Politische Theorie

 

Die Leiche im Haus

 

von Nikolaus Götz (Ernst Niekisch)

Quelle: Widerstand, Juni 1931. Geringfügig gekürzte und bereinigte Fassung.

 

1.

Es gibt wohl keinen durchschlagenderen Beweis dafür, wie sterbenskrank das kapitalistische System ist, als der saure Schweiß, den es sich kosten lässt, um die Welt davon zu überzeugen, dass es noch immer frisch und munter und sich seiner Zukunft völlig sicher sei. Es will nicht sehen, dass seine Stunde abgelaufen ist und hofft, jedermann dazu überreden zu können, ebenso blind zu sein, wie es selber ist. Es hat seine Priester: Bankmänner, Generaldirektoren, Syndizi. Kein Priester erlaubt den Zweifel an der Unsterblichkeit seines Gottes; wo der Glaube daran wankt, sind Geltung, Würde und Nahrung des Priesters gefährdet. So hören wir denn, wie die Priester des Kapitalismus immer verzweifelter ihre Heils- und Glaubenslehren predigen; sie halten an der Hoffnung fest, die Abtrünnigen wieder zurück zu gewinnen und die erschütterten Gewissen aufs Neue binden zu können. Sie wiederholen mit zornigem Eifer: Privateigentum an den Produktionsmitteln und Selbstverantwortlichkeit des individuellen Unternehmers seien in der Vergangenheit die Grundlagen der kapitalistischen Wirtschaftsauffassung gewesen und hätten sich in vollem Umfang bewährt, so dass an ihnen festzuhalten sei. Alle Kollektivtendenzen müssten abgelehnt werden. Eine neue wirtschaftliche Ideologie für die Jugend, namentlich für die akademische Jugend, sei zu schaffen, um den bis weit in das Bürgertum hinein gedrungenen antikapitalistischen Tendenzen entgegen wirken zu können.

In Russland erfüllte der Marxismus eine ganz eigenartige Mission. Hier, wo er auf eine instinktstarke organische Lebenswilligkeit traf, die auch der Härte gegen sich fähig war, erschöpfte er sich nicht darin, die sentimental-schwärmerische Begleiterscheinung eines automatisch abrollenden Entwicklungsprozesses zu sein. Indem er hier das Auge auf die Notwendigkeiten des Geschehens ausrichtete, verhalf er dem organischen Lebenswillen zu einer Selbstgewissheit, deren Fanatismus auch vor dem Ungeheuerlichen nicht zurückschreckte. In Westeuropa ist der Marxismus ein matter Schimmer, der einen ergebenen Fatalismus sanft übergießt; in Russland war er der Blitz, der die Nacht erhellte und dem lauernden Sturmtrupp die ersehnte Einsicht in die Gegend gab, die er noch brauchte, um zum ungestümen Angriff vorbrechen zu können.

So wurde Russland der besondere Typus eines nationalen Gemeinwesens im Zeitalter der Technisierung der Welt; die Türkei, China und vielleicht der ganze asiatische Kontinent überhaupt nehmen sich diesen Typus zum Vorbild.

Was aber wird Deutschland tun? Noch scheint es sich dem andern, dem westeuropäischen Typus zugekehrt zu haben, der die Wirtschaft über die Politik stellt und den Staat allmählich zur Betriebsabteilung einer großen Weltaktiengesellschaft umwandelt. Dabei darf es jedoch nicht sein Bewenden haben.

Allerdings handelt es sich keineswegs darum, dass Deutschland sich „bolschewisiere, russifiziere und asiatisiere“; notwendig ist, dass es sich dem östlichen Typus zuwende. Seine eigene Lösung, seine ihm angemessene Sonderform, seine ihm wesensgemäße Abwandlung wird es alsdann aus deutschem Lebensgrunde hervor bringen; daran ist nicht zu zweifeln.

Von der Auseinandersetzung darüber, welchem der beiden sachlich der einzig möglichen Typen Deutschland endgültig zustreben solle, dem westlichen oder dem östlichen, werden die kommenden Jahrzehnte deutscher Politik erfüllt sein.

Dass der beste Teil der deutschen Jugend von kollektiven Stimmungen berührt und vom Drang zu einem Dasein unter strenger Verantwortung beherrscht ist, das schenkt noch Hoffnung.

Die antikapitalistischen Tendenzen: das sind für diese Priester des Kapitalismus die höllischen Kräfte, die die bürgerliche Jugend in Versuchung führen und das Reich der allgütigen väterlichen Vorsehung bedrohen.

2.

