Politische
Theorie
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Kritische Anmerkungen zur Geschichte und zum Wesen
von Bruno Löwitsch
Quelle: Junges Forum 1-2/97 - www.regin-verlag.de
Er hat hinab genommen
des Reiches Herrlichkeit,
und wird einst wieder kommen
mit ihr, zu seiner Zeit.
(Friedrich Rückert, „Kaiser Rotbart“)
Der Begriff und der Mythos des „Reiches“ hat über 1000 Jahre
lang eine eminent wichtige Rolle in der Geschichte und der Geisteswelt des deutschen
Volkes gespielt. In einem unglaublichen Ausmaß hat der Mythos „Reich“
Auswirkungen auf die Politik Europas und Deutschlands sowie auf die Lebensläufe
von Generationen von Menschen gehabt.
Im Folgenden soll die Entstehung dieses Leitbildes im historischen Zusammenhang erklärt werden, wobei das Erste Reich und das 19. Jahrhundert eine besondere Berücksichtigung erfahren. Gegenstand der Untersuchung soll die Wandlung des Mythos im Laufe der Zeit sein, ebenso die Frage, ob eine historische Kontinuität vorliegt, des weiteren seine beständige Weiterentwicklung und Verformung als hochgradig politische Vision. Im zweiten Teil wird der Mythos des Dritten Reiches und die Rolle seines „Erfinders“ Arthur Moeller van den Bruck näher untersucht, wobei versucht wird, Entstehung, Inhalt und Wurzeln seiner Faszinationskraft herauszuarbeiten. In einem eigenständigen Kapitel erfolgt die Darstellung nationaler Kritik an Moeller van den Bruck und am Mythos des Dritten Reiches. Exemplarisch dafür werden die Positionen von Alois Dempf für die national-katholische Seite und von Ernst Niekisch für die Seite der Nationalrevolutionäre und Nationalbolschewisten dargelegt. Die Interpretation des Mythos vom Reich aus nationalsozialistischer Sicht erfolgt durch die Bearbeitung des Hauptwerkes von Alfred Rosenberg „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“. In diesem Zusammenhang wird die Frage untersucht, wie hier der Mythos vom Dritten bzw. vom Reich dargestellt wird und in welchem Verhältnis er zum zweiten großen Mythos der nationalsozialistischen Weltanschauung, dem „Blutsmythos“, steht. Das Wesen und das Wirken des Mythos vom Reich werden in einem eigenen Kapitel untersucht. Besondere Beachtung finden dabei die Fragen, wo die Wurzeln des Mythos liegen, welcher Inhalt ihm zugrunde liegt und woher er seine unheimliche Wirkungskraft zieht.
Im Rahmen dieser Arbeit war es nicht möglich, alle Aspekte des Reichsverständnisses im Verlauf der Jahrhunderte und die unterschiedlichen Vorstellungen, die zwischenzeitlich von der Vision, dem Mythos vom „Reich“ existierten, im einzelnen darzustellen. So sah der Verfasser sich gezwungen, den Einfluss des Christentums auf den Mythos sowie die Zeit des Zweiten deutschen Kaiserreiches in relativ straffer Form vorzulegen. Insgesamt soll hier verdeutlicht werden, inwieweit ein politischer Mythos durch bewusste Ausdeutung und Inanspruchnahme der aktuellen Politik seine Aussage und sein Bild in der Gesellschaft verändern kann.
Die Entstehung des Mythos „Reich“
Mit der Absetzung des letzten weströmischen Kaisers Romulus Augustulus im Jahr 476 hörte das Imperium Romanum de facto auf zu existieren. Die Erinnerung an das alte, weltumspannende Reich der Cäsaren blieb jedoch in den europäischen Stämmen und Völkern erhalten. In den ersten „nachrömischen“ Jahrhunderten, in der Zeit der Stammesauseinandersetzungen, der zusammenbrechenden Geldwirtschaft sowie des spürbaren kulturellen Rückgangs auf allen Gebieten erschien die Zeit der großen Kaiser als eine Phase der Sicherheit, des staatlichen garantierten Rechts und - wenn auch nicht durchweg in religiöser Hinsicht - der abendländischen Einheit. Diese Erinnerung vermengte sich mit den christlichen Ideen des Augustinus sowie der chiliastischen Theorie des italienischen Theologen Joachim von Fiore, der eine umfassende Geschichtstheologie entwickelte, nach der dem Zeitalter des Vaters (Altes Testament) und der Zeit des Sohnes (Neues Testament) das Tausendjährige Reich des Geistes anbrechen sollte.
