewühl der Streitenden, sie kennt keine Schuld und keine Verantwortung, kein Gerichtsverfahren und keinen Urteilsspruch: sie ist dem Kampfe immanent. Deshalb ist sie in einer Friedenswelt nicht möglich. Gerechtigkeit kann nur sein, wo Kräfte in Freiheit sich miteinander messen. Unter einer absoluten Autorität, in einer Ordnung der Dinge, die einen göttlichen Herrn kennt, im Bereich der Pax Romana, da ist keine Gerechtigkeit mehr, denn da ist kein Kampf mehr. Da erstarrt die Welt in einer konventionellen Form. Nietzsche dagegen sieht: aus dem Kampfe selber gebiert sich in jedem Augenblick die Gerechtigkeit neu, der Kampf ist der Vater aller Dinge, er macht den Herrn zum Herrn und den Sklaven zum Sklaven. So spricht Heraklit von Ephesus. Das ist aber auch urgermanische Anschauung; im Kampfe erweist sich, wer edel ist und wer nicht; durch den eingeborenen Mut wird der Herr zum Herrn, und durch seine Feigheit wird der Sklave zum Sklaven. Eben darin äußert sich die ewige Gerechtigkeit: sie gliedert und trennt, sie schafft die Ordnung der Welt, sie ist die Urheberin jedes Ranges. So entspringt aus dem Kerngedanken der griechisch-germanischen Metaphysik Nietzsches seine große Lehre: dass es nicht eine Moral gibt, sondern nur eine Moral der Herren und eine Moral der Sklaven.

Nicht durch einen forensischen Akt, also äußerlich, wird die Gerechtigkeit hergestellt, sondern sie stellt sich durch die Taten von selbst her. Wenn Schopenhauers Hauptwerk den Titel trägt „Die Welt als Wille und Vorstellung“, so könnte Nietzsches Hauptwerk den Titel tragen „Die Welt als Tat und Gerechtigkeit“ oder kürzer, dasselbe ausdrückend: „Die Welt als Kampf“ Dieses letztere ist nur eine andere Wendung für die Unschuld des Werdens. Die Unschuld besteht darin, dass es keinen Täter gibt bei allem Tun, sondern dass etwas geschieht, dass es kein Subjekt gibt, keine Zwecke und keine Kausalzusammenhänge. Täter bedeutet aber soviel wie verantwortlicher Täter. Die wirkliche Tat wird damit nicht ausgeschlossen, denn der wirkliche Täter ist ein Kämpfer, ein Machtzentrum, das in jedem Augenblicke aus seiner Kraft die Konsequenzen zieht. Ein Kraftzentrum ist kein verantwortliches Subjekt. Entscheidend ist die Ausschließung des Bewusstseins und der Verantwortung: in diesem Gedanken schneiden sich alle Linien der Philosophie Nietzsches. Aus ihm folgt die nicht-forensische Betrachtung des menschlichen Daseins. Einen Richter des Lebens gibt es nur, wenn es einen Geist gibt. Der Geist steht dem Leben nicht nur gegenüber, sondern er ist über ihm, und eben dadurch wird die Unschuld des Kampfes aufgehoben. Der Kampf wird nun nicht mehr durch die Kämpfenden entschieden, sondern durch eine jenseitige Macht, für die nicht die Kraft, sondern das gute Gewissen ausschlaggebend ist. Fällt das Bewusstsein, so fällt auch die Vorstellung von Gewissen und Gericht - das Leben gewinnt seine Unschuld wieder.

Nietzsches kriegerische Natur äußert sich nicht nur in seinen polemischen Schriften, in seinem agonalen Verhältnis zu Schopenhauer, Wagner und Bismarck, in dem verwegenen Mut, mit dem er das Älteste und Verehrteste angreift; seine Kriegernatur bestimmt vielmehr auch den Charakter aller seiner Gedanken. Die Ausschließung des forensischen Systems ist eine notwendige Folge des Umstands, dass Nietzsche bis in die Instinkte hinein Krieger ist. Denn es ist kriegerisch, stets angesichts eines Anderen zu leben, sich stets in Spannung zu bestimmten Kräften zu empfinden. Kraft gegen Kraft - das ist der Charakter des Lebens. Priesterlich dagegen ist es, von einem absoluten Standpunkt über dem Leben und aus dem Leben zu beurteilen und zu richten. Der Priester beruft sich auf Gott, und damit ist er des Kampfes enthoben. Vermöge des von ihm in Anspruch genommenen besonderen Verhältnisses zu Gott hat er Recht, ohne gesiegt zu haben. Der Typus des Priesters steht also dem des Kämpfers gerade gegenüber. Es ist kein Zufall, dass Völker wie die Germanen und die Griechen Priester im Sinne der mediterranen Kulturen nicht kennen. Wenn der Priester zum Schwerte greift, so wird er darum nicht zum Krieger, sondern er wird zum Glaubensstreiter, zum Verteidiger des höchsten Gottes, zum Fanatiker. Er kämpft für das Absolute, das in jedem Falle siegt; siegt es nicht jetzt durch ihn, so siegt es später. Es ist klar, dass bei einer solchen Berufung auf das Absolute die Vorstellung der Gerechtigkeit oder des Schicksals unmöglich ist. Für den Krieger gibt es kein Absolutes; er kennt nur die eigene Kraft und das Schicksal. Das priesterliche und das kriegerische System schließen sich gegenseitig aus.