Kaum traut man seinen Ohren und Augen: das kapitalistische System habe sich „bewährt“ - und in vollem Umfange noch dazu? Millionen von Arbeitslosen verkümmern mit ihren Angehörigen an Leib und Seele; allein Deutschland sind es viereinhalb Millionen. Mit Weizen werden zu gleicher Zeit Maschinen geheizt und Roggen wird für Menschen ungenießbar gemacht. Kaffee wird ins Meer versenkt, und Schaffleisch wird zu Seife verarbeitet. Zuckerrohrplantagen werden angezündet; das Volk hungert bei vollen Scheunen. Zechen liegen still und Kohlen häufen sich unanbringlich auf den Halden. Salpeterschätze bleiben ungehoben und Baumwollvorräte werden vernichtet. Die Mittelschichten verproletarisieren und der Bauer wird von der Scholle gejagt. Arbeitskräfte sind in Hülle und Fülle vorhanden; auch an Rohstoffen, an Nahrung und an Maschinen fehlt es nicht. Trotzdem wüten allerorts, wohin der Einfluss des kapitalistischen Systems reicht, Elend und Verzweiflung. Dieses System mit seiner Goldwährung, seinen Rechtsgrundsätzen, seiner Verantwortungslosigkeit, seinen Privatisierungstendenzen ist es, das die Völker in den Abgrund solchen Verderbens gestürzt hat, das sie auf Grund der in ihm wirksamen Gesetzlichkeit in solchem Verderben festhalten muss. Millionen müssen darben, müssen zugrunde gehen, damit eine dünne Schicht internationaler Beutejäger in Reichtümern schwelgen kann. Die Schätze und Nahrungsmittel bleiben für die Bedürftigen gesperrt, wenn ihr Absatz nicht genügend „rentiert“. Der Profit ist das bestimmende Prinzip des Wirtschaftsablaufs, nicht die Rücksicht auf die menschliche Notdurft; haufenweise mögen Menschen krepieren, wenn anders sich nicht Rente und Profit sicherstellen lassen.

Mit Händen ist es zu greifen, dass schlechthin das kapitalistische System der Schuldige jener allgemeinen schauerlichen Notzustände ist, die wie die Pest zurzeit die Welt durchschütteln. „Bewährt“ habe sich dieses System, kreischen seine Prediger - ohne ergriffen und zu Ehren ihres eigenen Menschen vernichtenden Gottes geschlachtet zu werden? Wahrlich endlos und unergründlich sind die Geduld und die Leidensfähigkeit der Völker!

3.

Insbesondere freilich diejenige des deutschen Volkes. Der Sturm der Inflation fegte über Deutschland hinweg: aber noch immer ehrt dieses Volk die „Heiligkeit des Privateigentums“. Seit je wurden geschwächte niedergeworfene Völker von den Siegern ausgeplündert: aber die Räuberei trug die Merkmale der Gewalttat offen auf der Stirne. Die Sinnfälligkeit ihrer Brutalität trieb das unterjochte Volk in Verzweiflungsstimmungen, in Zustände kochender Wut und glühenden Hasses; kam dann ein glücklicher Augenblick, dann explodierte das misshandelte Volk und übte gerechte Vergeltung. Das kapitalistische System sucht den Anschein nackter Gewaltsucht und Beutegier zu vermeiden; es tarnt seine Veranstaltungen der Ausplünderung, indem es sie als Maßnahmen zur Vollstreckung moralischer Grundsätze ausdeutet. Aus Tributen werden ordentliche Handelsschulden; guter Name, Ansehen, Ehrbarkeit des Geschundenen beruhen darauf, dass er sich widerstandslos die Haut abziehen lässt. Russland wagte den kühnen Schritt: es löste sich aus der kapitalistischen Weltordnung, entledigte sich auf diese Weise seiner Auslandsschulden und entkam dem Erpressertum des internationalen Finanzkapitals.

Unter den gegenwärtigen Umständen läuft die Funktion des kapitalistischen Systems darauf hinaus, mit dem Schweiß des deutschen Volkes den Not leidenden Renten aufzuhelfen. (...) Das kapitalistische System entwickelte sich zu einer raffiniert wirkenden Maschinerie, auf eine förmlich anonyme und unsichtbare Weise die Sieger mit dem Blut des deutschen Volkes zu mästen. Die Tribute gehen ins Ausland. Die Zinsen für jene Schulden folgen, die aufgenommen werden mussten, um die Tribute bezahlen zu können. Produktionszweige müssen verpfändet, dann verkauft werden. Der Schwede Kreuger beherrscht die deutsche Zündholzversorgung. Die Franzosen lauern auf das Tabakmonopol. Die Stadt Berlin verschleuderte die Bewag. Fast jedes große Industrieunternehmen ist überfremdet. Deutsches Bauernland fällt in die Hände internationaler Bodenspekulanten. Indem das kapitalistische System funktioniert, wird Deutschland zugrunde gerichtet. Man übt Verrat an Deutschland, wenn man als Deutscher das kapitalistische System stützt und seinem Fortbestande dient.

