Politische
Theorie
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René Guénon:
Die Krisis der Neuzeit (1927)
Als wir vor einigen Jahren »Morgenland und Abendland« schrieben, glaubten wir über die Dinge, die den Gegenstand jenes Buches bilden, fürs erste wenigstens alles Nützliche gesagt zu haben.
Seitdem sind die Ereignisse mit immer wachsender Geschwindigkeit dahingeeilt. Ohne dass wir im übrigen durch sie veranlasst würden, auch nur ein Wort an dem damals Gesagten zu ändern, nötigen sie doch dazu, manches zu ergänzen, und führen uns zur Darlegung von Gesichtspunkten, bei denen zu verweilen wir zunächst nicht für erforderlich gehalten hatten. Solche genaueren Fassungen sind umso dringender geboten, als gerade in jüngster Zeit, wie zu beobachten, etliche von den Irrtümern, die zu zerstreuen wir uns angelegen sein ließen, sich erneut festgesetzt haben, und zwar in recht herausfordernder Weise.
Wenn wir uns
auch sorgsam jeder Teilnahme an polemischen Auseinandersetzungen enthalten, so
haben wir es doch für gut befunden, die Dinge abermals mit Schärfe
zu zeichnen. Es gibt in diesem Zusammenhange Betrachtungen, die, seien sie noch
so einfach, dennoch der ungeheuren Mehrzahl der Zeitgenossen dermaßen fremdartig
erscheinen, dass, wenn sie ihnen begreiflich werden sollen, man nicht müde
werden darf, immer wieder darauf zurückzukommen, indem man ihre verschiedenen
Seiten aufzeigt und je nach den Umständen alles das ausführlicher erläutert,
was möglicherweise Veranlassung zu nicht immer vorauszusehenden Schwierigkeiten
gibt.
Schon die Überschrift des vorliegenden Buches verlangt vorweg einige Erklärungen, damit klar sei, was wir damit meinen und kein Doppelsinn ihr anhafte. Dass man von einer Krisis der Neuzeit sprechen darf, wenn man das Wort »Krisis« in seiner gewöhnlichen Bedeutung nimmt, ist eine Sache, die viele schon nicht mehr in Zweifel ziehen; in dieser Hinsicht wenigstens hat sich eine immerhin merkliche Wandlung vollzogen: unter der Wirkung der Ereignisse selber beginnen manche Täuschungen sich zu zerstreuen, was wir selbst nur begrüßen können; denn dies ist trotz allem ein leidlich günstiges Anzeichen für eine Möglichkeit, die zeitgenössische Geisteshaltung wieder umzurichten, ein schwaches Aufleuchten gleichsam inmitten der chaotischen Gegenwart.
So findet der Glaube an einen unbegrenzten »Fortschritt«, der vor kurzem noch als eine Art unantastbaren und jeder Erörterung entzogenen Dogmas gegolten hatte, nicht mehr so allgemeine Anerkennung; manche sind von der mehr oder weniger unbestimmten, mehr oder weniger verworrenen Ahnung erfüllt, die abendländische Kultur könne wohl, anstatt sich im selben Sinne fortgesetzt weiterzuentwickeln, eines Tages an einen Halt kommen oder gar in einer Weltkatastrophe völlig untergehen. Vielleicht sehen jene nicht deutlich, wo die Gefahr liegt; die phantastischen oder kindischen Befürchtungen, die sie mitunter bekunden, beweisen zur Genüge, dass in ihrem Denken noch sehr viel Irrtümliches fortbesteht; aber schließlich ist es schon von Wert, wenn sie sich darüber Rechenschaft geben, dass überhaupt eine Gefahr droht, mögen sie sie auch mehr fühlen als richtig begreifen, und wenn sie zu der Auffassung gelangen, dass diese Kultur, in die der Mensch von heute so vernarrt ist, keinen bevorzugten Platz in der Weltgeschichte einnimmt, dass ihr das gleiche Schicksal beschieden sein kann wie so vielen andern, die in mehr oder weniger fernen Zeitläufen bereits verschwanden und von denen manche nur unbedeutende, ja kaum wahrnehmbare oder schwer wieder zu erkennende Spuren hinterlassen haben.
Wenn also gesagt wird, die Neuzeit mache eine Krise durch, so will dies heißen, sie sei in einen kritischen Zustand geraten, mit anderen Worten, eine mehr oder weniger tief greifende Wandlung stehe bevor, ein Richtungswechsel werde sich binnen kurzem unausweichlich vollziehen müssen, freiwillig oder zwangsläufig, mehr oder weniger plötzlich, in Gestalt einer Katastrophe oder ohne einer solchen.
