Politische Theorie

 

Friedrich Nietzsche - Kulturkritik und Philosophie

 

Verfasser: Richard Schapke, im Dezember 2003

 

Man wird euch die Vernichter der Moral nennen, aber ihr seid nur die Erfinder von euch selber.“
Friedrich Nietzsche

Der Übermensch kennt nichts als die Revolte. Alles, was existiert, muss vernichtet werden.“ --- Benito Mussolini

Vorbemerkung

Gegenstand dieses Aufsatzes sind Kulturkritik und Philosophie Friedrich Nietzsches. Aus nahe liegenden Gründen kann die genauere Biographie des geistigen Bilderstürmers hier nur am Rande behandelt werden. Die Fülle des Werkes erfordert, dass sich die Darstellung in diesem Falle an Sekundärliteratur orientiert. Festzuhalten bleibt, dass in dieser Arbeit die Verfälschungen durch Elisabeth Förster-Nietzsche nicht behandelt werden. Demnach fließen die posthum veröffentlichten Fragmente wie „Der Wille zur Macht“ etc. nicht in die Darstellung ein. Zur Methode: gewählt wurde eine eher chronologische Vorgehensweise, da so die Genese der Nietzscheschen Gedankenwelt am anschaulichsten dargestellt werden kann. Sämtliche kursiv gesetzten Zitate entstammen den Schriften Friedrich Nietzsches.

Nietzsche gehört trotz aller Kritik und Anfeindungen zu den großen Denkern der Geistesgeschichte. Er verkörpert einen der am besten dokumentierten philosophischen Klassiker und übte eine weitreichende und bislang kaum erforschte Wirkung auf die Jugend und die Pädagogik des 20. Jahrhunderts aus. Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist seine Bedeutung für den französischen und italienischen Frühfaschismus - Georges Sorel, Gabriele d´Annunzio, Benito Mussolini und Julius Evola waren deutlich von Nietzsche beeinflusst. Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigten sich sowohl in Frankreich als auch in Italien zudem Ansätze eines Linksnietzscheanismus. Bei aller Unfertigkeit seines durch geistige Umnachtung vorzeitig abgebrochenen Werkes ist Nietzsche ein Klassiker der modernen Philosophie, und unter Berücksichtigung der gegenwärtigen fachwissenschaftlichen Diskussion scheint es nicht ausgeschlossen, dass er seine wahre Wirkungsmacht erst im 21. Jahrhundert entfalten wird.

Der Verfasser möchte an dieser Stelle auf seinen Aufsatz über den entscheidend durch Nietzsche beeinflussten italienischen Dichter-Soldaten Gabriele d´Annunzio hinweisen, ferner auf die ebenfalls von ihm bearbeitete Darstellung des „Willens zur Macht“ durch Alfred Baeumler. Weitere Aufschlüsse mag auch die Arbeit über Friedrich Hielscher geben, dessen Denken ebenfalls bei Nietzsche seinen Ausgangspunkt nahm.

 

Kindheit und Jugend

Friedrich Wilhelm Nietzsche wurde erstes Kind des Pfarrers Carl Ludwig Nietzsche und seiner Frau Franziska Nietzsche, geborene Oehler, am 15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen geboren. Der Geburtstag fiel auf denselben Tag wie derjenige seines Namenspatrons Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, was dem Kind schon früh ein Gefühl des Besonderen vermittelte. Im Taufregister wurde die Losung Lucas 1, Vers 66 eingetragen, welche die Geburt Johannes des Täufers zum Gegenstand hatte: „Und alle, die es hörten, nahmen´s zu Herzen und sprachen: Was meinst du, will aus dem Kindlein werden? Denn die Hand des Herrn war mit ihm.“ Auf diese beinahe prophetisch anmutenden Worte folgte die Weissagung des Zacharias: „Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Du wirst vor dem Herrn hergehen, dass du seinen Weg bereitest.“

Das soziale Umfeld der Familie war vor allem von der protestantischen Erweckungsbewegung und der Begeisterung für das Preußentum geprägt - obwohl die Gegend bis 1815 zum Königreich Sachsen gehörte. Als Nietzsche 4 Jahre jung war, erlag der Vater einem Gehirnleiden - eine sich durch das gesamte Leben ziehende Traumatisierung war die Folge. Nur zwei Monate später starb auch der jüngere Bruder Joseph. Von jetzt an wurde der Junge nur noch von den Frauen der Familie erzogen - der Mutter, der Schwiegermutter, den zwei Schwestern des Vaters und der Magd, nicht zu vergessen seine jüngere Schwester Elisabeth. Zu den frühesten Eindrücken des Knaben zählten neben dem Tod des fortan idealisierten Vaters das kirchliche Zeremoniell bei dessen Beerdigung und nicht zuletzt die Revolution von 1848, die eine eher spielerische Parteiergreifung für die preußische Monarchie bewirkte. Ebenso fanatisch wie das Preußentum verinnerlichte der junge Friedrich das protestantische Glaubensgefühl. Bereits in der Kindheit zeigte sich seine außerordentliche philologisch-philosophische Begabung, auch wenn diese sich zunächst auf Bibelsprüche und geistliche Lieder konzentrierte.

Im April 1850 veranlasste Nietzsches Großmutter den Umzug der Familie nach Naumburg an der Saale. Dort besuchte er zunächst die Bürgerschule, um dann das Naumburger Domgymnasium zu durchlaufen. 1858 wechselte Nietzsche auf eine der raren Freistellen an der Landesschule Pforta. Infolge des schwierigen Aufnahmeexamens kam er nur in die unterste Klasse, die Untertertia. Hierdurch erklärt sich auch, dass Nietzsche sein Abitur erst mit 20 Jahren ablegte. Der Weggang von Naumburg brachte aber nicht nur eine äußere Wendung in Nietzsches Leben, es bedeutete zugleich das Ende seiner Kindheit, über die er in einem späteren Lebenslauf noch schreiben sollte. An der Landesschule herrschten neben lutherischer Frömmigkeit die preußischen Tugenden Männlichkeit, Tüchtigkeit und Disziplin, welche eine dringend notwendige Ergänzung seines eher zurückhaltenden und träumerischen Charakters darstellten.

Bereits mit 14 Jahren versuchte er sich als Komponist und verfasste seine ersten Gedichte, hinzu kam eine überaus altkluge Autobiographie, in der seine gesteigerte Beobachtungsgabe und der Zwang, etwas Eigenes schaffen zu wollen, deutlich wurden. Mozart, Haydn, Schubert, Mendelssohn, Beethoven, Bach und Händel stellten die Bausteine seiner musikalischen Bildung dar, die moderne Musik war ihm ein Greuel. Als frühe literarische Einflüsse sind u.a. Hölderlin, Heine, E.T.A. Hoffmann und Jean Paul zu nennen. Schon früh zeigte der Gymnasiast sich höchst beeindruckt von den Tatgestalten der germanischen Mythen- und Sagenwelt. Ab 1861/62 vermittelten ihm Shakespeare, Lord Byron, Percy B. Shelley und der amerikanische Freigeist Emerson neue Eindrücke. Die Folge war eine gesteigerte innere Unruhe, Nietzsche zeigte sich hin- und hergerissen zwischen düsteren Weltvisionen und dem protestantischen Kinderglauben, welcher sehr bald dem inneren Dämon unterliegen sollte. Als er im September 1864 Pforta verließ, nahm er dank der hervorragenden philologisch-humanistischen Ausbildung das geistige Handwerkszeug eines Doktoranden mit. Die Landesschule hatte nicht umsonst Persönlichkeiten wie Fichte, Hölderlin und Klopstock hervorgebracht.

In das Jahr 1862 fiel mit dem Hölderlin-Aufsatz „Fatum und Geschichte“ das erste, isolierte Aufflackern des Nietzscheschen Genius, in dem sich bereits seine weltumstürzlerische Sprengkraft ankündigte. Erste Zweifel an der geistigen Autorität des Christentums wurden sichtbar, ebenso die kompensatorische Wertschätzung des Diesseitigen und des Individuums, und erstmals tauchte der Gedankengang auf, ein Genius könne imstande sein, die Menschheit zu erneuern. „Es stehen noch große Umwälzungen bevor, wenn die Menge erst begriffen hat, dass das ganze Christentum sich auf Annahmen gründet; die Existenz Gottes, Unsterblichkeit, Bibelautorität, Inspiration und anderes werden immer Probleme bleiben. Ich habe alles zu leugnen versucht; o niederreißen ist leicht, aber aufbauen! (…) Vielleicht ist in ähnlicher Weise, wie der Geist nur die unendlich kleinste Substanz, das Gute nur die subtilste Entwicklung des Bösen aus sich heraus sein kann, der freie Wille nichts als die höchste Potenz des Fatums. Weltgeschichte ist dann Geschichte der Materie, wenn man die Bedeutung dieses Wortes unendlich weit nimmt. Denn es muss noch höhere Prinzipien geben, vor denen alle Unterschiede in einer großen Einheitlichkeit zusammenfließen, vor denen alles Entwicklung, Stufenfolge ist, alles einem ungeheuren Ozeane zuströmt, wo sich alle Entwicklungshebel der Welt wieder finden, verschmolzen, all-eins. (…) Sobald es aber möglich wäre, durch einen starken Willen die ganze Weltvergangenheit umzustürzen, sofort träten wir in die Reihe der unabhängigen Götter, und Weltgeschichte hieße dann für uns nichts als ein träumerisches Selbstentrücktsein; der Vorhang fällt, und der Mensch findet sich wieder, wie ein Kind mit Welten spielend, wie ein Kind, das beim Morgenglühen aufwacht und sich lachend die furchtbaren Träume von der Stirn streicht.“