Bloch beschreibt das Werk Augustins: „Geschichte entsteht als Heilsgeschichte zum Reich hin, als lückenloser Vorgang, eingespannt zwischen Adam und Jesus, auf Grund der stoischen Einheit des Menschengeschlechts und des christlichen Heils, das ihm werden soll. Zwei Staaten kämpfen seit je in der Menschheit, unversöhnbar, die Civitas Terrana und die Civitas Dei (...).“
Der Mythos des Reiches wurde auf einer christlichen Basis aufgebaut, nach der die Geschichte eine Abfolge von Großreichen darstellt, von denen das Römische das letzte vor dem Anbruch des Gottesstaates darstellte. Da es nur einen Gott und daher nur eine Kirche gab, konnte es folglich auch nur ein Reich geben. Da das Reich Gottes offensichtlich noch nicht erreicht war, musste das Römische Reich - nun unter der Führung deutscher Kaiser - noch existent sein. Der hingebungsvolle Glaube des Mittelalters, dass die Vervollkommnung des „Heiligen Römischen Reiches“ Voraussetzung und Weg zum letzten „wahren“ Reich wäre, schaffte im politisch-religiösen Denken eine Verbindung zwischen dem Bestehenden und dem Kommenden und erhöhte gleichzeitig die Legitimität der aktuellen Handlungen. Das Imperium Romanum erhob und verklärte sich zum Imperium Sacrum. Durch diesen Prozess (Einordnung des bestehenden Herrschaftssystems in einen religiösen Kontext) konnte gleichzeitig - z.B. bei den späten Staufer-Kaisern wie Friedrich II. oder Heinrich VI. - eine legitime Distanz zu den Päpsten in Rom geschaffen werden, welche sich politisch oftmals im Widerspruch zu den Kaisern des Reiches befanden.
Wie das Wort „Reich“ seinen Einzig in den deutschen Sprachschatz fand, lässt sich im Einzelnen nicht mehr genau klären. Das Spektrum an Erklärungsmöglichkeiten reicht von dem Begriff als eine unpolitische Raumbezeichnung bis hin zum altdeutschen „riche“ als Ausdruck für Macht und Herrschaft.
Der Mythos und das erste deutsche Kaiserreich
Nach der Übertragung der (römischen) Reichstradition auf den Franken Karl den Großen (translatio imperii, 800) wurde schließlich mit der Kaiserkrönung Ottos des Großen (962) die universelle Verantwortung für die Christenheit den Deutschen übertragen. Welches Motiv gerade in dieser frühen Zeit hinter dem Mythos Reich stand, verdeutlicht sich in einer 1946 herausgegebenen Geschichtsbeschreibung: „die Gestaltung des Reiches als der Zusammenfassung aller Völker unter dem geistigen Wahrzeichen des Kreuzes“.
Zusammen mit diesem religiösen „Auftrag“ übernahm das „Heilige Römische Reich“ die römisch-universalistische Tradition der Antike.
Die unter den Ottonen stattfindende Identifizierung mit dem Gedanken der „renovatio imperii romanum“, die Vermischung von Reichsmythos und staatlicher Politik, und die damit beginnende Ausrichtung nach Süden, wurde zum deutschen Schicksal im frühen Mittelalter. Die Tragik dieses Schicksals und gleichzeitig auch eine Kritik am damaligen staatlichen Reichsgedanken, wird in einem Satz von Brun von Querfurt (1008) deutlich: „Der fromme Otto (der III., d. Verf.) starb (...); er, der große Kaiser in einer engen Burg. (...) Wie ein alter Heidenkönig der sich in seinem Eigenwillen verkrampft, mühte er sich zwecklos ab, den erstorbenen Glanz des altersmorschen Roms aufs Neue zu beleben“.
Gerade im Mittelalter gewann der Reichsmythos sowohl für die handelnde politische Klasse als auch für das Bewusstsein der breiten Masse überragende Bedeutung. In einer Zeit geistiger Umbrüche, religiöser und politischer Unsicherheit, erschien dieser Mythos als ein wiederherzustellender, positiver Ursprung. Das „Reich“ erscheint hier als ein Gründungsmythos, der gleichzeitig eine deutliche Kritik an den bestehenden Verhältnissen darstellt. In den großen Epen, die um 1200 entstanden, wird immer wieder auf das „heilige Reich“ Bezug genommen, welches als Ziel oder als eine Art moralischer Instanz für die Autoren von Bedeutung war.
