Politische
Theorie
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Vorbemerkung: Nachstehender Aufsatz erschien im November 1932 in der
Zeitschrift „Widerstand“. Unserem Erachten nach haben die Zeilen
Niekischs auch heute Geltung, man braucht lediglich die geschilderte Situation
in die Gegenwart zu projizieren. Wie damals die Politische Klasse der Weimarer
Republik eine faktische Allianz mit den Versailler Siegermächten einging,
so ging nach dem Zweiten Weltkrieg die Politische Klasse der Bundesrepublik
eine Symbiose mit dem westlichen Imperialismus und Globalisierungskapitalismus
ein. Zur näheren Definition von Klassenkampf sei noch angemerkt, dass wir
unter Proletariat die Gesamtheit der Lohnarbeitenden verstehen. Auch die postindustrielle
Dienstleistungs- und Kommunikationsgesellschaft basiert - ebenso wie die
Industriegesellschaft - auf den Grundsätzen des Privateigentums an Produktionsmitteln
und der Lohnarbeit; also ebenfalls auf kapitalistischer Ausbeutung und Klassenkampf
von oben.
Richard Schapke, im Juni 2004
1.
Der Unterschied der Klassen und der Gegensatz, der aus sachlichen Gründen zwischen ihnen besteht, ist eine Gegebenheit, die unvermeidlich auf den Besonderheiten der menschlichen Natur, ferner den Voraussetzungen der menschlichen Gesellschaft und ihrer Gliederung beruht. In den Zeiten der „organischen Gesellschaft“ verbarg sich der Klassengegensatz hinter den Spannungen, die zwischen den verschiedenen Ständen niemals erloschen. Reich und arm, hoch und niedrig, mächtig und schwach, Herr und Knecht, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, aber auch Edelmann und Bürger sind keinesfalls nur Polaritäten innerhalb eines harmonischen Ganzen, die sich gegenseitig ergänzen; sie bezeichnen Sprengkräfte, die das gesellschaftliche Gefüge zu bändigen hat, gegen die es sich unausgesetzt zur Wehr setzen muss.
Wenn sich das Gefühl des Klassengegensatzes zu der Entschlossenheit steigert, ihn durchzufechten, dann wandelt sich der Klassengegensatz zum Klassenkampf. Der Klassengegensatz ist eine vorhandene Tatsache, die jenseits des menschlichen Willens liegt; der Klassenkampf ist eine bewusste Zuspitzung des Gegensatzes, die erst der menschliche Wille hervorbringt. Den Klassengegensatz findet man vor, den Klassenkampf organisiert man. Der Klassengegensatz ist ein Zustand, der Klassenkampf eine Mobilmachung. Klassengegensatz ist Schicksal, Klassenkampf Aufstand gegen das Schicksal.
Die Klassenschichtung ist vertikal; sie geht von unten nach oben. Unten trägt man Lasten; der Druck des Ganzen ruht darauf. Je weiter man nach oben steigt, desto „unbeschwerter“ ist man, desto freier vermag man sich zu bewegen, desto höher kann man Kopf und Schultern strecken. Der Blick von unten nach oben ist wesentlich anders als derjenige von oben nach unten. Unten gibt es nichts, was für den, der oben steht, beneidenswert wäre. Wer oben ist, hat keinen Anlass, auf den unter ihm „neidisch“ zu sein; er genießt seine Höhe, seine „Erhabenheit“, sooft sein Auge nach unten fällt. Das Oben hingegen, das von unten her betrachtet wird, erscheint als das bessere, das glücklichere Los. Man ist ausgeschlossen davon, indem man unten ist: also leidet und neidet man.
So ist es begreiflich, dass sich der Wille zum Klassenkampf immer unten entzündet. Wer oben ist, findet den Bestand der Weltordnung daran geknüpft, dass er seinen erhöhten Platz nicht verliert; wer bevorzugt ist, glaubt stets, es auch mit Recht zu sein. Er steht im Rahmen des Klassengegensatzes auf der Lichtseite; da entwickelt sich kein Antrieb, kämpferisch die Stellungen der Schattenseite zu erobern. Der Klassenkampf zielt auf das Vorrecht, oben zu sein; wer oben ist, läuft Gefahr, nach unten gestürzt zu werden, sobald der Klassenkampf entbrannt ist. So haben alle, die obenan sind, gute Gründe, den Klassenkampf als Frevel und Verruchtheit zu brandmarken. Oben ist es gut sein; damit man sich dort sicher fühle, ist es nötig, dass die von unten sich mit der gleichen Zufriedenheit in ihren Tiefen heimisch machen. Klassenkampf ist bereits Erdbeben; der Boden, auf dem man sich eingerichtet hat, schwankt. Der Klassenkampf wird als Weltübel verfemt: darin ist man sich oben allgemein einig. Wenn man ebenso allgemein unten beistimmte, wäre der Klassenkampf aus der Welt geschafft; wer oben ist, bräuchte nie zu fürchten, je nach unten gerissen zu werden. Aber man stimmt unten nicht allgemein bei. Es lockt, nach oben zu drängen; die, welche nichts zu verlieren haben als ihre Ketten, machen immer wieder den Versuch, alles zu gewinnen. So kommt der Lärm des Klassenkampfes niemals zum Schweigen.