Zur gleichen Zeit formulierte Nietzsche auch: „Nichts ist verkehrter als alle Reue über Vergangenes, nehme man es wie es ist, ziehe man sich Lehren daraus, aber lebe ruhig weiter, betrachte man sich als ein Phänomen, dessen einzelne Züge ein Ganzes bilden. Gegen die anderen sei man nachsichtig, bedaure sie höchstens, lasse sich nie ärgern über sie, man sei nie begeistert für jemand, alle sind nur für uns selbst da, unseren Zwecken zu dienen. Wer am besten zu herrschen versteht, der wird auch immer der beste Menschenkenner sein. Jede Tat der Notwendigkeit ist gerechtfertigt, jede Tat notwendig, die nützlich ist. Unmoralisch ist jede Tat, die nicht notwendig dem anderen Not bereitet: wir sind selbst sehr abhängig von der öffentlichen Meinung, sobald wir Reue empfinden und an uns selber verzweifeln. Wenn eine unmoralische Handlung notwendig ist, so ist sie moralisch für uns…

 

Studium und akademische Karriere

In Bonn begann Nietzsche 1864 das Studium der Theologie und der Altphilologie, welche bald den Vorrang erhalten sollte. Hier schloss er sich der schlagenden Verbindung Frankonia an und versuchte sich als „Reformator“, scheiterte jedoch am kulturellen und wissenschaftlichen Desinteresse der eher an Saufgelagen („Biermaterialismus“), Frauengeschichten und Mensuren interessierten Burschenschaftler und an ihrem anmaßenden Standesdünkel. Das Studium in Bonn war überschattet von heftigen Streitigkeiten zwischen den Professoren Otto Jahn und Friedrich Wilhelm Ritschl, die sehr bald skandalartige Ausmaße annahmen. Als letzterer einem Ruf an die Universität Leipzig folgte, beschloss auch Nietzsche, Bonn zu verlassen und vom 3. Semester an dort zu studieren. Ritschl entwickelte sich geradezu zur Vaterfigur Nietzsches (und dieser zu einem seiner bevorzugten Schüler!), und im Gegensatz zu Bonner Gewohnheiten erwies er sich nun als ein disziplinierter und arbeitsamer Student. Schon bald konnte Nietzsche im von Ritschl handverlesenen Kreis dozieren und avancierte gewissermaßen zum Assistenten seines Meisters. Der erste Vortrag datiert vom 18. Januar 1866: „Einige Zeit ging ich wie im Taumel umher; es ist die Zeit, wo ich zum Philologen geboren wurde, ich empfand den Stachel des Lobes, das für mich auf dieser Laufbahn zu pflücken sei.

Es folgten Aufsätze in den Zeitschriften „Rheinisches Museum“ und „Literarisches Centralblatt“, aber ungeachtet allen Lobes stellte sich bei Nietzsche rasch Frustration in den Vorlesungen und Kollegien ein. Bereits zu dieser Zeit dachte er daran, eine literarische Laufbahn einzuschlagen. Geradezu angewidert zeigte er sich von der Leipziger Massengesellschaft und vom Materialismus des Handels- und Industriebürgertums. Erstmals regte sich ein eher antimaterialistisch als rassisch begründeter Antisemitismus, zugleich traten gewisse sozialdarwinistische Einflüsse auf (Gobineau). Durch die Gründung des Philologischen Vereins zu Leipzig kam Nietzsche 1866/67 mit den vorsokratischen Philosophen des alten Griechenland in Kontakt. Richtig erfasst, vermochten auch vom alten Griechentum enthusiastische Impulse auszugehen. Das Glück der Masse und der Zivilisation galt den Frühgriechen noch nicht als Gesichtspunkt, sondern es wurden die Dämonie des Lebens und die große Persönlichkeit bejaht.

Neue Wege eröffnete dem innerlich abgefallenen Protestanten und unzufriedenen Philologen die Lektüre Schopenhauers, welcher bald die philosophische Munition für neues Schaffen liefern sollte. Die außerordentliche Bedeutung Schopenhauers für Nietzsche persönlich kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, er bezeichnete ihn gar einmal als seinen ersten und einzigen Erzieher. Vor allem Schopenhauers Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ öffnete neue Wege. Schopenhauer verwarf die bisherige Philosophie und ihre Geschichte (abgesehen von Kant!) und propagierte einen rücksichtslosen Aristokratismus und lebensphilosophischen Vitalismus. „Das ist seine Größe, dass er dem Bilde des Lebens als einem Ganzen sich gegenüberstellt, um es als Ganzes zu deuten.“ Hier deutete sich eine dritte Front jenseits von konservativer Reaktion und liberalen Freigeistern an. Schopenhauer war antiklerikaler als die Liberalen und antidemokratischer als die Konservativen. Er verneinte alle Menschlichkeitsideale und die parteipolitische Tagespolitik, wie ihm Politik generell als eine Angelegenheit der herausragenden Männer erschien. „Hier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt, Leben und eigen Gemüt in entsetzlicher Großartigkeit erblickte.“ Weitere neue Wege erschlossen sich 1868 anhand der durch Sophie Ritschl vermittelten Bekanntschaft Richard Wagners, der Nietzsche jedoch eher als Weltanschauungsbegründer und Inbegriff deutschen Künstlertums beeindruckte denn als Komponist. Mit Schopenhauer und Wagner, dem umstrittensten Philosophen und dem umstrittensten Komponisten, unterlag er den größten geistigen Energiequellen der Zeit.

Im Frühjahr 1869 nahm Nietzsche, noch bevor er promoviert hatte, eine von Ritschl vermittelte außerordentliche Professur für klassische Philologie an der Universität Basel an. Auch nach der Übersiedlung in die Schweiz blieb die Unzufriedenheit bestehen, denn der aufstrebende Stern am Firmament der Philologie kam mit den Lehrbetrieb und dem konservativ-kleinbürgerlichen Geist der Stadt nicht zurecht. Eine Ausnahme bildeten die Lehrveranstaltungen am Baseler Gymnasium, wo er die Vorbildlichkeit und Mustergültigkeit des klassischen Altertums propagierte. Ein wichtiger Punkt für die Übersiedlung nach Basel war die räumliche Nähe zu Wagner, der zu dieser Zeit in Tribschen bei Luzern lebte. Nietzsche nutzt die Gelegenheit, die Bekanntschaft mit dem 31 Jahre älteren Richard Wagner zu erneuern. Erneut entwickelte sich ein Ersatzvater-Verhältnis. Allerdings: Während der Philologe nach Anerkennung als Ebenbürtiger und Partner, nach der Bildung eines sich wechselseitig ergänzenden Künstlerpaar strebte, fürchtete Wagner genau diese Gleichrangigkeit und suchte eher nach einem weiteren Jünger und Anhänger.

Unterbrochen wurde die Gemeinsamkeit nur von August bis Oktober 1870, als Nietzsche als freiwilliger ziviler Krankenpfleger am Deutsch-Französischen Krieg teilnahm. Doch wie auch schon seine Dienstzeit als Einjährig-Freiwilliger 1867 endete auch dieses militärische Abenteuer vorzeitig durch Krankheit. Für nachhaltige Erschütterung sorgte die durch den Krieg angerichtete Kulturzerstörung, welche seine pessimistischen Grundzüge weiter verstärkte. Preußen erschien ihm als kulturwidrig und fatal, es schossen die „Knechte und die Pfaffen wie Pilze“ hervor, um „bald mit ihrem Dunst uns ganz Deutschland zu verfinstern“. In der Tat: Das neue bürgerlich-materialistische Deutschland brauchte nicht den musischen Genius eines Nietzsche, sondern Bedienungsmannschaften für Kontor, Armee, Behörden, Kommandobrücken und Maschinen.

 

Die Geburt der Tragödie

1872 veröffentlichte Friedrich Nietzsche sein Erstlingswerk "Die Geburt der Tragödie", in welchem er der Musik Wagners und dem Geist Schopenhauers ein unsterbliches Denkmal setzte. Das Buch wurde durch Vorträge an der Uni Basel vorbereitet, in deren Rahmen Nietzsche die Ersetzung des Dramas durch Pathos und Leid, von Vernunft und Dialog durch Handlung und einen lyrisch-musischen Charakter forderte. Wagners Gesamtkunstwerk sollte die griechische Tragödie erneuern. Dem „Staat“ Platons entlehnte Nietzsche die Vorstellung vom Philosophen als Staatslenker und Erziehungsdiktator. Die Einsicht in die Größe des archaischen Griechentums erschien als Angriff auf die heiligsten Götter der auf dem klassischen Griechenland beruhenden Aufklärung (Sokrates), die vorherrschenden Ansichten der Gegenwart wurden von Nietzsche gar als Sokratismus attackiert. Auch der pädagogische Gedanke war wichtig: Nietzsche sah sich erstmals als politischen Erzieher mit dem Ziel einer deutschen Wiedergeburt, und den Weg zu dieser sollte die Musik Wagners eröffnen. Der unvermutete Radikalismus irritierte auch die Wagners, ein gewisses Rivalitätsmotiv war bereits jetzt zu erkennen. Wagner hatte bereits seinen Frieden mit dem kaiserlichen Deutschland gemacht, er war für eine kriegführende Kulturpolitik nicht mehr zu haben. Bei Nietzsche zeigte sich erstmals die Hoffnung auf die Neubegründung eines ganzheitlichen Bildungsideals. Die Vortragsreihe erfolgte nicht zuletzt auf Anregung Wagners, der ihm das „Halbteil“ seiner Last zudachte, den Kampf gegen das überkommene Erziehungswesen zu führen.