Das „Reich“ wurde fraglos idealisiert und im eschatologischen Sinn als heilsbringende Zukunft herbeigesehnt. Dabei löste sich der Reichsgedanke von der Person des Kaisers. Ein Kaiser als offizielles Oberhaupt des Reiches stand den Menschen immer als konkretisierte politische Leitfigur klar vor Augen - und mit ihm die offensichtlichen Auswirkungen seiner jeweiligen Politik und seiner allfälligen menschlichen Schwächen. Durch diese fehlende zeitliche und geistige Distanz eigneten sich die Kaiser, bis auf wenige Ausnahmen, kaum zur Mystifizierung. Anders der Reichsmythos, die seit dem 11. Jahrhundert sich durchsetzende Vorstellung von der Transpersonalität des Reiches, die also die Würde und Aufgabe des Reiches von der Person der einzelnen Kaiser loslöste.
Im Verlauf der Jahrhunderte schwächte sich der christliche Einfluss auf den Mythos langsam ab, doch behielt das Reich seinen übernationalen Charakter. Bis sich auch dieser im Zuge des Dreißigjährigen Krieges und dem mit ihm verbundenen Westfälischen Frieden verlor. Der Frieden von 1648 hatte den traditionellen Charakter des Reiches als eines defensiven Rechtsverbandes festgeschrieben, dessen eigentlicher Sinn darin bestand, das friedliche Zusammenleben überaus vielfältiger sozialer und politischer Gebilde, mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen von ihrer Herkunft und ihrer Zukunft, vor der Einwirkung unrechter Gewalt zu schützen. Diese Festschreibung machte die Politik eines Reichsfürsten, der sich in den Dienst des Reiches oder Deutschlands gestellt hätte, nahezu überflüssig.
Zusammenfassend gesehen schaffte es das erste deutsche Kaiserreich nie, dem Ideal zu entsprechen, es handelte sich um ein immerwährendes Bemühen, einen Gedanken zu verwirklichen, der gar nicht realen staatlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten entsprungen war, sondern einer reinen, weitab liegenden Idee, einen Mythos in die Realität umzusetzen.
Der Wandel des Mythos im 19. Jahrhundert
In den Jahrzehnten um 1800 wurde der Wunsch nach einer „Klammer“, nach einem positiven Zusammenschluss der Gesellschaft wieder stärker. Das Reich als handlungsfähiges Subjekt war zu dieser Zeit in der Politik faktisch nicht mehr existent, symbolhaft lebte es nur noch in den Habsburger Kaisern weiter, die in Wien „Hüter der Reichsinsignien“ waren. Das Reich als politisch bedeutender Mythos hatte an Kraft verloren.
Aus politischen und wirtschaftlichen Gründen, inspiriert von den Ideen der Französischen Revolution, erstand in Teilen der Bevölkerung der Gedanke an die Einheit Deutschlands, dessen Staatsgebiet bis zur offiziellen Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zuletzt aus einer unüberschaubar zersplitterten Menge einzelner Königreiche, Fürstentümer und freier Reichsstädte bestanden hatte.
Die Bedürfnisse der Zeit zielten auf eine überindividuelle Gemeinschaft und vor allem auch auf eine Gemeinschaft stiftende Symbolik, die - über den einzelnen oder wenige hinaus - Identifizierung ermöglichte und Einheit vergegenwärtigte. Den Grund dafür legte der Geist, der sich in Sprachgeist und Volksgeist konkretisierte und damit auch der Bildung den Wirkungsbereich einer großen Gemeinschaft zwischen Individuum und Menschheit anwies: die Nation.
Doch erst in der Zeit der Befreiungskriege gegen die französische Fremdherrschaft wurde aus dem universalen, überregionalen Reichsgedanken eine völkisch ausgerichtete „Klammer“. Die Schwere der napoleonischen Fremdherrschaft, die Schmach der Zerrissenheit drängten in verhältnismäßig kurzer Zeit die Erinnerung daran in den Hintergrund, wie lose der Reichsverband, wie unklar der Begriff „Deutschland“ gewesen sei. Dem dunklen Sehnen, dass ein Band die deutschen Stämme in Zukunft wieder vereinen möge, verdankte der Reichsmythos seine Wiedergeburt als treibende politische Kraft.