Gegen zwei geschichtliche Welten hat Nietzsche sein Leben lang im Kampfe gelegen: gegen die priesterlich-romantische und gegen die rational-aufklärerische. Sein heraklitisches System gibt uns Aufschluss über die tiefe Notwendigkeit der Linienführung dieser Fronten. Der Welt des Priesters und der Welt des Aufklärers ist gemeinsam, dass der echte Kampf und die Gerechtigkeit in ihnen nicht vorkommen. Der Priester urteilt und führt dann Vernichtungskriege, um das von ihm für göttlich erklärte Urteil zu exekutieren. Wie verschieden erscheint die Welt des Aufklärers dagegen - und doch wird auch hier ein Absolutes verehrt. An die Stelle des Kniefalls vor dem Heiligen tritt der befangene Bückling vor der Vernunft. In beiden Welten ist der freie Kampf der Kräfte mit dem großen Banne belegt. Kräfte und deren Gegensätze werden vom Aufklärer überhaupt nicht anerkannt. Er kennt nur Vernunftwesen mit Gefühl und Geschmack, Subjekte, deren Urteile berichtigt, gebildet werden können. Alles andere ist rohe Natur. Sein höchster Begriff ist eine Harmonie, die den ernsten Widerspruch, den realen Kampf ausschließt. An die Stelle des Kampfes der Kräfte untereinander tritt der vernünftige und moralische Kampf aufgeklärter Geister gegen den Aberglauben, die Dummheit und die Bosheit der Menschen. Das ist kein Kampf mehr im Sinne des geborenen Kriegers: wie könnte man kämpfen, wenn man von vornherein im Recht ist! Wie könnte man kämpfen in einer Welt, in der es einen Kampf nicht gibt, in der es nur Grade des Verstehens, der Aufklärung und der Bildung gibt! Jede Kraft hat ihre Perspektive, und sie kämpft innerhalb dieser Perspektive. Es gibt also keinen Kampf für die Vernunft, für das Glück, für den Fortschritt. Der Sieg ist ja schon erfochten, das Gute ist auf der einen Seite, auf der anderen ist nur das Böse. In dieser Hinsicht ist der Aufklärer ein säkularisierter Priester: wie dieser im Lichte Gottes, so steht er im Lichte der Vernunft.

Aber der Aufklärer dünkt sich höher als der Priester, er übertrifft diesen noch an Rechtgläubigkeit. Das macht, weil er eines vor ihm voraus hat: die Idee der Toleranz. In seinem Fanatismus hat der Priester Größe; er vermag im Widerspruch zu seiner Lehre zum Helden zu werden. Deshalb geht Zarathustra an den Priestern vorüber. Nur verderben die Glaubenskämpfer mit ihrem Glauben das redliche Kampfspiel, sie wissen nichts von der Gerechtigkeit. Von den Aufklärern aber wird die Gerechtigkeit mit feinen Giften getötet. Die Idee der Toleranz ist das Widerspiel der Gerechtigkeit: sie hebt den Gegensatz auf, sie verwirrt die Ordnung der Dinge, denn sie nennt den Kampf als solchen etwas, das zu verurteilen ist. Der Priester hat das böse Gewissen und die Moral erfunden, um zu siegen und zu herrschen, er kämpft gegen die Ungläubigen, weil er in der Gnade zu stehen vermeint, jene aber in der Verdammnis wohnen. Der Aufklärer gibt vor, nicht mehr kämpfen, nicht mehr siegen und nicht mehr herrschen zu wollen, er dient lediglich der Moral. Er ist zu aufgeklärt, um noch Scheiterhaufen zu errichten, er errichtet Lehrstühle der Tugend. Er begnügt sich damit, das gute Gewissen für sich zu haben und zu lehren, dass seine Gegner es nicht haben. Das nennt der Toleranz: die Verleugnung der Gegensätze, damit er ohne die Mühe des Kampfes herrschen könne. Und das ist ihm Philosophie: Rückführung alles Lebendigen und Mächtigen auf Tendenzen des Bewusstseins, auf die Vernunft und den Willen. Damit macht er das Große klein und das Kleine groß. Der Priester kämpft für die Sache Gottes. Wenn aber der aufgeklärte Bürger Krieg führt, dann muss er eine gute Sache erfinden, für die es sich zu streiten lohnt, denn er streitet grundsätzlich nur mit gutem Gewissen. "Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt." Enden aber muss der Moralismus des Aufklärers mit der völligen Verwerfung des Krieges. Das unheroische Dasein, das Leben ohne große Ziele, das erbärmliche Behagen wird zuletzt als moralische Pflicht vorgestellt, der Krieg, der den Heroismus entfesselt, wird verfemt.