Der Mensch muss laut Nietzsches „Geburt der Tragödie“ zwischen sich und die Dinge eine Kunst schieben, damit für ihn überhaupt erst eine Welt entsteht. Erst durch die Kunst findet der Mensch zu den Dingen und zu sich selbst, und erst in der Kultur findet das Individuum seine Bedeutung. Kultur beinhaltet alle gesellschaftlichen Erscheinungen in sich. Erleben und Werk, Eindruck und Ausdruck, Sinnlichkeit und Sinn sind untrennbar miteinander verbunden. Zu dieser Welt gehören auch Gefahr und Bedrohung, Selbstbehauptung und Selbstgefährdung. Die Kunst hindert den Menschen angesichts der letztendlichen Sinnlosigkeit seiner Existenz an der Selbstaufgabe. Erst sie macht das Leben möglich und lebenswert, sie muss jedoch gelebt werden. Indem man sie lebt, versteht man das Leben selbst als eine Kunst. Unter Leben ist ein metaphysisches, alles tragendes, bewegendes und aufnehmendes Subjekt zu verstehen. Die Elemente von Traum (Apoll) und Rausch (Dionysos) machen das Leben möglich und lebenswert. Durch das dionysische Prinzip sollen nach hellenischem Vorbild die ursprünglichen Kräfte der Natur, die Tatkraft, freigesetzt werden. Der dionysische Rausch und der apollinische Traum stehen im dialektischen Verhältnis zueinander, sie fordern sich gegenseitig heraus und sind aufeinander angewiesen. Dionysos steht hier noch für die gestaltlose Raserei, erst später entwickelte ihn Nietzsche zur Verkörperung der beherrschten Leidenschaft (also zur Synthese aus den beiden Kräften der Tragödie). Der Begriff des Tragischen wurde durch Nietzsche positiv besetzt, tragisch war für ihn gleichbedeutend mit heroisch. Heroisch ist, wer die Dämonie und den Rausch nicht fürchtet, sondern als Enthusiasmus unbürgerlich bejaht.

Mit der „Geburt der Tragödie“ traf Nietzsche weithin auf Unverständnis und versetzte seinem Ruf als Wissenschaftler einen vernichtenden Schlag, weil er alle Konventionen der Philologie radikal verletzte. Dennoch hoffte er auf eine Art Bündnis mit Wagner und sah sich als Kulturreformer und Propagandisten eines neuen Kulturideals. Die vernichtende Kritik beeindruckte ihn letzten Endes nicht, so dass er sich nun vollends auf die Philosophie und die Schriftstellerei stürzte. Otto Flake beschreibt die Situation sehr treffend: „Wagners posthumer Versuch litt an einer Selbsttäuschung. Das Jahrhundert und die Deutschen ließen sich nicht erlösen. Trotz des Gesamtkunstwerkes warfen sie sich der Börse, dem Kapitalismus, dem Militarismus, Nationalismus, Imperialismus und Industrialismus an den Hals. In die Opern Wagners, die keine Opern sein wollten, gingen sie als in Unterhaltungen, die auch Verdi oder Gounod boten, und wenn sie auf dem Heimweg waren, fragten sie schon, was wohl inzwischen der Kurszettel oder die letzten Depeschen gebracht hätten. Wie man sich auch drehte und wandte: Von der Philologie und der Wissenschaft, vom Gesamtkunstwerk und der Zukunftsmusik, vom Historismus und der Geistesgeschichtlichkeit konnten auf Menschen, die im sozialen Gefüge der Zeit wie die Spinne im Netz gefangen waren, keine wirklichen Erschütterungen, nur Bildungsimpulse, übergehen. Wollte man Erschütterungen, so musste man diese bürgerliche Gesellschaft sprengen, als Außenseiter, Revolutionär oder Nihilist: welcher Begriff eben von Turgenjew geprägt worden war.“

1873 verfasste Nietzsche die unveröffentlichte Abhandlung „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“, welche noch einmal seine außerordentlichen Fähigkeiten als Philologe demonstrierte. Hier kultivierte er bereits ein anderes Selbstideal - der werdende Philosoph meinte, er drohe zu einem unberechenbaren und darum Schrecken einflößenden Kometen zu werden. „Alles Lebendige braucht um sich eine Atmosphäre, einen geheimnisvollen Dunstkreis; wenn man ihm diese Hülle nimmt, wenn man eine Religion, eine Kunst, ein Genie verurteilt, als Gestirn ohne Atmosphäre zu kreisen: so soll man sich über das schnelle Verdorren, Hart- und Unfruchtbar-werden nicht mehr wundern.“

 

Unzeitgemäße Betrachtungen

Ebenfalls im Jahre 1873 begann Nietzsche die Veröffentlichung seiner „Unzeitgemäßen Betrachtungen“. Die Unzeitgemäße Betrachtung I, die sogenannte Straußiade, stellte eine radikale und bösartige Abrechnung mit dem Zeitgeist der Gründerjahre und mit der Aufklärungsphilosophie des todkranken David Friedrich Strauß dar. Nietzsche geißelte den oberflächlichen Optimismus und Fortschrittsglauben der Gründerjahre, das penetrante Siegesgefühl der wiedervereinigten Deutschen, die sprachliche Verflachung und die Eitelkeit des Bildungsbürgertums. Er warnte, der militärische Sieg, der die politische Vereinigung der Deutschen möglich machte, könne sich in eine völlige Niederlage verwandeln, in die Vernichtung der deutschen Kultur zugunsten des Deutschen Reiches. „Die öffentliche Meinung in Deutschland scheint es fast zu verbieten, von den schlimmen und gefährlichen Folgen des Krieges, zumal eines siegreich beendeten Krieges zu reden; um so williger werden aber diejenigen Schriftsteller angehört, welche keine wichtigere Meinung als jene öffentliche kennen und deshalb wetteifernd beflissen sind, den Krieg zu preisen und den mächtigen Phänomenen seiner Einwirkung auf Sittlichkeit, Kultur und Kunst jubilierend nachzugehen. Trotzdem sei es gesagt: ein großer Sieg ist eine große Gefahr“.

Nietzsche definierte Kultur als die „Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes“, während die deutsche Gegenwartskultur auf Nichteinheitlichkeit basiere. Der Erzieher Nietzsche wandelte sich zum Zuchtmeister, zum Protestler. Kampf schien ihm als ein Gegenmittel gegen die Melancholie des Daseins, und er hoffte auf die junge Generation, die gegen den Wohlstandsoptimismus und Materialismus der Väter revoltieren sollte. Die Straußiade wurde zu seinem eigentlichen Durchbruch, wenn auch als enfant terrible. Das Buch stellte auch eine Distanzierung vom eigenen wissenschaftlichen Umfeld dar. Der Verfasser wurde wegen seiner radikalen Kritik am neuen Deutschland gar mit der entstehenden Sozialdemokratie in einen Topf geworfen. Mit dieser ersten „Unzeitgemäßen Betrachtung“ ruinierte Nietzsche seinen Ruf als Philologe vollends und provozierte auch den Bruch mit Ritschl.

Mit der 1874 erschienen zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung“, „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, führte Nietzsche eine Attacke gegen den vorherrschenden Historismus. Die Wissenschaft wurde als todbringend angegriffen, die Kunst hingegen als lebensspendend gefeiert. „Es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur.“ Vom Genius (Wagner) war nur am Rande die Rede, erstmals erschien eine nicht näher definierte „Macht“. Echte Kultur beruht laut Nietzsche auf der Einheit von Leben, Denken und Wollen, und auf diese Einheit gründet der Adel des Geistes. Der schöpferische Akt des neuen Künstlerideals ist die Zertrümmerung der alten Begrifflichkeiten. Unterschieden werden der vernünftige und der intuitive Mensch, die Kunst soll den Menschen erlösen. Beide Typen ringen um die Vorherrschaft, und nur der Sieg des intuitiven, künstlerischen Menschen kann Kultur schaffen.