Der Mythos eines zu schaffenden deutschen Reiches wurde in dieser Epoche von diversen Personen aufgenommen und ausgebaut. So schrieb beispielsweise Fichte in seinen „Reden an die deutsche Nation“: „Sollte eine so gesunkene Nation sich dennoch retten können, so müsste dies durch ein (...) Mittel, ermittelst der Erschaffung einer ganz neuen Ordnung der Dinge, geschehen.“ Gleichzeitig wird der Reichsmythos 1815 mit symbolträchtigen Personen der germanischen Geschichte zu neuer Aktualität gebracht: „Die Eintracht, lang begraben, von uns so lang verkannt, soll wieder Tempel haben, in Hermanns Vaterland.“ Die politische Realität nach dem Wiener Kongress und der damit einhergehenden Restauration in Europa entsprach jedoch keineswegs den Einheitsvisionen der von der Reichsidee Berührten.
Im politischen Bewusstsein wirkte dieser neu zum Leben erweckte Reichsmythos jedoch weiter. Nach der schließlich im Januar 1871 von Bismarck vollzogenen zweiten deutschen Reichsgründung gewann der Mythos des Reiches erneut politische Bedeutung, jetzt auch durch staatliche Inanspruchnahme. Der Staat Wilhelms I. war ein Bundesstaat im kleindeutschen Rahmen unter preußischer Führung, der durch den Ausdruck „Reich“ Farbe und Emotion gewann. In diesem Staat erlangte die Figur der Germania Bedeutung, das Hermannsdenkmal wurde 1875 fertig gestellt, das Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Koblenz am Deutschen Eck 1897. Solcherart konnte ein Stein gewordener Nationalmythos de, visuell nicht wahrnehmbaren Reichsmythos eine für alle greifbare Form geben.
Der Mythos des Dritten Reiches
Unter dem Eindruck des 1918 zusammengebrochenen wilhelminischen Reiches prägte in der Weimarer Republik die Vision eines neuen Reiches das Selbstverständnis zivilisationskritischer, antiwestlicher und vielfach antidemokratischer Kräfte. Diese Vision ließ sich zu einem politischen Mythos stilisieren, dessen magische Leuchtkraft die armselige Wirklichkeit des bestehenden Deutschen Reiches umso elender erscheinen ließ. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Buch von Moeller van den Bruck „Das dritte Reich“. Die Errichtung eines „Dritten Reiches“ schien ihm die Möglichkeit, fort vom Chaos der damaligen Zeit, die Deutschen zu einer wahren Einheit zu bringen. Zu einer Einheit, „zu der wir seit unserem ersten Reiche nicht mehr gelangten und die wir in unserem zweiten Reiche verfehlten - und die uns nun für ein drittes Reich aufgegeben ist“.
Moeller van den Bruck
Dass der Vision des dritten Reiches bei Moeller van den Bruck unzweifelhaft ein Erlösermythos zugrunde liegt, wird durch folgende Zitate deutlich: „Der Gedanke des ewigen Friedens ist freilich der Gedanke des dritten Reiches“ sowie „Wir glauben, dass dieses zweite Reich nur erst der Übergang zu einem dritten Reiche war, zu einem neuen und letzten Reiche, das uns verheißen ist, und für das wir leben müssen, wenn wir leben wollen“.
Aber nicht nur Moeller van den Bruck ist dem Reiz des Mythos erlegen, viele seiner Zeitgenossen sind der Verheißung gefolgt, die einen Ausweg aus dem „Jammertal“ zu zeigen schien. Beispielhaft dafür sollen hier die Ausführungen Frieda Eckrichs, die sich im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit mit der Reichsidee auseinandergesetzt hat, dokumentiert werden. Eckrich beschreibt dieses Sehnen nach einem kommenden dritten Reich wie folgt: „Die dritte große Synthese des neuen Reiches verlangt nun eine Zusammenführung beider Werte. Das Bewusstsein einer Heiligung, die als unverlierbares Erbe der Verchristlichung in unser Geistesleben eingegangen ist, muss synthetisch zusammengebracht werden mit diesen nationalen Werten. Die Profanation, in welche