Zwei Epochen hat die neuere Geschichte: auf die Epoche der Priesterwerte folgt die Epoche der Moralwerte. Nietzsches Psychologie des Priesters (des Ressentiments) in der „Genealogie“ ist die Fortsetzung des Kampfes gegen die Moral, den die „Morgenröte“ eröffnet. Bei allem Abstand, der zugunsten des Priesters spricht, sind die Diener des Heiligen und die Diener der Vernunft doch von der gleichen Art: sie empören sich im Namen des Absoluten, sie verurteilen, sie verfemen statt zu kämpfen. Gleichzeitig aber bedienen sie sich menschlicher, allzumenschlicher Mittel, um ihre Zwecke durchzusetzen. Die Moral muss, um zum Siege zu gelangen, unmoralisch werden. "Damit moralische Werte zur Herrschaft kommen, müssen lauter unmoralische Kräfte und Affekte helfen." Diesen Widerspruch erträgt der Aufklärer. Es fehlt ihm die Redlichkeit und die Tapferkeit, die dazu gehören, einen auf den Widerspruch gegründeten Zustand der Dinge zu bekämpfen. Der Aufklärer hält es aus inmitten der Lüge der christlichen Zivilisation, er hat das gute Gewissen selbst noch in der Lüge. Das aber ist die psychologische Formel für die Anarchie. Die Ordnung, die auf die Herrschaft des Bewusstseins gegründet ist, ist nur eine scheinbare: sie ist nicht auf das Wesen der Dinge gegründet, sie widerspricht der Wirklichkeit. Wenn die Menschen an eine fingierte Harmonie glauben, an eine Welt ohne Kräfte und Gegensatz, dann tritt das Chaos ein. Nicht die Natur ist chaotisch - sie ist das Reich einer strengen Gerechtigkeit. Chaotisch wird die Welt der Menschen, wenn sie sich von der Gerechtigkeit, die im Wesen der Dinge liegt, zu emanzipieren suchen, wenn sie den Willen zur Macht verleugnen. Der Nihilismus, das Chaos ist die notwendige Folge des Glaubens an eine Harmonie ohne Kampf, an eine gegensatzlose Ordnung. Die wahre Ordnung entsteht aus den Herrschaftsverhältnissen, die der Wille zur Macht hervorbringt. Human, fügen wir hinzu, ist eine Welt, in der die Rangordnung gilt, nicht eine Welt, in der moralische Begriffe das Wort führen. Inhuman ist lediglich das Chaos: Die Herrschaft der Toleranz und der moralischen Ideen, der Vernunft und des Mitleids, kurz der Humanität, führt zur Inhumanität.

Wenn man sich von der Einheit und Konsequenz des Nietzscheschen Denkens eine Vorstellung machen will, dann muss man den Abschnitt über Heraklit und den Begriff der Gerechtigkeit in dem Fragment über „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“ lesen. Umgeben von Zitaten aus Schopenhauers Hauptwerk, die ohne innere Beziehung zu der mitgeteilten Vision stehen, findet man hier den Grundgedanken des Willens zur Macht in wundervoller Klarheit. Eine furchtbare und betäubende Vorstellung wird das ewige und alleinige Werden, die gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen genannt. Heraklit hat begriffen, dass alle entgegen gesetzten Qualitäten in der Welt aneinander geheftet sind wie zwei Ringende, von denen bald der eine, bald der andere die Obmacht bekommt. Die Welt ist ein Mischkrug, der beständig umgerührt werden muss. "Aus dem Krieg des Entgegengesetzten entsteht alles Werden: die bestimmten und andauernd uns erscheinenden Qualitäten drücken nur das momentane Übergewicht des einen Kämpfers aus." Und doch gibt es etwas Dauerndes in dem ewigen Streit, der Mischkrug wird ja beständig umgerührt. Der bloße Streit würde sich selbst aufheben. Heraklit, dem Hellenen, offenbart dieser Streit die ewige Gerechtigkeit. (…)