Wir sind ohne Bildung, noch mehr, wir sind zum Leben, zum richtigen und einfachen Sehen und Hören, zum glücklichen Ergreifen des Nächsten und Natürlichen verdorben und haben bis jetzt noch nicht einmal das Fundament einer Kultur, weil wir selbst nicht davon überzeugt sind, ein wahrhaftiges Leben in uns zu haben. Zerbröckelt und auseinander gefallen, im ganzen in ein Inneres und ein Äußeres halb zerlegt, mit Begriffen wie mit Drachenzähnen übersät, Begriffsdrachen erzeugend, dazu an der Krankheit der Worte leidend und ohne Vertrauen zu jeder eigenen Empfindung, die noch nicht mit Worten abgestempelt ist: als eine solche unlebendige und doch unheimlich regsame Begriffs- und Worte-Fabrik habe ich vielleicht noch das Recht, von mir zu sagen cogito, ergo sum, nicht aber vivo, ergo cogito. Das leere Sein, das nicht volle und grüne Leben ist mir gewährleistet; meine ursprüngliche Empfindung verbürgt mit nur, dass ich ein denkendes, nicht dass ich ein lebendiges Wesen, dass ich kein animal, sondern höchstens ein cogital bin.“

Erneut warnte Nietzsche vor den Glücksversprechen der Fortschrittsideologen. Die Fortschrittseuphorie schien ihm als eine Selbstgefälligkeit der europäischen Zivilisation. Der Mensch und die Menschheit sind jedoch zum Fortschritt gezwungen, um ihre Probleme zu lösen. Menschliches Leben kann sich erst in einer historischen Verfassung bewusst werden. Die Historie ist ein Organ des Lebens und muss diesem in seinen wesentlichen Funktionen entsprechen. Dies ist nur dann der Fall, wenn das Handeln in seinem Wesen geschichtlich ist. Der Bezug zur Vergangenheit gehört zur inneren Voraussetzung der menschlichen Tat. Die Tat ist der Inbegriff dessen, was geschieht und verfestigt sich zur Geschichte. Nur in der bewussten Tat können Mensch und Zeit entstehen. Nicht das Erkennen begründet das Sein, sondern das Leben bringt das Erkennen hervor. Es gibt nicht ein Geschichtsbild, sondern viele Geschichtsbilder, die vom Anspruch des Einzelnen bzw. der sozialen Gebilde abhängig sind. Diese verfolgen in der Geschichtsbetrachtung stets ihre eigenen Ideen und Interessen. Erkennung und Benennung der Wahrheit sind hier zweitrangig, im Vordergrund steht der praktische Bezug zur Wahrheit, die Bedeutung für die menschliche Tat. „Wozu die Welt da ist, wozu die Menschheit da ist, soll uns einstweilen gar nicht kümmern (…); aber wozu du Einzelner da bist, das frage dich, und wenn es dir Keiner sagen kann, so versuche es nur einmal, den Sinn deines Daseins gleichsam a psoteriori zu rechtfertigen, dadurch dass du dir selber einen Zweck, ein Ziel, ein Dazu vorsetzest, ein hohes und edles Dazu. Gehe nur an ihm zu Grunde - ich weiß keinen besseren Lebenszweck, als am Großen und Unmöglichen (…) zu Grunde zu gehen.“

Es vollzog sich die Unterwanderung des Wagner-Jüngers Nietzsche durch einen wahren Denk-Anarchisten. Ein erneuter Abfall, diesmal von den Resten des deutschen Idealismus, auf die sich Wagner im Grunde bezog. Nach antikem Vorbild ist die Philosophie kein Erkenntnisakt, sondern Gedankendichtung, die Erschaffung eines neuen Weltbildes - Nietzsche hatte seinen Weg gefunden. Der Gelehrte fand ein kritisches, distanziertes Verhältnis zu Wagner. Langsam dämmerte Nietzsche die Erkenntnis, dass Wagner nicht gegen die Laster der Zeit zu Felde zog, sondern sie geradezu verkörperte. Wagners Prunk, sein Pathos und seine Verschwendungssucht trafen zusehends auf die Kritik des „Jüngers“. Wagner wich von seinem ohnehin nur noch hohlen Revolutionspathos ab und reihte sich als Theaterunternehmer in die Gesellschaft ein. Bayreuth wurde zum Zentrum des von Nietzsche so heftig kritisierten deutschen Kulturphilistertums. Im Rahmen eines mehrtägigen Bayreuth-Besuches im August 1874 kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit Wagner um künstlerisch-kulturelle Fragen, und der endgültige Bruch kündigte sich an.

Es folgte mit „Schopenhauer als Erzieher“ die dritte „Unzeitgemäße Betrachtung“. Nietzsche definierte es als Aufgabe der Menschheit, einzelne Genies zu erzeugen, da jede Art über sich hinaus strebe. Hierin liegt das Ziel, nicht etwa im Wohlergehen der breiten Masse. Diese hat sich vielmehr für die Genies aufzuopfern. „…das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren“. Eine Generation neuer Philosophen sollte den Leben zum Willen fördern sowie das Streben nach einer neuen Kultur, um der Gelehrsamkeit und dem Universitätswesen den Garaus zu machen. Der Philosoph muss dafür alle alten Bindungen hinter sich lassen. Alle Begrifflichkeiten der Gegenwart sind unsinnig: Fortschritt, allgemeine Bildung, national, moderner Staat, Kulturkampf. Nicht nur die herrschende Ideologie, sondern auch die umlaufenden Begrifflichkeiten wurden angegriffen. Ein Vielfrontenkrieg gegen alle Zeitwahrheiten kündigte sich an. Die Zeit drängte auf den Umbruch, ungeheure Kräfte standen bereit. „Man sieht mit banger Erwartung auf sie hin wie in den Braukessel einer Hexenküche: es kann jeden Augenblick zucken und blitzen, schreckliche Erscheinungen anzukündigen. (…) Alles Dasein, welches verneint werden kann, verdient es auch verneint zu werden; und wahrhaftig sein, heißt: an ein Dasein glauben, welches überhaupt nicht verneint werden könnte und welches selber wahr und ohne Lüge ist.“

Als letzte „Unzeitgemäße“ erschien 1876 „Wagner in Bayreuth“. Vordergründig handelte es sich um einen Lobgesang auf den Komponisten, hintergründig wurde dieser bereits zur Vergangenheit erklärt. Verklausuliert wurde Wagner aufgerufen, sich nicht auf sein Theaterpublikum, sondern auf seine wenigen Getreuen zu stützen, die laut Nietzsche für die Entstehung eines neuen Volkes kämpfen. Eine neue Menschheit sollte im Kampf gegen die überkommene Ordnung und die alten Moralbegriffe heranreifen. Wagner nahm jedoch keinerlei Notiz von dem Appell. Bei Nietzsche begann sich ein freier Geist der Kritik, der inneren Unabhängigkeit und der Befreiung von bürgerlichen Moralvorstellungen zu regen. Die Loslösung von den alten Idealbildern ging allerdings mit erheblichen psychischen und physischen Problemen vonstatten. Der Gesundheitszustand verschlechterte sich dramatisch, immer wieder traten schwere Zusammenbrüche mit Schmerzattacken auf; faktisch war Nietzsche bereits außerstande, seinen professoralen Verpflichtungen in Basel nachzukommen. Er entfachte das in ihm schwelende Fieber nach und nach zum äußersten Feuer, vielleicht, um als Phönix der eigenen Asche zu entsteigen.

 

Die Phase der Destruktion

In "Menschliches - Allzumenschliches" (1878) entwickelte Nietzsche die Gewissheit, dass der Mensch einer höheren Bestimmung unterworfen ist: „Unsere Bestimmung verfügt über uns, auch wenn wir sie noch nicht kennen.“ Zu finden ist ebenfalls das Motiv der Selbstüberwindung. Diese bedeutet nicht nur die Überprüfung, sondern auch die Preisgabe liebgewonnener Überzeugungen. Das menschliche Wesen ist grundsätzlich von Neigungen, von triebhaften Bedürfnissen abhängig. Die „Eitelkeit“ ist die verborgen Motivation menschlichen Verhaltens. Daher ist der Anspruch der Gegenwart auf Objektivität von Wahrheit und Erkennen empfindlich gestört. Die Triebe bewirken auch Irrtümer und Täuschungen, also ist eine Subjektivierung der Wahrheit, der Überzeugungen und Wertschätzungen, unvermeidlich. Für den Menschen ist eine relativ freie Erkenntnis nur möglich, wenn er sich grundsätzlich auf Wesen und Natur der herkömmlichen Wertschätzungen und Ideale besinnt. Hierfür wiederum ist eine gründliche Bewusstwerdung über die menschlichen Triebfedern und Motivationen vonnöten. Da objektive Aussagen unmöglich sind, muss die bisherige metaphysische und rationale Fragestellung durch eine psychologische ersetzt werden. „Wer seine Zeit angreift, kann nur sich angreifen: was kann er denn sehen, wenn nicht sich?“

Mit „Menschliches, Allzumenschliches“ vollzog Nietzsche den endgültigen Abfall von Wagner, um fortan eigene Wege zu gehen. Das Buch eröffnete die Phase der Destruktion, die seinem Verfasser als Phase des Neuaufbaues erschien. Hiermit löste Nietzsche sich auch von Schopenhauers pessimistischer Willensmetaphysik ab und vollzog den Übergang zum aphoristischen Stil. Er befreite sich vollends vom Idealismus - nicht, um ein ideologisches Bekenntnis zu einer neuen Weltanschauung abzulegen, sondern um das Ausbrennen aller Weltanschauungsillusionen überhaupt zu fordern. Der Kulturkritiker und Philosoph attackierte die vorherrschende Art, die Dinge zu sehen, die Neigung, alles Niedrige, Unbequeme aus dem Gespräch auszuschließen sowie den gutbürgerlichen Idealismus der Heimatromane und Anekdoten. Die Konventionen des Denkens, Sprechens, Schreibens und Fühlens sollten zertrümmert, die Epoche selbst durch die Vernichtung der Pompbegriffe zerstört werden. Alle Grundwerte des 19. Jahrhunderts wurden untersucht und verworfen, selbst der grassierende Antisemitismus erfuhr Ablehnung.