diese Kulturschöpfungen durch die geistesgeschichtliche Entwicklung gedrängt wurden, muss durchbrochen, der Begriff des Sakralen auf sie ausgedehnt werden. Die Gleichsetzung der nationalgeschichtlichen Werte mit dem absolutreligiös Sanktionierten bedeutet zum ersten eine ungeheure Wertsteigerung dieser Ideen, dann eine Steigerung des individuell nationalen Bewusstseins. Denn mit dem Vorgang der Heiligung nationaler Geisteswerte, der Heiligung dieses Geistes ist zugleich auf der Ebene des sozialen Lebens eine ausgedehnte Teilnahme des ganzen Volkes an dem geistigen Besitz der Nation gegeben. Die Gestaltung des Reiches als Reich der Dritten Konfession schafft durch diese Erweiterung eine Voraussetzung für die Lösung sozialer und politischer Fragen.“ Stern sieht in Moeller van den Bruck denjenigen, der seine an sich nicht neuen politischen Ideen „mit dem Erlösungsmythos des dritten Reiches in Verbindung brachte“ und dessen Buch als „wahrhaft politische Religion“ bezeichnet wurde. „Glaube, Zorn und Weissagung sind seine wesentlichen Elemente. Das dritte Reich - jenes ewig ferne Reich der Einheit und Stärke - war eine religiöse Idee. Moellers eindringliche, heftige Stimme, eine ganz persönlich ansprechende Stimme, war die eines Predigers, der in der Leidenschaft seiner Mitmenschen ein Echo zu finden hofft.“
Moeller van den Bruck, der Apostel des dritten Reiches, hatte eingangs mit seinen 1923 erschienenen „Predigten“ keinen allzu großen Erfolg. Die scheinbare Konsolidierung der Weimarer Republik wirkte dem entgegen. Erst die nach Stresemanns Tod einsetzenden Parlamentskrisen schufen das nötige Umfeld für eine erneute Rezeption und ab etwa 1929 beherrschte dieser Mythos, der damals immer noch mehr mit Moeller van den Bruck als mit Hitler in Verbindung gebracht wurde, die Vorstellungswelt aller nationalen Gruppen.
Kritik an Moeller van den Bruck
Ungeachtet dessen wurde Moeller van den Bruck auch von nationaler Seite nicht nur positiv rezipiert. Alois Dempf, der von Mohler als ein Autor der Konservativen Revolution dargestellt wird, geht davon aus, dass es den Gedanken eines dritten Reiches schon immer gab. „Das dritte Reich ist ein Zukunftsideal, das Schema des Fortschrittsglaubens, und darum ist es auch immer ein Schemen geblieben. (...) Trotzdem, das dritte Reich war eine große Idee, es war die Hoffnung gerade der Geistigen in allen finstern Zeitläuften, die hofften wider alle Hoffnung.“ In der damaligen politischen Debatte bedauerte Dempf, dass der Begriff des dritten Reiches zu einem Parteischlagwort wurde und fragte, ob Moeller van den Bruck das wirklich so gemeint hatte. Im Gegensatz zu Moeller van den Bruck sah sich Dempf bereits in einem dritten Reich und forderte dazu auf, es zu gestalten und nicht nur zu prophezeien. „Und das konnte Moeller nicht. Er will wie Dostojewski revolutionärer Konservativer sein. (...) Er stürmt nicht wie Dostojewski im Amoklauf gegen die Götzen der Zeit, sondern versetzt den toten Löwen des Sozialismus, der Demokratie, des Liberalismus einen Eselstritt.“ Das alles hätte Dempf Moeller van den Bruck verziehen, er verzieh ihm aber nicht, dass Moeller van den Bruck, obwohl er wusste, dass das dritte Reich nur eine Utopie war und bleiben würde, „dann doch das dritte Reich verkündet ohne daran zu glauben“. Im Gegensatz zu Moeller van den Brucks Erlösermythos forderte Dempf „die heilige Nüchternheit der sachlichen, gestaltenden Arbeit“. Abschließend räumte er selbstkritisch ein, dass die Menschheit aufgrund ihres endlichen Geistes „immer wieder neue Erdenreiche und Götzen suchen“ wird, und damit beweist, „dass sie ohne den Glauben an die Gottesbestimmung der Geschichte nicht leben kann“.