Es kommt nicht von ungefähr, dass der beste Teil der deutschen Jugend antikapitalistisch gesinnt ist.

4.

Das kapitalistische System blüht nur unter bestimmten Voraussetzungen. Große Gebiete der Erde müssen noch unerschlossen sein: man muss noch viel zu entdecken haben. Das verleiht jenen optimistischen Schwung, der fortschrittsfroh noch unbegrenzte Möglichkeiten vor sich sieht. Erst einige auserlesene Völker dürfen im Besitze der technischen Errungenschaften sein; diese Überlegenheit muss die übrigen „zurückgebliebenen“ Völker hoffnungslos in jener Fron und Dienstbarkeit festhalten: Industrieprodukte überteuert gegen Rohstoffe um Nahrungsmittel in Kauf nehmen müssen. Der Sinn der Weltwirtschaftsbeziehungen muss sich noch darin erschöpfen, dass die kolonialen Völker durch die industrialisierten Völker ausgesaugt werden, dass die letzteren die Erde unter sich verteilen und fest in der Hand zu halten versuchen.

Alle diese Voraussetzungen sind nicht mehr vorhanden. Es gibt nichts mehr zu entdecken; fast ist die Erde schon zu klein geworden. Die Kolonialvölker begannen sich der Maschinen zu bemächtigen und in die technische Rüstung hineinzuwachsen. Sie sehen in ihrem Knechtsdasein keine unumgängliche gottgewollte Abhängigkeit mehr; der Geist des Aufruhrs geht unter ihnen um. Ihr Vorsprung ist, dass sie an den Quellen aller Urprodukte sitzen und im industriellen Konkurrenzkampf die billigste und anspruchsloseste Arbeitskraft in die Waagschale zu werfen haben. Die Industrievölker verlieren die Abnehmer ihrer Erzeugnisse und ihre Nahrungs- und Rohstofflieferanten dazu.

Das kapitalistische System funktioniert nicht mehr, weil es augenscheinlich geworden ist, dass die Erde in kein Paradies verwandelt und den Menschen nicht jenes Glück bringt, das es einst verheißen hatte. Man weiß, dass jeder, der noch von Fortschritt redet, notwendigerweise entweder ein Dummkopf oder ein Betrüger sein muss. Jedermann bemerkt, wie die Herrschaft des kapitalistischen Systems auf der allgemein anerkannten Geltung des Ausbeutungsprinzips beruht; mit Ausnahme der Abendländer deutscher Nation gibt es aber nirgends mehr Opfer, die diesem Prinzip ihre eigene Zustimmung erteilen - sonst haben sie ihm insgesamt den Kampf angesagt. Die Atmosphäre hat sich gewandelt, das Klima, das nunmehr in der Welt herrscht, ist dem kapitalistischen System nicht mehr recht günstig - es lässt die Nebelschwadenbildungen nicht mehr zu, die das System braucht, um seinen zynisch-verworfenen Wesenskern den Augen der breiten Bevölkerungsschichten zu entziehen.

5.