Gemessen am damaligen Niveau der deutschen Literatur legte Nietzsche geradezu ein stilistisches und logisches Meisterwerk ab. Das Buch erregte höchstes Befremden bei den Zeitgenossen - nicht zuletzt bei den Antisemiten, denn Nietzsche ersetzte den Antisemitismus Wagnerianischer Prägung alsbald durch eine Art Anti-Antisemitismus. Der Tiefpunkt seiner „Karriere“ war erreicht, wie die nachfolgenden Arbeiten traf „Menschliches, Allzumenschliches“ kaum auf Interesse. Es folgten der endgültige Rückzug in die Einsamkeit sowie das erfolgreiche Gesuch um Entlassung aus dem Baseler Lehrbetrieb vom Mai 1879. Trotz eines unsteten Reiselebens (vor allem in Italien und der Schweiz) und fieberhafter Arbeit an zahlreichen Manuskripten erreichte Nietzsche erst jetzt seine stilistische Vervollkommnung. Im gleichen Jahr befasste er sich in „Der Wanderer und sein Schatten“ erstmals mit der dunklen Seite der menschlichen Persönlichkeit, die er als untrennbaren Bestandteil der menschlichen Seele betrachtete.

1881 folgte mit „Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile“ das dritte Aphorismenbuch. Nietzsche formulierte, dass auf die Götterdämmerung auch eine Morgenröte folgen würde - ein bildlich zu lesendes Hinausgehen über Wagner. Der Mensch sollte seine Kräfte kritisch prüfen, seine moralischen Vorurteile abwerfen und im Bewusstsein eines neuen Machtgefühls zu sich selbst finden. Als ein Grundtrieb menschlichen Handelns wurde das Streben nach Auszeichnung, nach Geltung und Macht angesehen. „Nicht die Notdurft, nicht die Begierde - nein, die Liebe zur Macht ist der Dämon des Menschen. Man gebe ihnen alles, Gesundheit, Nahrung, Wohnung, Unterhaltung - sie sind und bleiben unglücklich und grillig: denn der Dämon wartet und wartet und will befriedigt sein.“ An der Moral war laut Nietzsche nichts Unbedingtes zu erkennen, sie entspringt aus dem tierhaften Trieb des Sich-Angleichens und Sich-Verringerns. Die irrationale Grundlage des menschlichen Weltverständnisses wurde offen gelegt. Moral führt im menschlichen Verband zu sklavischem Gehorsam und zur Tyrannei gegen alles Große und Herausragende. Nach der Entlarvung des Idealismus sollte nun das Vertrauen in sämtliche Moralvorstellungen bis hin zum Christentum untergraben werden.

In der „Fröhlichen Wissenschaft“ von 1882 gelangte Nietzsche zur radikalisierten Wahrheitskritik und verdeutlichte seinen Immoralismus. „Gott ist tot! Aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. - Und wir - Wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen.“ Zugleich aber ging es hier auch um Lebensbejahung und um die läuternde Wirkung des Schmerzes. „Nicht nur das Lachen und die fröhliche Weisheit, sondern auch das Tragische mit all seiner erhabenen Unvernunft gehört unter die Mittel und Notwendigkeiten der Arterhaltung.“ Wichtig erscheinen auch der Glaube an das Ego und seine Aufgab: „Ich will immer mehr lernen, das Notwendige an den Dingen als das Schöne zu sehen - … Amor fati: das sei von nun an meine Liebe…Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, in Allem und Grossen: ich will irgendwann nur noch ein Jasagender sein! (…) Leben - das heißt für uns, alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme zu verwandeln, auch alles, was uns trifft, wir können gar nicht anders. (…) Das Leben ein Mittel der Erkenntnis - mit diesem Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar fröhlich leben und fröhlich lachen. (…) Was heißt Leben? Leben - das heißt: fortwährend etwas von sich abstoßen, das sterben will; Leben - das heißt: grausam und unerbittlich gegen alles sein, was schwach und alt an uns und nicht nur an uns wird. (…) Wir aber wollen die werden, die wir sind - die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden.“ Zwischen der Selbstgestaltung des wahrhaft freien Menschen und dem Geweihtsein zum Selbstopfer besteht ein machtvolles Spannungsverhältnis.

Als Grundtrieb des Lebens benannte Nietzsche nun den Willen zur Macht. Dieser konnte sich dermaßen zur eigenständigen Größe entwickeln, dass über ihm die Selbsterhaltung vergessen wurde. Das Selbst genießt sich im inneren wie äußeren Wachstum seiner selbst. „Wer wird etwas Großes erreichen, wenn er nicht die Kraft und den Willen in sich fühlt, große Schmerzen zuzufügen? Das Leidenkönnen ist das wenigste…Aber nicht an innerer Not und Unsicherheit zu Grunde zu gehen, wenn man großes Leid zufügt und den Schrei des Leidens hört - das ist groß, das gehört zur Größe.“ Gerade die stärksten (und bösesten - Geister brachten die Menschheit auf ihrem Wege voran. Die menschlichen Leidenschaften sind zu pflegen und nicht zu unterdrücken, sie sollen in ihren hauptsächlichen Tummelplätzen, der Phantasie und der Kunst, leben. Nietzsche bejahte das Leben, die Kraft und die Größe, während er alle Jenseitsvorstellungen verwarf. Erstmals deutete sich die Vision des Übermenschen an, welcher die Schwierigkeiten der Welt überwinden werde.

Woran glaubst du? - Daran: dass die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen. Was sagt dein Gewissen? - Du sollst der werden, der du bist. Wo liegen deine größten Gefahren? - Im Mitleiden. Was liebst du an Anderen? - Meine Hoffnungen. Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? Sich nicht mehr vor sich selber zu schämen.“ Von Heraklit entlehnte der Philosoph den Begriff der ewigen Wiederkunft. Das Dasein hat den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden, und es stellte sich die Frage, ob der Mensch bereit sein würde, sein Leben, so wie er es gelebt hat und lebt, zu bejahen und in immer wieder gleicher Form zu leben. Es ging faktisch um die Begründung einer neuen Seinsverfassung, die in der ewigen Wiederkunft ihrer selbst bejaht werden sollte. Diese Seinsverfassung hatte nichts mit körperlicher Reinkarnation oder nachtodlicher Seelenwanderung zu tun, sondern der Glaube an die Unsterblichkeit und die Ewigkeit des Lebens sollte Angstgefühle und Gefahren überwinden helfen. Nietzsche propagierte das Mysterium der Unsterblichkeit des Diesseitigen: „Meine Lehre sagt: so leben, dass du wünschen musst, wieder zu leben…es gilt die Ewigkeit.“

 

Prophet des Gegen-Evangeliums

1883 erschien der erste Teil von „Also sprach Zarathustra“, dem noch drei weitere folgen sollten. Das Werk war als neues Gegen-Evangelium vorgesehen und orientierte sich stilistisch durchaus an den Evangelien des Neuen Testamentes - Nietzsche verkündete eine Lehre. „…Gott (ist)…tot…Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll…Der Übermensch ist der Sinn der Erde…Seht, ich lehre euch den Übermenschen, der ist…(der) Blitz), der ist…(der) Wahnsinn.“ Das Buch wurde nur wenige Jahre später geradezu ein Welterfolg, auch wenn der dem Wahnsinn Verfallene nichts mehr davon mitbekommen sollte. „Zarathustra“ war der explosiven wilhelminischen Zeit angemessen und beeinflusste nachhaltig Persönlichkeiten wie Richard Dehmel, Hugo von Hofmannsthal, Christian Morgenstern oder nicht zuletzt Stefan George. Entgegen posthumer Interpretationen handelte es sich hierbei auch in Nietzsches eigenen Augen um sein Hauptwerk.

Zarathustra steht für die Verkörperung des über sich selbst hinauswachsenden großen Menschen. In ihm findet der freie Geist zur leiblichen Einheit, er ist das Idealbild der schöpferischen Verbindung aller Gegensätze im Menschen. Nietzsche griff den alten Mythos vom über Gut und Böse stehenden Erlöser auf, das Anknüpfen an den persischen Religionsstifter war beileibe kein Zufall. Die Betrachtungen des Buches kreisten um die drängenden Probleme des 19. Jahrhunderts, wie sie sich aus der Betrachtung von Kultur, Religion, Wissenschaft und Kunst ergaben. Als gottähnliche Gestalt, als Prophet und Gegen-Jesus, verkündet Zarathustra die Herankunft des Übermenschen und verheißt die ewige Wiederkunft. Er gibt sein bisheriges Dasein auf, um der Menschheit ein neues Bewusstsein zu bringen. Gott und das Christentum wurden für tot erklärt, eine andere Instanz sollte die Führung der Weltgeschicke übernehmen.