Kritik ganz anderer Art wurde von Ernst Niekisch geäußert. Jener sich als legitimer Erbe des alten Preußens betrachtende Nationalrevolutionär sah den Reichsmythos als Teilaspekt „der bürgerlichen Gegenrevolution nach 1919“ und demaskierte ihn als Bestandteil der bürgerlichen „Fassade, hinter der man, ohne sich national bloßzustellen, die Entscheidung für die bürgerlich-kapitalistische Ordnung treffen kann, indem man einer ausdrücklichen Entscheidung überhaupt ausweicht“. Weiter holte er aus: „Ob es sich um ein drittes oder ein ewiges Reich, ein Imperium teutonicum oder eine mitteleuropäische Föderation handelt...Alle Reichler zwischen Moeller van den Bruch und Othmar Spann unterscheiden sich nur durch Schattierungen; dem Wesen nach sind jene durchwegs dasselbe. (...) Der reale Kern, auf den jegliches Reich in jedem Falle hinausläuft, heißt Adolf Hitler. Der nationale Messias enthüllt sich als letzte Reserve der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft.“ Niekisch selbst plädierte für die Errichtung eines aus „slawischem Blut und preußischem Geist“ hervorgehenden neuen Reiches. Dieses Reich konnte aber nur Bestand haben, „wenn zuvor alles ausgerottet wurde, was an die verderbte römische, urban-bürgerliche Zivilisation erinnerte“. Niekisch war also, wenn er ein Gegner Hitlers war, dies in dem Sinne, wie Stalin einer war. Es ging nicht darum, Terror zu verhindern, sondern nur darum, wer ihn durchführen dürfte.
Der Mythos vom Reich bei Alfred Rosenberg
Unter den Nationalsozialisten bestand die Hauptaufgabe des Reichsmythos in der Schaffung von Kontinuität. das „Tausendjährige Reich“ der Nationalsozialisten grenzte sich schon im Namen bewusst von der „reichslosen“ Weimarer Republik ab und versuchte, sich als offiziellen Nachfolger der beiden vorangegangenen Kaiserreiche darzustellen. Die Tatsache, dass diese Gemeinwesen von Staatsaufbau, Politik und Ideologie her keinerlei Berührungspunkte mit dem Nationalsozialismus hatten, war für diesen Punkt irrelevant. In der von den nationalsozialistischen Propagandisten angestrebten „Reichskontinuität“ waren lediglich herausragende Punkte der deutschen Geschichte sowie der im Großteil der Bevölkerung positiv besetzte Begriff des „Reiches“ von Bedeutung, da diese für die eigene Idee nutzbar gemacht werden konnten.
Alfred Rosenberg, sicherlich in seiner Bedeutung eine der umstrittensten Persönlichkeiten des 3. Reiches und so genannter „Chefideologe der Nationalsozialisten“, sprach den Mythos des „Reiches“ explizit an, sah ihn als ein immer wiederkehrendes Moment „germanisch-deutscher“ Geschichte und stellte die eigene Bewegung in diese „Tradition“ des Mythos. Unter der Überschrift „Das kommende Reich“ heißt es beispielsweise: „Der Traum von einem heilig-ehrenvollen Reich führte den altdeutschen Kaisern das Schwert, aber auch den Rittern, die sich gegen sie empörten. Nach dem fernen Rom, nach dem endlosen Morgenlande trieb sie dieser Traum. Das Blut versickerte zwischen den Ruinen Italiens, am „Heiligen Grabe“, ohne als erlebte Wirklichkeit auferstehen zu können. Bis auf märkischem Sande der alte Traum wieder lebendig wurde. Aber auch er sank noch einmal dahin und schien verloren und vergessen. Und heute haben wir endlich wieder zu träumen begonnen.“
Gleichzeitig sah sich Rosenberg allerdings mit dem Problem konfrontiert, diesen „Traum“ von einem eben noch „heilig-ehrenvollen“ Reich mit der Rassenpolitik seiner Partei in Einklang zu bringen. So „entnimmt“ Rosenberg im Folgenden dem Mythos noch einmal die von ihm akzeptierten Teilaspekte („Auch wir verehren die großen Gestalten deutscher Vergangenheit; auch wir sind stolz auf die Persönlichkeiten, die damals Europa beherrschten.“), um dann den mittelalterlichen Reichsmythos endgültig in die Kategorie einer überholten, weil falschen Ideenwelt einzuordnen: „(...) hindert uns aber nicht, das frühere System des rasselosen Großrömischen Reiches abzulehnen (...) Diesen Mythus heute nochmals durchsetzen zu wollen, bedeutet ein Verbrechen am deutschen Volke.“ Gegen diesen alten Mythos setzte Rosenberg den „Mythos des Blutes“, den er als Voraussetzung für ein neues Reich ansah. Dieser Blutsmythos ist das „Zeichen einer Kraft, zu deren Vernichtung sich einst die Bonifazius und Willibald aufgemacht hatten, die Zeichen jenes Blutes, das einst Odin und Baldur erschuf, das einst Meister Eckehart zeugte, welches endlich seiner selbst bewusst zu werden begann, als das Wort Alldeutschland ausgesprochen wurde, als auch Goethe die Aufgabe unseres Volkes wiederum darin erblickte, das Römische Reich zu brechen und eine neue Welt zu gründen.“ Obwohl der Mythos hier zu einem Schöpfungsmythos geworden ist, werden auch hier Verbindungen zu früherem, wie der altgermanischen Götterwelt, gezogen.