2.
Der Marxismus behauptet, die treibende Kraft der Geschichte sei der Klassenkampf; die Geschichte sei „nichts als die Geschichte der Klassenkämpfe“. Er selbst ist das geschichtlich umfassendste Unternehmen, das Klassenbewusstsein der unteren Schichten im Weltmaßstabe zu schärfen und es mit dem Fanatismus des Klassenkampfwillens zu durchtränken. Seine Geschichtsdeutung ist eines der Mittel, den Klassenkampfwillen anzuspornen: er erklärt Geschichte so, wie er Geschichte machen möchte.
Seit siebzig Jahren wird der deutsche Arbeiter zum Klassenbewusstsein erzogen, wird er für den Klassenkampf einexerziert. Es gibt in der ganzen Welt keinen Arbeiter, dessen Klassenkampfbewusstsein geschulter, dessen Klassenkampfwille gedrillter wäre. Trotzdem hat der deutsche Arbeiter bis zu diesem Tage noch nicht die Revolution der proletarischen Klasse gewagt. 1918 war ein bloßer Zusammenbruch: die Koalitionspolitik aber danach war nicht Klassenkampf, sondern Lakaiendienst für die bürgerliche Ordnung, wie nicht nur die Fußtritte beweisen, mit denen gegenwärtig die schmachvolle Selbstentäußerung des Arbeiters quittiert wird. Der proletarische Klassenkampfgedanke entfaltete bis zu diesem Tage in Deutschland keine geschichtsbildende Kraft.
3.
Klassenkampf war der Aufstand des französischen Bürgertums gegen die feudale Gesellschaftsordnung im Jahre 1789 gewesen. Unter den Nachfolgern Ludwigs XIV. war die große Weltstellung Frankreichs Stück für Stück abgesunken. Frankreich verlor sein amerikanisches Weltreich. Es wurde in Europa von Preußen und Österreich überflügelt. Die Staatsverschuldung lähmte die außenpolitische Bewegungsfähigkeit. Die herrschende feudale Schicht vergeudete ein glanzvolles geschichtliches Erbe; sie war auf dem Wege, Frankreich in den völligen Ruin zu treiben. Sie war eine schlechte Sachwalterin der nationalen Lebensnotwendigkeiten geworden.
Gab es einen besseren Sachwalter dieser Lebensnotwendigkeiten? Das Bürgertum nahm in Anspruch, es zu sein. Die Emigranten, die von Koblenz aus landesverräterischerweise das Ausland gegen Frankreich hetzten, bestätigten nachträglich diesen Anspruch.
Das Bürgertum verjagte den Adel aus Klassenkampfinstinkten. Aber er hatte aus nationalpolitischen Gründen verdient, verjagt zu werden. Die Umwälzung war weitaus mehr als ein soziales Ereignis: der Klassenkampfgedanke verschmolz hier mit einem glühenden nationalen Pathos. Der französische Bürger rettete sein Vaterland vor dem rückständigen Europa, indem er seinen König und seinen Adel köpfte. Der Umsturz der Gesellschaftsordnung brachte ihm reichen sozialen Gewinn. Aber dieser Umsturz hatte doch im Ganzen eine nationale Funktion erfüllt. Der bürgerliche Klassenkampf war die Form, in der sich unter den gegebenen Umständen der nationale Selbstbehauptungskampf Frankreichs allein erfolgreich vollziehen konnte. Der Klassenkampf war ein Mittel des nationalen Kampfes. Der nationale Kampf, nicht der Klassenkampf, gab dem Geschehen seinen letzten Sinn. Der Klassengegensatz wurde zum Klassenkampf erhitzt, damit er eine politische Triebkraft werde und eine nationale Notwendigkeit erfülle. Das französische Bürgertum wurde zur herrschenden Schicht, weil sein Klassenkampf sich der Gesetzlichkeit des politischen und nationalen Daseins Frankreichs unterworfen hatte. In den Klassenkämpfen der französischen Revolution erschöpft sich nicht ihr eigentlicher Inhalt. Weil das französische Bürgertum Frankreichs nationale und politische Machtstellung neu begründete, fiel ihm auch die soziale Führung zu: es blieb Sieger im Klassenkampf, weil es den nationalen Kampf siegreich zu Ende geführt hatte.