Der Übermensch sollte erscheinen und der Erde einen neuen Sinn offenbaren. Seine Erscheinung bedeutete auch den Untergang des alten, an die kollektive Moral gebundenen Menschen. An die Stelle der jenseitigen Religionsvorstellungen wurden das Reich der Erde und die Wirklichkeit des Lebens gerückt. Ebenso treten die diesseitigen Werte, die sich auf die irdische Welt beziehen, an die Stelle der absoluten Ideale und der kraftlos gewordenen Jenseitswerte. Der Mensch sollte nach einem schöpferischen Wandlungsprozess an den leeren Platz Gottes treten und einen neuen Schaffensgeist vorbereiten. „Tot sind alle Götter: nun wollen wir, dass der Übermensch lebe…“ Diese Wandlung ist aber auch mit der Vernichtung des Vorhergehenden verbunden. „Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke ist und kein Zweck ist: Was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist. (…) Verbrennen musst du dich wollen in deiner eigenen Flamme: Wie wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist? (…) Ihr Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein: Aus euch, die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen: - und aus ihm der Übermensch. Wahrlich, eine Stätte der Genesung soll noch die Erde werden! Und schon liegt ein neuer Geruch um sie, ein Heil bringender - und eine neue Hoffnung!“ Festzuhalten ist unbedingt, dass Nietzsches Begriff einer Emporzüchtung des Menschen weniger biologistisch zu sehen, sondern vielmehr psychologisch-pädagogisch aufzufassen ist.

Nietzsche stellte 2000 Jahre christliches Weltbild schonungslos in Frage. Ausgangspunkt allen Wollens und Schaffens ist der Leib, der Instinkt der Innerlichkeit im Menschen. Der Leib umfasst sowohl physiologische Vorgänge als auch Gefühle, Wertungen und Persönlichkeit. „Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser - der heißt Selbst. In deinem Leben wohnt er, dein Leib ist er.“ Das Selbst ist nicht nur Ursache von Lust und Leid, sondern auch von Wert und Willen und daher notwendigerweise in das Handeln mit einzubeziehen. Da Nietzsche dem Willen die Vorrangstellung gegenüber dem Erkennen einräumte, vollzog er einen eindeutigen Rekurs auf Schopenhauer.

Während selbst die wenigen Verehrer Nietzsches der Ansicht waren, er sei mit „Zarathustra“ zu weit gegangen, dachte er selber an die Formierung eines „Ordensbundes höherer Menschen“ wie ihn Stefan George später verwirklichen sollte. Er bemühte sich vergebens um eine Professur in Leipzig, aber „Zarathustra“ stand seiner Berufung im Wege. In der Folgezeit litt der verhinderte Prophet zusehends an einem übersteigerten Selbstbewusstsein, wurde aber auch von düsteren Ahnungen und Einsamkeitsgefühlen heimgesucht. In einem Privatbrief vom Februar 1884 hieß es: „…ich habe Dinge auf meiner Seele, die hundertmal schwerer zu tragen sind als la betise humaine. Es ist möglich, dass ich für alle kommenden Geschlechter ein Verhängnis, das Verhängnis bin, - und es ist folglich sehr möglich, dass ich eines Tages stumm werde, aus Menschenliebe.“

 

Jenseits von Gut und Böse

Es folgte 1886 „Jenseits von Gut und Böse“: Nicht Selbsterhaltung und Selbstverliebtheit setzen die Triebkräfte des Lebens frei, sondern der Wille zur Macht, der stets von innen kommende Impuls zur Steigerung der Kräfte. Der Schaffenswille treibt den Menschen über seine individuelle Existenz hinaus und setzt seine Kräfte frei. Hierbei ist Nietzsche die Gefahr einer Verquickung des Machtwillens mit den negativen Seiten menschlichen Handelns und der menschlichen Persönlichkeit durchaus bewusst. Die vom Kollektiv verworfenen und vom Kollektiv definierten „bösen Werte“ sind allerdings angetan, den Menschen zu sich selbst, zu den eigenen verschütteten Möglichkeiten zurückfinden zu lassen. Im größeren Rahmen bieten sie dem Kollektiv sogar die Möglichkeit, eine neue zeitgeschichtliche Epoche für Kultur und Menschheit einzuleiten. Nietzsche schwebt keine schrankenlose Willkür vor, sondern die Neuschaffung eines Zukunftsmenschen, der, gehärtet durch Erkenntnis und eigenes Leid, höchste Verantwortlichkeit zu tragen vermag, ohne an ihr zu zerbrechen. „…der soll der Größte sein, der der Einsamste sein kann, der Verborgenste, der Abweichendste, der Mensch jenseits von Gut und Böse, der Herr seiner Tugenden, der Überreiche des Willens: eben dies soll Größe heißen, ebenso vielfach als ganz, ebenso weit als voll sein können“.

Jegliche Beschäftigung mit den Grundproblemen des Lebens muss aus der Perspektive des Menschen geschehen. Die Philosophie hat vom Menschen auszugehen und bei ihm wieder zu enden. Erneut kämpfte Nietzsche erbittert gegen die Wahrheits- und Moralbegriffe der Gegenwart und deren Absolutheitsanspruch an. Nichts erschien ihm mehr gewiss, weder der Glaube an die Wahrheit noch an den alten Gott oder die Unsterblichkeit der Seele, von Vorstellungen einer unverbrüchlichen moralischen Ordnung ganz zu schweigen. Alle hehren Werte zerbrechen an den Gegebenheiten der Realität - sie weichen Herdenmentalität, Gewohnheitshandlungen, Realitätsferne und Verlogenheit. Demnach ist eine radikale Neubesinnung zwingend erforderlich. „Jenseits von Gut und Böse“ enthielt scharfe Angriffe auf die Unantastbarkeit der Geltung der Verstandeskategorien, wie noch Kant sie lehrte. Es gibt kein allgemein verbindliches erkennendes Subjekt, das Ich ist lediglich ein Reflektor des unbewussten Geschehens. Denken beruht auf subjektiven Empfindlichkeiten und ist letztlich relativer Natur. Es stellt nichts als ein Verhalten von Trieben dar; das Bewusstsein ist lediglich ein passives Aufnehmen unbewusster Eindrücke, ein Mittel der Mitteilbarkeit. Die logische Betrachtungsweise wird durch eine rein vitalistische ersetzt. Nietzsches Perspektivismus des Erkennens besagt, dass die einzelne Erkenntnis triebbedingt ist, also sind geistige Vorgänge durchgehend subjektiv und relativ. Jeglicher Erkenntnisvorgang beruht auf individuellen Projektionen, ist ein individuelles Sinn-Hineinlegen.

Jedoch hatte Nietzsche kein Abgleiten ins mentale Chaos im Sinne: „Aber im Grunde von und, ganz `da unten` gibt es freilich etwas Unbelehrbares, einen Granit von geistigem Fatum, von vorherbestimmter Entscheidung und Antwort. (…) Bei jedem kardinalen Problem redet ein unwandelbares `das bin ich`. (…) Man findet beizeiten gewisse Lösungen von Problemen, die gerade uns starken Glauben machen; vielleicht nennt man sie fürderhin seine Überzeugungen. (…) Später - sieht man in ihnen nur Fußstapfen zur Selbsterkenntnis, Wegweiser zum Probleme, das wird sind.“ Das tief wurzelnde, irrationale Selbstgefühl bewahrt den Menschen vor der Auflösung ins Nichts. Dieses Ich-Gefühl findet seinen Ausdruck in der Bejahung des Lebens und setzt den Auflockerungstendenzen die Grenze.

Die Rede war auch von Neuschöpfung und Zerstörung, von (Neu-)Ordnung und Chaos. In einer unveröffentlichten Passage aus der Vorlage formulierte Nietzsche: „Und wisst ihr auch, was mir `die Welt` ist…Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft…ein Mehr in sich selber stürmender und flutender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr…sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muss, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruss, keine Müdigkeit kennt -: diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens…dies mein Jenseits von Gut und Böse, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat, - wollt ihr einen Namen für diese Welt…Diese Welt ist der Wille zur Macht - und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht - und nichts außerdem.“

Anzumerken bleibt, dass Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse“ massiv vor dem Antisemitismus warnte. Die Geistlosigkeit der deutschen Antisemiten machte sie für ihn verachtenswert (was auch in einem geharnischten Brief an den nachmaligen NSDAP-Politiker Theodor Fritsch zum Ausdruck kam); in seinen Augen war der Antisemitismus aus einem Minderwertigkeitsgefühl heraus geboren. Er verwies darauf, dass die deutsche Kultur den Juden die Fähigkeit verdankte, überhaupt klar und konsequent denken zu können. Zugleich attackierte er sie allerdings als die Verursacher des Sklavenaufstandes in der Moral, als Erfinder des Christentums und als Meister der Anpassungskunst. Nietzsche legte hier zudem ein Bekenntnis zum Europäertum ab: statt auf die „antisemitischen Schreihälse“ komme es in der übernational-europäischen Perspektive des Politischen darauf an, die Züchtung einer neuen Herrenkaste zu erreichen.