Alle entscheidenden Positionen Nietzsches: seine Ablehnung der Subjektsphilosophie, der Teleologie, des Kausalbegriffs, sein Kampf gegen den Optimismus, den Moralismus und den Fortschritt sind hierin im Keime enthalten. Das Weltbild des Willens zur Macht ist hier vorweggenommen, und der Begriff der Gerechtigkeit als der tiefste Begriff dieses Weltbildes enthüllt. Wo ist dieser Begriff später geblieben? Warum enthält der Wille zur Macht keinen Abschnitt über die Gerechtigkeit?

In der Gedankenwelt des jungen Nietzsche spielt die Gerechtigkeit eine wichtige Rolle. Sie erscheint nicht nur als Hauptbegriff bei der Charakteristik der Aeschyleischen Tragödie, sondern bildet auch den ideellen Mittelpunkt der beiden wichtigeren „Unzeitgemäßen Betrachtungen“. In der zweiten „Unzeitgemäßen“ wird derjenige, welcher den Trieb und die Kraft zur Gerechtigkeit besitzt, als das ehrwürdigste Exemplar der Gattung Mensch bezeichnet. Die Gerechtigkeit wird der Objektivität gegenübergestellt, "Objektivität und Gerechtigkeit haben nichts miteinander zu tun". Unter der Objektivität ist die "kalte und verächtliche Neutralität des so genannten wissenschaftlichen Menschen" zu verstehen. Die Kraft zur Gerechtigkeit setzt den Menschen in den Stand, die gemeine empirische Wahrheit beim Erkennen der Geschichte zu überwinden durch eine tiefere und gerechtere Anschauung der Dinge. Die geschichtliche Welt erschließt sich nicht der wissenschaftlichen Neugierde und Objektivität: nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart heraus kann das Vergangene gedeutet werden. Zur Gerechtigkeit gehört nicht Geltenlassen und Toleranz, sondern Kraft und Größe.

Folgen wir den Winken, die uns die „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ mit ihrer entschiedenen Zusammenordnung der Begriffe Gerechtigkeit und Erkenntnis geben, dann erhalten wir eine Antwort auf die schwierigste Frage, die es in Nietzsches Philosophie gibt: auf die Frage nach der Möglichkeit des Erkennens. Dem Erkenntnisproblem gegenüber ist die Philosophie des Willens zur Macht in einer gefährlichen Lage. Hier hat der Idealismus seine stärkste Position, hier ist jeder Relativismus zum Scheitern verurteilt. Eine Metaphysik der Gerechtigkeit könnte nicht relativistisch sein, die Gerechtigkeit schließt den Relativismus aus. Die Frage hat also zu lauten: gibt es einen Zusammenhang zwischen diesem Begriff und der Philosophie des Willens zur Macht.

Nach der Lehre des Willens zur Macht ist alles menschliche Tun und Denken auf Triebe zurückzuführen. Auch der Wille zur Wahrheit kann nur ein Trieb zur Macht sein: der größte Teil des bewussten Denkens, selbst des philosophischen, gehört unter die Instinkttätigkeiten. Wie wäre ein egoistischer Machttrieb mit der reinen Erkenntnis in Zusammenhang zu bringen? Doch es gibt ja keine reine Erkenntnis, wenn man darunter die Erkenntnis eines unabhängigen, kalten, objektiv betrachtenden Subjekts versteht - denn es gibt kein solches Subjekt. Erkenntnis muss relativ zum Erkennenden sein. Da der Erkennende aber ein Machtquantum ist, muss die Erkenntnis eine Relation zur Macht des Erkennenden haben. Alles Denken ist eine Form des Herrschenwollens, jeder Trieb, der sich des Bewusstseins zum Denken bedient, will irgendwo hinaus. In der langen Geschichte des homo sapiens haben alle Grundtriebe des Menschen schon einmal Philosophie getrieben. Jeder einzelne möchte gar zu gerne sich als letzten Zweck des Daseins und als berechtigten Herrn aller übrigen Triebe darstellen. "Denn jeder Trieb ist herrschsüchtig: und als solcher versucht er zu philosophieren."