Der Mythos „Reich“ im Überblick
Der Mythos entstand aus der Erinnerung an das ehemals „weltumspannende“ Römische Reich. Durch den Anstoß König Pippins I. zogen die christlichen deutschen Kaiser vom 8. bis 13. Jahrhundert in regelmäßiger Folge gen Italien und Rom. Der tragische Kampf um den letztlich fiktiven Bestand des Imperiums kostete die deutschen Stämme Unmengen an Kraft und Blut, während in der realen Politik sich derweil Frankreich und England auf den Weg machten, Nationalstaaten zu werden.
Dabei lässt sich der Mythos des Reiches, die „Reichsidee“, nicht als ein klar zu definierendes Objekt beschreiben. Das „Reich“ blieb, vor allem im Mittelalter, ein vielschichtiges Spektrum aus Traditionen, Positionen, Ideen und Hoffnungen.
Dass der Mythos des Reiches sich nicht problemlos einer bestimmten Gattung zuordnen lässt, zeigt das Beispiel der Kyffhäuser-Sage. Als ein Aspekt der Mystifizierung von Friedrich Barbarossa entwickelte sich die Kyffhäuser-Sage, nach der der Kaiser im Kyffhäuser (Thüringen) sitzt, den Bart durch einen Marmortisch gewachsen, um eines Tages „das Reich“ zu erretten. Durch die sich entwickelnde Zeit bedingte Distanz zur Person Barbarossas wurde die Kyffhäuser-Sage mehr und mehr zu einem Teil des Reichsmythos (erst im 16. Jahrhundert wurde die ursprünglich mit Friedrich II. verbundene Sage auf Barbarossa übertragen). So wurde aus dem reinen Personenmythos der ersten Zeit ein fester Bestandteil des größeren, „übergreifenden“ Mythos.
Der Mythos vom Reich ist Erlöser- und Schöpfungsmythos zugleich, in ihm spiegelt sich auch das wider, was Mircea Eliade als „Mythos der ewigen Wiederkehr“ bezeichnet hat. In ihm offenbart sich die „Konzeption von der zyklischen Zeit und der der periodischen Regeneration der Geschichte...“ Eliade geht davon aus, dass die Wiederbelebung der Zyklentheorie im zeitgenössischen Denken „den Wunsch verrät, für die historischen Ereignisse eine übergeschichtliche Rechtfertigung und einen außergeschichtlichen Sinn zu entdecken“. Im Mythos selbst finden diese beiden Punkte ihre Erfüllung. Dadurch, dass der Mythos heilig ist und eine heilige Geschichte erzählt, enthüllt er ein Mysterium. Ihn zu sagen heißt, ihn zur unumstößlichen Wahrheit zu machen. „Er gründet die absolute Wahrheit.“ Die Gründung der absoluten Wahrheit in Verbindung mit dem Geist, der Kultur und „der Gestaltidee des Reiches mündet also in das Religiöse ein“. Die Verbindung, die zu diesem Ergebnis führt, beginnt nach Moeller van den Bruck dort, wo er schreibt: „Ein Volk ist das Mittel zu den Zwecken Gottes auf Erden.“ Diese Formel hilft, indem sie eine Einbeziehung zu einer metaphysischen Macht vornimmt, dem Nationalen einen mystischen Hintergrund zu geben und wandelt somit alle nationalen Werte in absolute Wertsetzungen um. Damit wird dem Mythos ein Geltungsanspruch auf die Gestaltung des politischen Lebens eingeräumt. Das Reich als „Wirklichkeit des Glaubens“.
Gleichzeitig war der Mythos ein Mittel, dessen magische Leuchtkraft die armselige Wirklichkeit des bestehenden Deutschen Reiches (oder anderer staatlicher Konstruktionen) umso elender erscheinen ließ. Der Reichsmythos als Sendungsidee sucht seine Verankerung über das Staatlich-Nationale hinaus in dem zutiefst nur religiös erfassbaren Weltgefühl eines Volkes. Aus dieser mythisch-irrationalen Quelle schöpft die Sendungsidee ihre faszinierende Werbekraft und beschwört das deutsche Volk, das noch im unvollendeten Reichsmythos lebte, wieder dem Reichsgedanken zu dienen.