Im Folgejahr, 1887, erschien nach diversen Neuausgaben älterer Werke die neue Streitschrift „Zur Genealogie der Moral“. Die „Genealogie“ bedeutete eine neuerliche Hinwendung zur Philosophie, nachdem Nietzsche im „Zarathustra“ dem Gestus eines Religionsstifters gefährlich nahe kam. Macht wurde der starken Persönlichkeit zuerkannt, welche Reizen und Versuchungen zu widerstehen vermag. Nietzsche entwickelte die Perspektive von Macht und Ohmacht, von Überlegenheit und Unterlegenheit als Grundlage einer neuen Auffassung von Gut und Böse. Je nach sozialer Schichtung ist die Machtoptik eine andere. Herren- und Sklavenmenschen, Rom und Judäa, stehen in einem Spannungsverhältnis. Der Begriff „Gut“ ist mit Macht und Kraft verbunden, „Böse“ hingegen mit Schwäche und Ohnmacht. Die judäochristlichen Wertvorstellungen von Gerechtigkeit, Mitleid und Demut sind Ausdruck des Ressentiments gegenüber dem Mächtigen und Lebensbejahenden. Können derartige Affekte nicht entladen und in die Tat umgesetzt werden, so richten sie sich ins Innere und entwickeln eine vergiftende schöpferische Tätigkeit. Napoleon galt Nietzsche als perfekte Synthese von Übermensch und Unmensch. Seinen Worten nach gibt es Herren- und Sklavenrassen, das verhängnisvolle Wort von der blonden Bestie fiel. Zugleich verwies der Philosoph aber auf die nicht vorhandene Begriffs- und Blutsverwandtschaft zwischen Germanen und modernen Deutschen. Vornehme Rassen haben stets einen barbarischen Zug, und höhere Kultur beruht daher auf Vergeistigung und Vertiefung von Grausamkeit. Die Verödung des deutschen Geistes ist verantwortlich für den Antisemitismus, er nährt sich aus Kultur- und Philosophiefremdheit, Materialismus und nationaler Eitelkeit.

Nietzsche schweben Menschen vor, die man ebenso bewundern wie fürchten muss. Sie erscheinen infolge ihrer weit angelegten Spannkraft als Träger der Zukunft und als Wegbereiter des Übermenschen. Angst vor Wildheit und Unberechenbarkeit gilt ihm als Zeichen des Verhaftetseins an die Sicherheit bürgerlicher Ordnungsvorstellungen. Die neue Welt soll sich mit elementarer Gewalt durchsetzen, da sie ansonsten an einem Zuviel von Moral zu Grunde gehen wird. Die „Genealogie“ betont den Gegensatzcharakter des Daseins, das Zusammentreffen der Licht- und Dunkelseite des Lebens und Geschehens. Hieran knüpfte Nietzsche allerdings die bedenkliche Forderung, auch die negative Seite zu verwirklichen. „Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgibt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts - er muss einst kommen.“ Auch die Kehrseite der Dinge kann notwendig sein, wer sie nicht solchermaßen versteht, ist ein mittelmäßiger Mensch. „Dieser gewaltsam latent gemachte Instinkt der Freiheit - dieser zurückgedrängte, zurückgetretene, ins Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit: das, nur das ist in seinem Anbeginn das schlechte Gewissen.“

Die Verdrängung der nicht entladenen Instinkte ist die größte Erkrankung der Menschheit schlechthin. Schuldgefühlte und Autoaggression bedeuten Leiden des Menschen am Menschen an sich und Selbstvergewaltigung, sie sind die Kriegserklärung des Einzelnen an seine Instinkte. Nietzsche vertraute den regulativen Schöpfungskräften im Menschen und gab keinerlei Gebrauchsanleitung für den Umgang mit den durchbrechenden aggressiven Neigungen. Gerade dieser Umgang verlangt vom Einzelnen höchste Vorsicht, und es gibt keine Garantie, dass das Individuum die Konfrontation mit seiner negativen Seite besteht. In dieser Hinsicht ist die „Genealogie“ sicherlich sein gefährlichstes, sein skrupellosestes Werk - Überbewertung und Verherrlichung von Grausamkeit als Triebkraft von Geschichte und Kultur.

 

Der Antichrist

1888 folgte die Veröffentlichung der „Götzendämmerung“, in welcher Nietzsche seine alten Gedanken noch aggressiver, kämpferischer und unversöhnlicher darstellte. Das Werk stellte eine Kriegserklärung an Gott, Wahrheit und Moral (sofern sie nicht im Instinkt des Lebens getragen waren) sowie gegen die Vorstellung einer jenseitigen Wahrheit und den abendländischen Vernunftbegriff dar. Nietzsche verwarf die Demokratie, die in seinen Augen lediglich Herdentiere schafft und ein Verfallssymptom des Staates darstellt. Wie die westliche Kultur insgesamt neige auch der deutsche Staat zur Verweichlichung - als Gegenbild erschien ihm Russland, das noch die Kraft zu Wollen besitze.

Erst in Gefahrensituationen gelangt der Mensch zu höchster Angespanntheit und ist zur Selbstverantwortlichkeit gezwungen. Freie Menschen gedeihen nicht in Treibhäusern. Eine der extremsten Gefahren- und Ausnahmesituationen ist nun einmal der Krieg, der laut Nietzsche zur Freiheit, aber auch zum Frieden erziehe. Neben der Demokratie wurden auch Humanismus und Sozialismus als Missverständnisse des Christentums und Ausdruck abendländischer Dekadenz negiert. Der Krieg erschien Nietzsche als Notwendigkeit für die Kräftigung der Menschheit, es erschien die These vom Krieg als Kulturerhaltung. Zur Erreichung von Größe waren ihm auch die Bejahung des Leidens und das Opfer erforderlich - ein Ethos der Selbstüberwindung. Nietzsche griff auf die heroische Antike zurück und entwickelte sein dionysisches Prinzip weiter - eine eindeutige Flucht ins Visionäre: „Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen, der Wille zum Leben, im Opfer seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend…Nicht, um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht, um sich von einem gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen - so verstand es Aristoteles: sondern um, über Schrecken und Mitleiden hinaus, die ewige Lust der Werdens selbst zu sein, - jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich schließt. (…) Man ist notwendig, man ist ein Stück Verhängnis, man gehört zum Ganzen, man ist im Ganzen, - es gibt nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurteilen könnte, denn es hieße das Ganze richten, messen, vergleichen, verurteilen.“

Ende 1888 arbeitete Nietzsche kurz vor dem einbrechenden Wahnsinn unter anderem am „Antichristen“. Das Werk stellte eine feindselige und hasserfüllte Anklage gegen das Christentum dar. Dieses habe von Anfang an einen Vernichtungskrieg gegen den höheren Menschentypus, gegen alles Starke und Kräftige geführt. Nietzsche übte hier eine vernichtende Kritik an sämtlichen Grundbegriffen des Christentums. Er forderte die Umwertung aller Werte, den Krieg gegen die christlich geprägte westliche Zivilisation. Die Kritik galt jedoch weniger der Person Jesu selbst als vielmehr dem christlichen Gott und dem christlichen Glauben insgesamt. Der Schlussteil enthielt die Worte: „Ich verurteile das Christentum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist mir die höchste aller denkbaren Korruptionen, sie hat den Willen zur letzten auch nur möglichen Korruption gehabt. Die christliche Kirche ließ nichts mit ihrer Verderbnis unberührt, sie hat aus dem Wert einen Unwert, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechenschaft eine Seelenniedertracht gemacht. Man wage es noch, mir von ihren humanitären Segnungen zu reden. (…) Diese ewige Anklage des Christentums will ich an alle Wände schreiben, wo es nur Wände gibt. Ich habe Buchstaben, um auch Blinde sehend zu machen. Ich heiße das Christentum den einen großen Fluch, die eine große innerlichste Verdorbenheit, den einen großen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig, heimlich, unterirdisch, klein genug ist - ich heiße es den einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit. Und man rechnet die Zeit nach dem dies nefastus, mit dem dies Verhängnis anhob, nach dem ersten Tag des Christentums! Warum nicht lieber nach seinem letzten? Nach heute? Umwertung aller Werte!“

Ebenfalls in Arbeit war „Ecce Homo“, wobei dieses Manuskript ganz offen den einsetzenden Irrsinn erkennen lässt. Nietzsche erhöhte sich selbst zum Jünger des Dionysos; das Werk war von Menschheitsekel und Verherrlichung eigener Größe geprägt. „Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen - an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissen-Kollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit. (…) Umwertung aller Werte: das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden ist. (…) Ich bin bei weitem der furchtbarste Mensch, den es bisher gegeben hat; dies schließt nicht aus, dass ich der wohltätigste sein werde. Ich kenne die Lust am Vernichten in einem Grade, die meiner Kraft zum Vernichten gemäß ist, - in beidem gehorche ich meiner dionysischen Natur, welche das Neintun nicht vom Jasagen zu trennen weiß. Ich bin der erste Immoralist: damit bin ich der Vernichter par excellence

Die Arbeit enthält auch die bekannten Zeilen: „Ja, ich weiß, woher ich stamme: / Ungesättigt gleich der Flamme / Glühe und verzehr` ich mich. / Licht wird alles, was ich fasse, / Kohle alles, was ich lasse, / Flamme bin ich sicherlich.“ Zum Abschluss wiederholte Nietzsche Voltaires Kirchenfluch „Zerschmettert die Niederträchtige“ und setzte hinzu: „Hat man mich verstanden - Dionysos gegen den Gekreuzigten.“

 

Das Ende

Der endgültige Zusammenbruch Nietzsches erfolgte im Januar 1889 in Turin, ironischerweise zu einem Zeitpunkt, als sich ein verstärktes öffentliches Interesse an seinen Werken bemerkbar machte. Sein Freund Overbeck brachte ihn in die Nervenklinik von Basel, wo man eine Progressive Paralyse diagnostizierte. 1890 erhielt die Mutter die Erlaubnis, den Sohn bei sich in Naumburg aufzunehmen und zu pflegen. Bis zu ihrem Tod 1897 lebte der umnachtete Nietzsche bei ihr, anschließend nahm ihn seine Schwester zu sich nach Weimar. Elisabeth, mittlerweile mit einem fanatischen Antisemiten verheiratet, okkupierte sein Vermächtnis und richtete das Nietzsche-Archiv mit dem verrückten Bruder als lebender Requisite ein. Sie betrieb als Inhaberin aller Rechte die Publikation seiner Arbeiten und Fragmente und schreckte hierbei vor erst Jahrzehnte später erkannten Verfälschungen hin zum Sozialdarwinismus, zum Antisemitismus und zu völkischer Germanentümelei nicht zurück; in Elisabeth Förster-Nietzsche ist die eigentliche Begründerin des Nietzsche-Kultes zu sehen.