Wenn man die Welt des Willens zur Macht für ein Chaos wild um sich schlagender Kräfte auffasst, dann ist Erkenntnis unmöglich. Die von Nietzsche geschaute Welt trägt eine ewige Ordnung in sich: nur vom Mächtigeren kann das Schwächere überwunden werden, es gibt keine Willkür; die Formel des Willens zur Macht ist die Formel eines Gesetzes - eines anderen Gesetzes freilich als man es bisher kannte. Es ist damit nicht ein Gesetz über den Dingen bezeichnet, nicht ein Allgemeines, Jenseitiges, dem gegenüber alles Diesseitige als bloßer Fall erschöpft, sondern das Gesetz ist in den Dingen selbst, in ihrem Siegen und Unterliegen, in der Art, wie sie sich zueinander in ein Verhältnis setzen. Es ist nichts anderes als das im Wechsel dauernde Verhältnis der streitenden Kräfte selbst. Dieses Verhältnis, dieses Gleichgewicht ist es, was Heraklit unter der ewigen Gerechtigkeit verstand.

Nietzsches Lehre vom Erkennen folgt aus diesem Begriff der Gerechtigkeit. Dem transzendenten Begriff des Gesetzes entspricht ein transzendentes Erkenntnissubjekt, das neutral, unbeteiligt, uninteressiert über den Dingen schwebt und deshalb rein genannt wird. Aus dem immanenten Begriff des Gesetzes dagegen folgt, dass jeder Trieb, jedes organisierende Kraftzentrum nur so weit mit seiner Erkenntnis zu dringen vermag, als sein Wille zur Macht reicht. Nur soweit und so stark der Einzelne am Kampf beteiligt ist, vermag er zu erkennen. Dieser Kampf wird mit allen Mitteln geführt - auch mit Hilfe des Bewusstseins. Im Taumel des Sieges hat Nietzsche diesem Mittel zu wenig eingeräumt. Aber seine Grundansicht bleibt: das Erkennende, das Philosophierende ist der Wille zur Macht und nicht das Bewusstsein. Es kommt auf das Pathos, es kommt auf die Kraft des Denkers an, wie weit er im Erkennen gelangt. Wer den am weitesten gespannten Willen, die höchste Kraft hat, der hat auch die höchste Gerechtigkeit, und der kommt auch der Wahrheit am nächsten. Denn Gerechtigkeit ist nur da, wo Macht ist. Es gibt keine Gerechtigkeit ohne Macht - es gibt aber auch keine wahre Macht ohne Gerechtigkeit.

Nur der Überlegene, nur der Herrschende vermag Gerechtigkeit festzustellen, d.h. ein Maß aufzurichten, nach welchem gemessen wird; und je mächtiger er ist, desto weiter kann er gehen im Gewährenlassen. So lesen wir in einer Notiz aus der Zeit des „Willens zur Macht“. Und ebenso: "Gerechtigkeit, als Funktion einer weit umherschauenden Macht, welche über die kleinen Perspektiven von Gut und Böse hinaussieht, also einen weiteren Horizont des Vorteils hat - die Absicht, etwas zu erhalten, das mehr ist als diese und jene Person."  Gerechtigkeit und Macht stehen also in einer notwendigen Beziehung zueinander. Was kann aber die höchste Macht anderes sein als die Macht des Ganzen? Gerechtigkeit ist nur ein anderes Wort für das Vorhandensein dieses Ganzen, welches, um in alle Ewigkeit Macht zu sein, sich in alle Ewigkeit im Gleichgewicht erhält, und welches sich nur im Gleichgewicht erhält, um in alle Ewigkeit im Kampfe aller Qualitäten gegeneinander sich zu bejahen. Der Wille zur Macht ist also nur ein anderer Ausdruck für die höchste Gerechtigkeit. Der Mensch erkennt nicht, weil er Bewusstsein hat - das Bewusstsein ist nur ein Mittel - sondern er erkennt, d.h. er hat eine Beziehung zum Ganzen, weil in ihm der Wille zur Macht unter allen Wesen den höchsten Punkt erreicht, weil er der ewigen Gerechtigkeit am nächsten kommt.

Dass wir mit unserer Deutung auf dem richtigen Wege sind, zeigt uns eine kurze Aufzeichnung von unerhörter Wucht: "Gerechtigkeit als bauende, ausscheidende, vernichtende Denkweise, aus den Wertschätzungen heraus: höchster Repräsentant des Lebens selber." Wenn die Gerechtigkeit der höchste Repräsentant des Lebens selber genannt werden darf, dann lautet auch die Definition der Wahrheit, die der Philosophie des Willens entspricht: die Wahrheit ist der höchste Repräsentant des Lebens selber.