Diese Deutung ist durchaus richtig, entspricht auch zum Teil unserer eigenen Ansicht, aber eben nur teilweise; denn uns, die wir einen allgemeineren Standpunkt einnehmen wollen, stellt sich die ganze neuere Zeit insgesamt als eine Zeit der Krisis für die Welt dar. Es sieht dabei im übrigen so aus, als ob wir uns dem Ausgang näherten; das aber macht den regelwidrigen Zustand der Dinge heute fühlbarer denn je, ein Zustand, der schon etliche Jahrhunderte andauert, dessen Folgen jedoch noch nie so sichtbar gewesen sind wie jetzt. Darum rollen auch die Ereignisse mit jener Beschleunigung ab, deren wir anfangs gedachten; dies kann wohl noch einige Zeit so fortgehen, aber keineswegs unbegrenzt; man hat vielmehr den Eindruck, dass es sehr lange nicht mehr dauern kann, wenn man auch nicht in der Lage ist, ein Ende mit Genauigkeit festzusetzen.
Im Worte »Krisis« selbst jedoch sind andere Bedeutungen enthalten, die es noch geeigneter machen, auszudrücken, was wir sagen wollen: Seine wörtliche Abstammung nämlich, die man im täglichen Gebrauche oft aus den Augen verliert, auf die man aber geratener weise stets zurückgeht, wenn man einem Ausdrucke die Fülle seines Eigen-Sinnes und seines ursprünglichen Wertes wiedergeben will - seine Abstammung also gibt ihm teilweise gleiche Bedeutung mit »Gericht« und mit »Scheidung«.
Die Phase, die innerhalb einer Ordnung von Dingen wirklich »kritisch« genannt werden darf, ist jene, welche unmittelbar auf eine günstige oder ungünstige Lösung hinzielt, in der eine Entscheidung in dem einen oder anderen Sinne aufkommt, wobei sich in der Folge die Möglichkeit ergibt, ein Urteil über das Erreichte zu fällen, die Ergebnisse gewissermaßen in »positive« und »negative« einzuteilen und derart das »Für« gegen das »Wider« abzuwägen, somit aber festzustellen, nach welcher Seite die Waage sich endgültig neigt.
Wir maßen uns natürlich keineswegs an, eine solche Scheidung in aller Form und Vollständigkeit vorzunehmen, was auch übrigens verfrüht wäre, denn die Krisis ist noch nicht entschieden, und es ist vielleicht gar nicht möglich, genau anzugeben, wann und auf welche Weise sie es sein wird; abgesehen davon, ist es stets vorzuziehen, sich der Voraussagen zu enthalten, die nicht in allerseits klar verständlichen Gründen ihre Stütze finden, infolgedessen zu sehr der Gefahr unterliegen, missdeutet zu werden und die Verwirrung zu vermehren, statt ihr zu steuern.
Was wir nur immer tun können, ist daher: bis zu einem gewissen Punkte, soweit die uns verfügbaren Mittel es erlauben, mitzuhelfen, dass das Bewusstsein von einigen schon heute als gesichert erscheinenden Ergebnissen den hierfür Aufnahmefähigen zuteil wird und dass auf diese Weise, wäre es auch nur sehr lückenhaft und auf Umwegen, die Grundlagen bereitet werden, die einmal im Dienste des kommenden »Gerichts« stehen sollen als der Pforte zu einem neuen Zeitalter in der Geschichte der irdischen Menschheit.
Einige der soeben verwendeten Ausdrücke werden wohl in manchen Köpfen den Gedanken an das so genannte »Jüngste Gericht« hervorrufen, offen gesagt, nicht mit Unrecht; ob man es übrigens buchstäblich oder sinnbildlich verstehe oder, da das eine in Wirklichkeit das andere keineswegs ausschließt, auf zwiefache Weise zugleich, macht hier wenig aus; auch sind weder Ort noch Zeit die gegebenen, uns über diesen Punkt ausführlich zu verbreiten.
Jedenfalls kann dieses Abwägen des »Für« und »Wider«, diese Scheidung der gewonnenen von den verlorenen Ergebnissen, von der wir soeben sprachen, durchaus den Gedanken an die Aufteilung in »Auserwählte« und »Verdammte« als in zwei hinfort unabänderlich festliegende Gruppen aufkommen lassen; wenn auch hier nur eine Entsprechung vorliegt, so muss man doch zugeben, dass es immerhin eine der Natur der Dinge selbst gemäße, daher annehmbare und wohlbegründete ist; doch erfordert dies noch einige Erläuterungen.