Es gibt eine internationale Rettungsgesellschaft zur Erhaltung des kapitalistischen Systems: es ist der Rotaryklub - der, wie könnte es anders sein - in Amerika aus der Retorte gehoben wurde, und - wiederum, wie könnte, es anders sein - in Deutschland hingebungsvolle Geschöpfe fand. Die maßgebenden „Geschäftsleute“ gehören ihm an; der Klub ist eine Art Freimaurerei jener modernen Raubritter, die sich schmeicheln, „Aristokraten“ - Wirtschaftsaristokraten zu sein, weil sie sich in besonderem Maße darauf verstehen, Geld zu machen. Wie die Lefzen des Wolfes aus der Fabel triefen auch die ihrigen von Beteuerungen ihrer sauberen „Geschäftsmoral“. Der deutsche Oberrotarier ist der Reichsbankpräsident Luther - glücklicherweise weiß am Ende doch immer wieder jeder selbst, in welche Gesellschaft er gehört. Der „Herrenklub“ rotiert mit: es gibt preußischen Adel, der so korrumpiert ist, dass er Geldscheffler und Ölspekulanten bereits als seinesgleichen empfindet. Der deutsche Rotaryklub hat seinen Generalsekretär, einen Mann mit „Ring“ und „Gewissen“ (Anmerkung: gemeint ist anscheinend der jungkonservative Publizist Heinrich von Gleichen); ihm obliegt es, auf die entscheidenden Schnittpunkte des öffentlichen Einflusses ergebene Kreaturen zu stellen - wie weiland Wilhelm I. auch den rechten Mann auf diesen Platz brachte. Schriftsteller, die bereit sind, an der Restauration des Leumunds des kapitalistischen Systems zu arbeiten, werden mit öffentlichem hohe Auflagen garantierenden Zuruf ermuntert; „Außenseiter“ werden in die Netze einer Verschwörung des Schweigens verstrickt, bis sie entweder kuschen oder krepieren. Der führende Moniteur dieser Rettungsgesellschaft in Deutschland ist die „Deutsche Allgemeine Zeitung“; sie strengt sich tapfer an, die Führung dabei zu behaupten. Mit Hochdruck wird bereits an der Erschaffung einer neuen wirtschaftskapitalistischen Ideologie gearbeitet; es gibt noch Geld, wenn es darauf ankommt, sich mit Prätorianergarden zu versorgen: mancher Dussel kann dabei seine Karriere machen. Die stolzesten Grundsätze manches Parteiführers kommen ins Wanken, wenn man ihm die Schätze zeigt, die zu haben sind; auch wer als sozialer Revolutionär begann, kann als kümmerlicher Pinkertonführer enden: schon viele Dinge hat Rotary gedreht.

6.

Das antikapitalistische Gefühl unserer Jugend ist gesund: sie riecht die Verwesung und ahnt das Untergangsschicksal, das das kapitalistische System über Deutschland heraufbeschwört. Auf der Seite des Kapitalismus steht in Deutschland heute nur noch, was karrieresüchtig, was unterwertig, was moralisch angefault oder - bestenfalls - verkalkt ist. Wo ein Prophet des Kapitalismus auftaucht, tut man gut, auf der Hut zu sein; man kommt in verderbte Gesellschaft. Wo für den Kapitalismus noch plädiert wird, da stinkt´s, da hat man keine Gesinnung, sondern nur die Kunst des Advokaten: für eine hohe Subvention oder ein gutes Honorar ist man zu allem zu haben und zu brauchen.

Kein freiheitswilliger Deutscher kann heute noch aus echter Überzeugung kapitalistisch sein. Daher wirken in Deutschland alle kapitalistischen „Anschauungen“ nicht mehr rosig frisch „wie das Leben selbst“, sondern wie künstliche Schminke auf den Wangen der Dirne - irgendwann spürt man, dass hier jemand ausgehalten wird und jederzeit zu Willen zu sein hat. Ein junger Mann etwa in der Deutschen Volkspartei oder in den Redaktionen einiger Zeitungen ist heute in der Tat nur noch ein „junger Mann“. Er hat keine Meinung, sondern nur einen Auftrag.

Es ist Schulmeisterwitz, der Hoffnung nachzuhängen, die Jugend wieder zu kapitalistischer Gesinnung „aufklären“ zu können. Die Jugend empfindet die Schmach, deutsche Arbeitskraft gegen Devisen verschachern zu wollen und auch die Unmöglichkeit, das Tributjoch abzuwerfen, ohne gleichzeitig das ganze kapitalistische System mit seiner Eigentumsverordnung, seinem Schuldrecht, seinem Zwinszwang in Stücke zu schlagen. Sie durchschaut den krassen Materialismus der kapitalistischen Verteidigung und ist von Ekel darüber gepackt, wie widerwärtig sich diese mit den Pfauenfedern des Idealismus schmückt. Sie ahnt, dass diese Verteidigung nicht mehr durch die Kraft ihrer Argumente, sondern nur noch durch die Höhe ihrer Bestechungsgelder überwältigt. Es lässt sich wohl nicht verhindern, dass sich mancher bestechen lässt - diese Erfahrung ist indes weit davon entfernt, für den Kapitalismus zu werben: sie verstärkt lediglich das Misstrauen gegen ihn. So weit die Jugend reinen Herzens ist, vernimmt sie heute hinter dem Klang der Goldstücke auch zugleich das Klappern der Zähne.

Der Kapitalismus ist wirklich nicht mehr zu retten: wo Bankiers führen, verweigert die deutsche Jugend glücklicherweise die Gefolgschaft.

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