Man sollte sich hüten, das Schaffen Nietzsches als das Werk eines Geisteskranken abzuqualifizieren - mit Karl Jaspers halten wir fest, dass „der Wert eines Geschaffenen einzig allein aus dem geistig Hervorgebrachten zu sehen und zu beurteilen ist“. Der auch deutlich erkennbare Bruch seines Lebens ist erst der Kollaps in Turin. Am 25. August 1900 starb Friedrich Wilhelm Nietzsche in Weimar, er wurde auf dem Friedhof in Röcken begraben. Bei seiner Beerdigung trugen die verbliebenen Freunde am Grabe Sprüche aus „Zarathustra“ vor.

 

Friedrich Nietzsche und der Faschismus

Schon vor dem Tod des „Meisters“ brachen sich gerade unter der Jugend starke nietzscheanische Einflüsse Bahn, auch wenn er den herkömmlichen Pädagogen eher als ein Schreckgespenst erschien. 1894 stand Nietzsches Name erstmals im Brockhaus, und um die Jahrhundertwende war er in der Literaturszene fest etabliert. Beispielsweise wurde im Jahre 1913 das 100.000. Exemplar des „Zarathustra“ verkauft. Angesichts von Julius Langbehn und Paul de Lagarde kann Nietzsche keinesfalls als Hauptideologe der deutschen Jugendbewegung gelten, er wurde erst nach dem 1. Weltkrieg wirkungsmächtiger. Dieser erste wahrhaft industriell geprägte Krieg der Menschheitsgeschichte galt vielen als Zeitenwende; ein neues Zeitalter und ein neuer Menschentypus sollten die in den Materialschlachten untergegangene bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ersetzen. Wir erinnern hier nur an das Wirken Ernst Jüngers oder Friedrich Hielschers, welches bei Nietzsche seinen Ausgang nahm. Im Bürgertum war noch bis in die Weimarer Zeit hinein die Verunsicherung vor dem „anarchistischen Nietzsche“ und seinem Übermenschen zu bemerken - sie stellte auch den Nährboden für die Verdammung nach 1945 dar.

Die „Verdammung“ resultierte aus Nietzsches Instrumentalisierung durch den Nationalsozialismus, obwohl sich in den vergangenen Jahren die Erkenntnis durchsetzte, dass von einer wirklichen Assimilierung von Nietzsches Denken durch die Nationalsozialisten keine Rede sein kann. Die Verfälschungen seines Werkes waren neben Elisabeth Förster-Nietzsches Machenschaften nicht zuletzt auf Interpreten wie Alfred Rosenberg und Alfred Baeumler zurückzuführen. Rosenberg stellte ihn in die Nachbarschaft von Paul de Lagarde (den er verachtete) und Houston S. Chamberlain (der Nietzsche aus rassischen Gründen strikt ablehnte). Nietzsches Machtverherrlichung und seine Faszination am Bösen wurden durch die Ideologen des Nationalsozialismus oberflächlich und völlig losgelöst vom Gesamtwerk betrachtet, Hitler selbst hatte überhaupt kein Verhältnis zu Nietzsche und hat ihn wohl niemals gelesen. Gerade die Verachtung Nietzsches für den Antisemitismus und die Rassenideologien wird von seinen Kritikern oftmals übersehen.

Die völkische Bewegung der wilhelminischen Zeit und der Weimarer Republik knüpfte weitaus stärker an Germanentümelei als an Nietzsches Hellenismus an. Eine Resonanz findet sich wohl eher bei den radikalen Nationalisten vom Schlage eines Ernst Jünger, die, das gesamte bürgerliche Zeitalter in Frage stellend, den Nationalismus als aus dem Geist der neuen Zeit kommend ansahen und ebenfalls einen neuen Menschentypus, den technikgewohnten Frontsoldaten der Materialschlacht, propagierten. Der an einem „geläuterten“ Nationalsozialismus interessierte Baeumler setzte auf Nietzsche als Gegengewicht zum Biologismus Rosenbergs und etablierte seine Philosophie des Willens zur Macht, um den deutschen Zukunftsstaat aus dem Geist Nietzsches und des Weltkrieges schaffen. Namhafte NS-Autoren wie Christoph Steding und Curt von Westernhagen verwarfen seine Philosophie sogar als mit dem Geist des Nationalsozialismus unvereinbar.

Bedeutender ist hingegen der Einfluss auf die Faschismen in Spanien (über José Ortega y Gasset), Frankreich (Georges Sorels „Réflexions sur la violence“, 1908) und vor allem in Italien. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Nietzsche wichtige Phasen seines Lebens auf italienischem Boden verbrachte. Zahlreiche Werke sind mit Orten in Italien verknüpft: „Die fröhliche Wissenschaft“ mit Genua, die „Morgenröte“ mit Venedig, „Menschliches, Allzumenschliches“ mit Sorrento, „Zarathustra“ mit Turin sowie das gesamte Spätwerk mit Turin. Die erste italienische Nietzsche-Rezeption erfolgte durch Gabriele d´Annunzio, und zwar vor allem in der Superuomo - Konzeption, wie sie 1894 im „Triumph des Todes“ dargestellt wurde.

Sorel wiederum definierte in seiner Philosophie der Gewalt den sozialdemokratischen Reformismus ebenso wie den bürgerlichen Humanitarismus als Degenerationserscheinungen und Bestandteile der Sklavenmoral. Der gewalttätige Klassenkampf der syndikalistischen Arbeiter war nicht mit einem Sklavenaufstand zu vergleichen, sondern verlieh diesen in seinen Augen eine Herrenmoral. Der Klassenkrieg zwischen Arbeiterklasse und Kapital sollte die Kleinlichkeiten des Alltags überwinden und Größe, Erhabenheit und Schöpfungsdrang wieder zur Geltung verhelfen.

Der Sozialist Benito Mussolini wiederum entwickelte aus Marx, Sorel und Nietzsche ein hochexplosives Gemisch, aus dem sehr bald der Faschismus entstehen sollte. Auch der Futurist Filippo Tommaso Marinetti, der Staatsphilosoph Giovanni Gentile und vor allem Julius Evola zeigten sich durchaus nietzscheanisch beeinflusst. Zwischen den Positionen des Denkers Nietzsche und den faschistischen Ideologen besteht eher ein Schwebezustand denn eine vollständige Übereinstimmung, wobei gewisse Schnittmengen nicht zu leugnen sind. Autoren wie Taureck nennen ihn nicht ganz unzutreffend einen Protofaschisten.

Du suchtest die schwerste Last:
da fandest du dich -,
du wirfst dich nicht ab von dir (…)
Jetzt
zwischen zwei Nichtse
eingekrümmt,
ein Fragezeichen,
ein müdes Rätsel -
ein Rätsel für Raubvögel…
sie werden dich schon `lösen`,
sie hungern schon nach deiner `Lösung`,
sie flattern schon um dich, ihr Rätsel
um dich Gehenkter!...
O Zarathustra!...
Selbstkenner!...
Selbsthenker!..
.“

 

Literatur

Flake, Otto: Nietzsche. Rückblick auf eine Philosophie, Baden-Baden 1946
Frey-Rohn, Liliane: Jenseits der Werte seiner Zeit. Friedrich Nietzsche im Spiegel seiner Werke, Zürich 1984
Gerhardt, Volker: Friedrich Nietzsche, München 1992
Harrison, Thomas (Hrsg.): Nietzsche in Italy, Saratoga 1988
Kaufmann, Walter: Nietzsche. Philosoph-Psychologe-Antichrist, Darmstadt (2. Auflage) 1988
Niemeyer, Christan: Nietzsche, die Jugend und die Pädagogik. Eine Einführung, München 2002
Nolte, Ernst: Nietzsche und der Nietzscheanismus, Frankfurt/Main 1990
Ross, Werner: Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, München (2. Auflage) 1994
Taureck, Bernhard H.F.: Nietzsche und der Faschismus. Eine Studie über Nietzsches politische Philosophie und die Folgen, Hamburg 1989

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