Sicher nicht zufällig werden heute so viele Köpfe vom Gedanken an das »Ende der Welt« heimgesucht; man mag in mancher Hinsicht beklagen, denn die Überspanntheiten, zu denen dieser falsch verstandene Gedanke Anlass gibt, die in der Folge in gewissen Kreisen auftretenden »messianischen« Abschweifungen, alle diese aus der geistigen Gleichgewichtsstörung unserer Zeit hervorgegangenen Bekundungen steigern nur noch eben diese Störung in einem durchaus nicht zu übersehenden Maße. Doch schließlich lässt es sich nicht leugnen, dass hier ein Tatbestand vorliegt, über den man sich nicht einfach hinwegsetzen darf.
Sicherlich ist es bei dergleichen Feststellungen das Bequemste, die Dinge kurzweg und ohne weitere Prüfung beiseite zu schieben, sie als Verwirrungen oder belanglose Hirngespinste zu behandeln; wir meinen indes, auch wenn wirklich Irrungen vorliegen und man sie als solche aufdeckt, sei es doch besser, den Gründen nachzugehen, die sie hervorriefen, und den mehr oder weniger verzerrten Wahrheitsanteil zu suchen, der trotz alledem in ihnen enthalten sein kann; denn da dem Irrtum überhaupt nur ein Dasein der bloßen Verneinung zukommt, kann lauter Irrtum sich nirgends finden und ist nur ein Wort ohne Sinn.
Wenn man die Dinge auf solche Weise betrachtet, merkt man leicht, dass jene Besorgnis über das »Ende der Welt« eng verbunden ist mit dem Zustande allgemeinen Missbehagens, in dem wir gegenwärtig leben: das dunkle Vorgefühl, dass etwas tatsächlich seinem Ende nahe ist, lässt bisweilen der Einbildung die Zügel schießen und erzeugt dabei naturgemäß wirre und zumeist grob stoffliche Vorstellungen, die sich wiederum in die vorhin erwähnten Überspanntheiten nach außen hin umsetzen. Diese sollen im übrigen durch die gegebene Erklärung nicht etwa entschuldigt werden; oder wenn man schon wenigstens denen, die, ohne es zu wollen, dem Irrtum verfallen, zugute halten darf, dass ein geistiger Zustand, der nicht zu ihren Lasten geht, sie dafür empfänglich machte, so kann das niemals ein Grund sein, den Irrtum selbst zu entschuldigen.
Was indes uns angeht, so wird man uns gewiss nicht vorwerfen können, dass wir die »Schein-Religionen« der Gegenwart wie auch all die modernen Irrungen insgemein mit übertriebener Nachsicht behandelt hätten; wir wissen sogar, dass manche uns eher den entgegen gesetzten Vorwurf machen möchten. Vielleicht wird ihnen das hier Gesagte ein besseres Verständnis verschaffen dafür, wie wir die Dinge ansehen mit dem Bemühen, stets den einzigen für uns gültigen Standpunkt einzunehmen: den der unparteiischen und uneigennützigen Wahrheit.
Das ist nicht alles: eine bloß »psychologische« Erläuterung des Gedankens an das »Ende der Welt« und seiner gegenwärtigen Kundgebungen, wie begründet sie auf ihre Weise auch sei, kann in unsern Augen nicht als voll ausreichend gelten; dabei stehen bleiben, hieße sich dem Einflusse einer jener modernen Täuschungen überlassen, gegen die wir uns gerade bei jeder Gelegenheit erheben. Etliche, so sagten wir, haben das verworrene Gefühl, dass etwas, dessen Natur und Tragweite sie nicht genau ermessen können, bald zu Ende gehe.
Man muss zugeben, dass hier eine durchaus zutreffende Wahrnehmung gemacht wird, wiewohl sie unbestimmt bleibt und falschen Deutungen oder Verzerrungen durch die Einbildungskraft ausgesetzt ist; denn welcher Art dieses Ende auch sein möge, die Krisis, die notgedrungen auf ein solches hinzielt, tritt deutlich genug in Erscheinung, und zahlreiche unzweideutige und leicht feststellbare Zeichen führen alle einstimmig zum gleichen Schlusse.
Dieses Ende
ist wohl nicht das »Ende der Welt« in dem umfassenden Sinne, in dem
es manche auffassen wollen, aber es ist zum mindesten das Ende einer Welt; und
wenn es sich bei dem, was zu Ende gehen soll, um die abendländische Kultur
in ihrer gegenwärtigen Gestalt handelt, so kann man verstehen, dass alle,
die gewohnt sind, außer ihr nichts anderes zu kennen, sie als die »Kultur«
schlechthin zu betrachten, leicht dem Glauben verfallen, dass mit ihr alles zu
Ende sein und ihr
Verschwinden in Wahrheit das »Ende der Welt« bedeuten wird.