 

Dionysos. Die ewige Wiederkunft

Die Philosophie des Willens zur Macht, die Philosophie des ewigen Werdens geht auf ihrem Höhepunkt in den Begriff des Seins über. Das Werden ist. Es ist dies kein Sein neben oder über dem Werden - dieses Sein ist vielmehr nur ein Ausdruck für die Dauer, die Selbsterhaltung, die immanente Ordnung, die Gerechtigkeit des Werdens selber.

Das Problem des Übergangs vom Werden zum Sein hat Nietzsche stark beschäftigt. Zu den berühmtesten Teilen seiner Philosophie gehört die Lehre von der ewigen Wiederkunft, die objektiv nichts ist als ein Versuch, das Bild des ewigen Werdens aufzuheben und ein Bild des ewigen Seins an die Stelle zu setzen. Auch hierbei ist der Wille zur Macht ausschlaggebend, nur erscheint er nicht als immanente Macht, als höchste Gerechtigkeit, sondern als Tat eines einzelnen: Zarathustras. "Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen - das ist der höchste Wille zur Macht.Dass alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins: Gipfel der Betrachtung."

In diesen Sätzen erscheint der Gedanke der ewigen Wiederkunft verbunden mit dem Grundgedanken des Systems. Oder richtiger: der Gedanke der ewigen Wiederkunft scheint dazu da, um das System aufzuheben. Indem der Begriff der ewigen Wiederkunft erscheint, verschwindet der heraklitische Charakter der Welt: "Ich lehre euch die Erlösung vom ewigen Flusse: der Fluss fließt immer wieder in sich zurück, und immer wieder steigt ihr in den gleichen Fluss, als die gleichen." Offenbar stehen wir hier vor einem Widerspruch. Es kann nur eins gelten: entweder die Lehre von der ewigen Wiederkunft oder die Lehre des Willens zur Macht.

Es ist bekannt, dass der Gedanke der ewigen Wiederkunft auf eine Erschütterung zurückgeht, die der in der Einsamkeit des Engadins genesende Nietzsche im August 1881 erlebt hat. Am Schlusse der „Fröhlichen Wissenschaft“ wird der Gedanke zum ersten Male ausgesprochen, von Zarathustra wird er verkündet. Es ist nicht zu verwundern, dass er ganz besonders die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat und dass man geneigt war anzunehmen, die philosophische Tiefe und Bedeutung dieses Gedankens müsse im Verhältnis stehen zu der Eindringlichkeit, mit der er vorgetragen wird. In Wahrheit ist dieser Gedanke, von Nietzsches System aus gesehen, ohne Belang. Wir haben ihn als Ausdruck eines höchst persönlichen Erlebnisses zu betrachten. Mit dem Grundgedanken des Willens zur Macht steht er in keinem Zusammenhang, ja er würde, ernst genommen, den Zusammenhang der Philosophie des Willens zur Macht sprengen. Nur äußerlich ist in den angeführten Sätzen eine Beziehung zum Willen zur Macht hergestellt: der Charakter des Seins wird dem Werden durch einen Einzelnen aufgeprägt. Er entsteht durch Aktion des Subjekts. Der Wille zur Macht ist aber nicht eine Bezeichnung für ein Erlebnis oder Ereignis, sondern eine Formel für das Geschehen überhaupt. Diese Formel hat einen objektiven Sinn - daher ihre innere Beziehung zum Begriff der Gerechtigkeit. Durch den Gedanken der ewigen Wiederkunft wird alles ins Subjektive gewendet. Nietzsche selbst, als einmalige Person, erscheint religionsstifterähnlich im Mittelpunkt des Weltgeschehens: es ist für die Menschheit immer die Stunde des „Großen Mittags“, in welcher dieser Gedanke auftritt. Dabei handelt es sich weniger um den Wert des Gedankens selbst als vielmehr um die Wirkung, welche er auf die Menschheit ausüben soll. Er bezeichnet einen Wendepunkt in der Geschichte: die nicht an ihn glauben, müssen aussterben. "Nur wer sein Dasein für ewig wiederholungsfähig hält, bleibt übrig: unter solchen aber ist ein Zustand möglich, an den noch kein Utopist gereicht hat." Wer diesen Gedanken der Gedanken sich einverleibt, den wird er verwandeln. "Die Frage bei allem, was ich tue: ist es so, dass ich es unzählige Male tun will? ist das größte Schwergewicht."