Immer blieb der Reichsmythos, als Gründungs- oder als Schöpfungsmythos, auf religiöser oder rein staatlicher Basis, eine Hoffnung für die Zukunft und die Möglichkeit, Kraft für die Probleme der Gegenwart zu finden. Deutlich wird dies in dem 1946 erschienenen Werk von Gertrud Bäumer: „Dieses Reich, obwohl mehr als ein Jahrtausend seit seiner Begründung vorübergegangen ist - und trotz seiner Wandlungen bis zur Unerkennbarkeit - ist dennoch der Boden, auf dem unsere Gegenwart immer noch ruht. Die Kräfte, die seine Entwicklung bewegt haben, sind in der Ewigkeit verwurzelt und daher unsterblich. So bedeutet die Beschwörung dieser unserer Vergangenheit mehr als eine geschichtliche Studie. Sie bedeutet eine neue Begegnung mit unvergangenen Kräften.“
Deutlich kommt hier (ein Jahr nach Kriegsende) der Glaube an eine mythische, fast magisch zu nennende Kraft des Reiches zum Ausdruck. Bewusst wird eine Verbindung der mythischen „unvergänglichen Kräfte“ mit der Gegenwart aufgebaut. Zumindest bis zur Gründung der Bundesrepublik existierte der Mythos eines Reiches so als eine Glück verheißende Vision kommender Zeit.
Schlussbemerkung
Kein anderer Mythos hat über einen so langen Zeitraum Einfluss auf die politische Entwicklung des deutschen Volkes, wenn nicht ganz Europas gehabt wie der des „Reiches“. Dabei bleibt es schwierig, den Gesamtmythos klar zu definieren. Von seiner Art her handelt es sich weder um einen Götter- oder einfachen Heldenmythos, noch im einen klar abgegrenzten Personenmythos, wie ihn die Mythen um Hermann den Cherusker, Napoleon, Königin Luise von Preußen oder Bismarck darstellen.
Gleichzeitig hat der Reichsmythos unter der lenkenden Hand der politisch Agierenden, die ihn für ihre Ziele nutzen wollten, seine Aussage von seiner Entstehung bis zum Ende des Nationalsozialismus völlig verändert.
Nachdem das Erste Reich von der Reformation bis zum Aufstieg Napoleons immer mehr zu einer leeren Hülle geworden war, kam es Anfang des 19. Jahrhunderts schließlich zu einer beträchtlichen Annäherung von Reichspatriotismus und verstärkt auftretendem Nationalgefühl. Die Vision des Reiches wandelt sich von einem wiederherzustellenden Zustand zu einem neu zuschaffenden Subjekt.
Bezüglich der Vision eines Dritten Reiches wurde dieser Wandel überdeutlich. Auch wenn sich Arthur Moeller van den Bruck, jener Begründer einer „wahrhaft politischen Religion“, mit seiner Vision eines Dritten Reiches nicht durchsetzen konnte und letztendlich den Nationalsozialisten mit ihrer „zusammengestoppelten“ Version eines Dritten Reiches der Durchbruch gelang, war die eigentliche Vision vom kommenden Reich immer eine Vision der Verheißung und der Erlösung.
Abschließend ist festzustellen, dass der reine Reichsmythos als politisch treibende und formende Kraft heute nicht mehr explizit zu finden ist, nicht zuletzt, weil der Begriff des „Reiches“ an sich als staatlicher Name für Deutschland durch die Nationalsozialisten geistig-politisch als diskreditiert gilt.
Als Anregung stellt sich abschließend die Frage, auch wenn diese im Rahmen der Arbeit nicht näher beantwortet werden kann, ob die aktuell vor sich gehenden europäischen Einigungsbestrebungen eventuell durch einen unterbewusst vorhandenen „Reichsmythos“ angetrieben werden. In einer Zeit zunehmender wirtschaftlicher Rezession und vermehrt ausbrechender national-ethnischer Konflikte besteht zumindest die Möglichkeit, dass eine niemals klar formulierte, Sicherheit und Einheit versprechende Vision, ein „Mythos Europa“, eine tiefer liegende Motivation für die heutige europäische Einigungspolitik darstellt. Ein derartiger Mythos, die Vision eines zusammengeschlossenen Großraumes, der Gedanke an kulturelle Vielfalt, an Ressourcen und gegenseitige geistige Befruchtung wäre tatsächlich ein Wiederaufleben des längst tot geglaubten Mythos vom übernationalen „Reich“.