Wir sind also, um die Dinge wieder auf ihr richtiges Maß zurückzuführen, der Ansicht, dass es allerdings so aussieht, als ob wir uns wirklich dem Ende einer Welt näherten, nämlich dem Abschlusse eines Zeitalters oder eines geschichtlichen Zeitkreises, der übrigens nach dem, was hierzu sämtliche Überlieferungen lehren, einem kosmischen Kreislauf entsprechen kann. Dergleichen Vorgänge haben sich schon zu vielen Malen in der Vergangenheit abgespielt, andere dieser Art werden sich wohl noch in Zukunft vollziehen; Vorgänge freilich von ungleichem Gewicht, je nachdem sie mehr oder weniger ausgedehnte Zeitspannen abschließen und die irdische Menschheit insgesamt oder bloß den einen oder anderen Teil, eine Rasse oder ein bestimmtes Volk angehen. Im gegenwärtigen Weltstande ist zu vermuten, dass die kommende Wandlung eine sehr allgemeine Bedeutung haben und mehr oder weniger den ganzen Erdkreis in Mitleidenschaft ziehen wird - gleichviel welche Form sie einmal annimmt und die zu bestimmen wir nicht versuchen wollen.
Jedenfalls sind die leitenden Gesetze solcher Vorgänge entsprechend auf alle Abstufungen anwendbar; was vom »Weltende« - in dessen umfassendsten Sinne - gilt, und was sich übrigens für gewöhnlich nur auf die Erdenwelt bezieht, bleibt daher in gegebenem Verhältnis auch dann richtig, wenn es sich bloß um das Ende einer in viel eingeschränkterem Sinne zu verstehenden Welt handelt.
Diese einleitenden Bemerkungen werden das Verständnis für die folgenden Betrachtungen sehr unterstützen. In andern Schriften hatten wir schon des Öfteren Veranlassung, auf die Gesetze der kosmischen Kreisläufe anzuspielen; übrigens könnte es vielleicht Schwierigkeiten machen, in einer für abendländisches Denken leicht zugänglichen Form diese Gesetze vollständig darzulegen; doch ist zum mindesten vonnöten, über den Gegenstand einigermaßen Bescheid zu wissen, wenn man sich ein zutreffendes Bild vom gegenwärtigen Zeitabschnitt und von dem machen will, was er genau genommen im Ganzen der Weltgeschichte darstellt.
Darum werden wir zu Beginn zeigen, dass dieser Abschnitt allerdings tatsächlich die Kennzeichen aufweist, welche die Lehren der Überlieferung zu allen Zeiten für die ihm entsprechende Teilspanne eines Kreislaufes angegeben haben; wir werden aber auch zeigen, dass das, was von einem gewissen Standpunkte aus als Regelwidrigkeit und Unordnung gilt, gleichwohl notwendiger Bestandteil einer umfassenderen Ordnung ist, eine unvermeidliche Folge der Gesetze, welche die Entfaltung jedweder Kundgebung beherrschen.
Indes, sagen wir es sogleich, besteht hier kein Grund, in untätigem Erdulden sich zu bescheiden, wenn Verwirrung und Dunkelheit im Augenblicke anscheinend Sieger sind; wenn dem so wäre, hätten wir nur zu schweigen. Im Gegenteil, es ist ein Grund, mit aller erdenklichen Anstrengung den Heraustritt aus diesem »düsteren Zeitalter« vorzubereiten, dessen mehr oder weniger nahes, wenn nicht ganz dicht bevorstehendes Ende schon zahlreiche Anzeichen ahnen lassen. Auch das ist in Ordnung, denn Gleichgewicht ergibt sich aus gleichzeitigem Wirken zweier gegeneinander gerichteter Antriebe; wenn dem einen von beiden gegeben wäre, gänzlich zu versagen, würde Gleichgewicht sich nie wieder einstellen und die Welt selbst verlöschen.
Doch diese Annahme scheidet aus, denn von den beiden Gliedern eines Gegensatzes ist jedes nur durch das andere sinnvoll, und, wie es dem Anscheine nach sich auch verhalte, man darf die Gewissheit haben, dass alle teilweisen und vorübergehenden Gleichgewichtsstörungen am Ende doch zur Verwirklichung des Gesamtgleichgewichtes beitragen.