Das, was Nietzsche objektiv durch den Gedanken der ewigen Wiederkunft zum Ausdruck zu bringen versucht hat: die Unschuld und die Ziellosigkeit des Daseins, die Rechtfertigung des Lebens durch sich selbst wird durch sein System viel vollkommener ausgedrückt. Es darf nicht übersehen werden, dass die Konzeption aus einer Zeit stammt, in welcher Nietzsche noch auf dem Wege zum System des Willens zur Macht sich befand. Der Wiederkunftsgedanke ist der Keim des Zarathustra-Gedankens; es war jedoch nicht Nietzsches Absicht, stets Zarathustra bleiben zu wollen. Der Zarathustra war lediglich ein Ruf, der ihm Gefährten zuführen sollte. Die Einfügung des Zarathustra-Gedankens in das spätere System ist vielleicht nur darauf zurückzuführen, dass dieser Ruf ungehört verhallte. Eine sachliche Einfügung des Wiederkunftsgedankens in das System ist nicht möglich: jener Gedanke ist eine religiöse Konzeption, dieses dagegen ist ein streng philosophischer Gedankenzusammenhang; bei jenem kann die Wahrheitsfrage nicht gestellt werden, hier dagegen muss sie gestellt werden; dort kommt alles auf die mögliche Wirkung an, hier handelt es sich um die immanente Tiefe eines neuen Bildes der Welt.

Der religiöse Grundcharakter des Wiederkunftsgedankens liegt zutage und ist von Nietzsche auch betont worden. "Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben! Dieser Gedanke enthält mehr als alle Religionen, welche dies Leben als flüchtiges verachten und nach einem unbestimmten anderen Leben hinblicken lehrten." Der große Mittag ist eine religiöse Vision, Nietzsche erscheint sich als Lehrer der ewigen Wiederkunft ähnlich wie ein Erlöser: "Ich lehre euch die Erlösung vom ewigen Flusse." Er hat Plato seinen Ägyptizismus vorgeworfen: Plato hat die Welt enthistorisiert, indem er sie sub specie aeterni betrachtete. Eine Ägyptisierung der heraklitischen Welt vollbringt nun auch der Religionsstifter Nietzsche. Es gibt nichts in seinem philosophischen System, womit diese Äternisierung des Werdenden in Zusammenhang gebracht werden könnte - einsam steht der Gedanke der ewigen Wiederkunft im Willen zur Macht da, ein erratischer Block. Es gibt im Grunde keine Philosophie der ewigen Wiederkunft, es gibt nur eine Religion der ewigen Wiederkunft. Als Nietzsche der Eingebung von Surei nachgab, ist er für einen Augenblick dem gottbildenden Instinkt in sich unterlegen. Das sicherste Kennzeichen dafür, dass wir es hier nicht mehr mit dem Philosophen Nietzsche zu tun haben, ist das auf die Wiederkunft bezügliche „Ja- und Amenlied“, mit welchem der dritte Teil des „Zarathustra“ schließt, und das mit seiner Hervorkehrung des Begriffs der Liebe ("Denn ich liebe dich, o Ewigkeit!") zu allen philosophischen Positionen Nietzsches im Gegensatz steht.

Eine Anzahl von Entwürfen zum Hauptwerk geben zu erkennen, dass Nietzsche das letzte Kapitel desselben, „Die ewige Wiederkunft“, auch „Dionysos. Philosophie der ewigen Wiederkunft“ überschreiben wollte. Daneben stehen Entwürfe, bei denen dieses letzte Buch eine Beziehung auf den Gedanken der Wiederkunft nicht enthält. „Der große Krieg“ wird es einmal überschreiben, ein andermal „Kampf der falschen und der wahren Werte“. Von den Herausgebern des „Willens zur Macht“ ist an den Schluss ein Aphorismus gestellt worden, der die innigste Verbindung der Begriffe dionysische Welt, ewige Wiederkunft und Wille zur Macht enthält. Es ist jenes Prosa-Meisterstück, das mit den Worten beginnt: "Und wisst ihr auch, was mir die Welt ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen?" In der Konsequenz meines Gedankenganges liegt der Nachweis, dass dieses Fragment nicht die ideale Formel für das philosophische Weltbild Nietzsches darbietet, wie man es bisher annehmen musste, dass man vielmehr nur die Wahl hat, entweder den Willen zur Macht als das eigentliche System Nietzsches anzusehen, oder aber dieses System zu verwerfen und den Dionysismus für Nietzsches eigentliche Philosophie zu erklären.

Der einzige Begriff, der dem erwähnten Aphorismus und dem System gemeinsam ist, ist der der Kraft. Als ein "Spiel von Kräften und Kraftwellen", als ein "Meer in sich selber stürmender und flutender Kräfte" wird hier die Welt beschrieben, als ein sich Wandelndes und immer wieder in sich selbst Zurücklaufendes. Die ewige Wiederkunft wird als ein Symbol der Selbstbejahung dieser Kraft gedeutet. Sie gibt dem ewigen Werden den Charakter einer Bewegung, "die kein Sattwerden, keinen Überdruss, keine Müdigkeit kennt", sie verleiht ihm den Charakter des Glücks, dessen Symbol der Kreis ist. Das Werden hingegen, dessen Begriff wir auf den vorhergehenden Seiten gewonnen haben, entspringt aus dem Gegensatz der Kräfte, und es ist nur ein anderes Wort für den allgemeinen Kampf der Kräfte gegeneinander. Beide Konzeptionen stimmen darin überein, dass es keine festen Dinge, keine bleibenden Zustände gibt; aber das System lässt doch Gesetze der Wahrscheinlichkeit zu, die den Ausgang des Kampfes in den einzelnen Fällen vorhersehen lassen. Die Naturgesetze sind Formeln für Machtverhältnisse. Etwas Entsprechendes wäre in der dionysischen Welt nicht denkbar. Diese Welt ist dem Erkennen in keiner Weise zugänglich, und wenn sie charakterisiert werden soll, so erweisen sich nur ästhetische Begriffe als zugänglich; es ist eine Welt, die aus der Dissonanz stets wieder zur Harmonie zurückfindet - "aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück zur Lust des Einklangs". Niemals kann eine solche Welt philosophisch dargestellt werden, und unmöglich ist es, in dieser dionysischen Welt des "Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, dieser Geheimnis-Welt der doppelten Wollüste", die Welt als Kampf wieder zu erkennen, wie wir sie oben beschrieben fanden, jene Welt der Entgegensetzung und der Spannung, die beherrscht ist von dem strengen Gesetz der Einheit, der Gerechtigkeit, die aus dieser Spannung jeweils resultiert. "Dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältnis zu allen andern dynamischen Quanten" - das ist Nietzsches Formel für die Welt. Auf Grund dieser Formel hat er eine Physik und Physiologie, eine Psychologie und eine Ethik aufgebaut. Niemals hätte er dies mit Hilfe seines Dionysismus tun können.

Die Frage liegt nahe, ob nicht das gesamte Nietzsche-Verständnis dieser Jahrzehnte, verlockt durch die Pfeife des dionysischen Rattenfängers, einen falschen Weg gegangen ist. Immer wieder hat man in Nietzsche den Dionysier gesucht und gefunden, und den Philosophen, den echten Freund der Griechen, den Schüler Heraklits dabei übersehen. Wenn aber Nietzsche selber zurückschauend überschlägt, auf welchen Wegen er sich die Unschuld des Werdens zu beweisen versucht hat, da nennt er Dionysos gar nicht. Vor sich selber ist er der Denker der heraklitischen Welt, nicht der Jünger des Dionysos. Der Name Dionysos ist nur ein Zeichen für die Gegenbewegung, die der junge Nietzsche gegen die christliche Moral einleitete; als eine Maske des „Antichrist“ wird in der späteren Vorrede zur „Geburt der Tragödie“ Dionysos gekennzeichnet. Denn wie konnte er jene Gegenwertung wirksam benennen: "Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige Freiheit - denn wer wusste den rechten Namen des Antichrist - auf den Namen eines griechischen Gottes: ich hieß sie die dionysische."

Religionserfinder, Mythendichter pflegen Schwärmer zu sein. Nietzsche hat den Philosophen als Gegentypus des Schwärmers begriffen. "Es ist nichts in mir von einem Religionsstifter." Aber wie es die unvorhergesehene Einsamkeit dieses singulären Lebens mit sich brachte, dass der Schüler des Heraklit  zum Dichter des „Zarathustra“ werden musste, so brachte es der Kampf gegen das christliche Europa mit sich, dass der Philosoph nach Symbolen griff, um lauter sagen zu können, was niemand hören wollte. Wie dankbar war er um jedes Zeichen, das ihm Mitteilung möglich machte. So erfand er "Dionysos gegen den Gekreuzigten". Mit dieser Entgegensetzung schließt die Selbstdarstellung. Aber nicht in dieser Formel - im Willen zur Macht ist das zu suchen, was Nietzsche gegen das christliche Europa und zu seiner Rettung zu sagen hat.

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