Wie der französische Bürger Frankreich vor dem Absturz in die politische Ohnmacht bewahrte, so rettete der russische Arbeiter Russland vor dem Verhängnis der Zerreißung und Kolonialisierung. Die russische feudale und bürgerliche Oberschicht hatte sich mit den Landesfeinden verschworen; sie hätte die nationale Unabhängigkeit preisgegeben, wenn ihr Sicherheiten für die Aufrechterhaltung ihrer bevorrechteten Klassenlage geboten worden wären. So wurde einfach das Dasein der oberen Klassen zu einer Gefährdung Russlands; wollte Russland unabhängig und in außenpolitischer Freiheit fortbestehen, mussten jene Klassen vernichtet werden. Sie waren Agenten und Verbündete der westlichen Mächte; die Verteidigung ihrer Klassenvorrechte war Landesverrat. Demgemäß wurde ihnen das Schicksal der Landesverräter zuteil. Das ewige Russland war bei den Partisanengruppen, war bei den Regimentern der revolutionären Arbeiter; sein berufener Treuhänder war über Nacht Lenin geworden. Der Klassenkampfgedanke hätte keine Zündkraft gehabt, wenn er nicht mit dem Dynamit der nationalen Sendung geladen worden wäre. Der Klassenkampfgedanke war bisher gewiss als Wirklichkeit vorhanden; aber er war stumpf und ohne Schwung; er hatte nur im Gebälk geschwelt. Er wurde zur aufschießenden, das Faule verzehrenden und die unzerstörbare Substanz läuternden Feuersäule in dem Augenblick, in dem er jenen nationalen Auftrag übernahm, für den die Stunde höchster russischer Not ein gehorsames und opferbereites Werkzeug suchte. Auch die russische Revolution war eine nationale Revolution. Der klassenkämpferische Wille des russischen Arbeiters hatte seine politische Funktion: er war die soldatische Moral, die den Arbeiter sogleich in Marsch setzte, als man ihn rief, Weltgeschichte zu machen.
4.
Es ist das Besondre der deutschen klassenbewussten Arbeiterschaft, dass sie der Begegnung mit dem nationalen Pathos beharrlich auswich; das trifft auf Sozialdemokraten ebenso zu wie auf Kommunisten. Sie versteift sich auf ihren Klassenkampfegoismus; der breitere nationale Horizont schreckt sie. Seit 1918 erlebt sie, dass das Klassenbewusstsein, das sich dogmatisch streng auf sich selbst beschränkt, politisch völlig ertraglos ist. In ihm selbst liegt kein politisches Gewicht; wehrt es sich dagegen, Hebel zu sein, um nationale Dinge einzurenken, dann ist es außerstande, in den Ablauf des Geschehens als wirkende Kraft einzugreifen. Sozialdemokratie wie Kommunistische Partei sind unlebendige Gebilde; ihnen mangeln die Ausstrahlungen, um Deutschlands politischen Raum damit zu durchdringen. Der sozialdemokratisch gefärbte Klassenkampf wurde zur hohlen Phrase; er erschütterte das deutsche Bürgertum nicht, und soweit er sich bemühte, sich in Politik umzusetzen, wurde er ein Element der Begünstigung der französischen Außenpolitik. Der kommunistisch gefärbte Klassenkampf dagegen verzettelte sich in sinnlosem Radau. Er bemühte sich, ein Ausläufer der Weltrevolution zu sein; da er aber auf deutschem Boden nicht wohl ein Instrument der fanatischen Glut des russischen Nationalismus zu sein vermochte, blieb er eine sehr leere, unschöpferische Angelegenheit.
Der bürgerliche Charakter der Versailler Ordnung ist geradezu eine Herausforderung des deutschen Arbeiters, seinem Klassenkampfwillen deutschen Freiheitswillen einzuschmelzen. Die Sozialdemokratie verharrt vor dieser Herausforderung in träger Stummheit. Der deutsche Kommunismus fühlt sich durch diese Herausforderung gelegentlich schon gereizt; das äußerste aber, was er wagte, war: mit dem deutschen Freiheitswillen taktisch zu tändeln. Auch das ist wieder vorüber; inzwischen zog er sich auf seinen ebenso reinen wie toten Klassenegoismus zurück.
Dass der Klassenkampfwille des deutschen Arbeiters sich dem nationalen Pathos unzugänglich erweist, sichert zuverlässiger als alles andere die soziale Machtstellung des deutschen Bürgertums, begünstigt die Restauration und fördert den Faschismus. Die deutsche Oberschicht steckt mit den ausländischen Feinden unter einer Decke; sie paktiert mit Versailles wie die russische Oberschicht mit Frankreich, England, Japan und Amerika hatte paktieren wollen. Sie verschiebt ihr Kapital ins Ausland; sie liefert auf dem Wege internationaler Vertrustung und Verschuldung die deutsche Wirtschaft übel wollenden Nachbarn aus. Ihre Erfüllungspolitik ist eine Politik fortgesetzter Selbstpreisgabe. Sie hat kein moralisches Recht mehr, da zu sein.
Aber es ist niemand da, der um Deutschlands willen ihr das Handwerk legt. Nur durch einen Klassenkampf könnte es geschehen, dessen eigentliche Triebkraft der Sturmhauch deutscher Freiheitsleidenschaft wäre. Die Idee des Klassenkampfs alleine erteilt dem deutschen Arbeiter dazu keine Vollmacht; ihr Atem ist, wie er selbst fühlt, für eine solche geschichtliche Aufgabe gar nicht ausholend genug.
So bleibt diese nationale Aufgabe ungetan.
So vermag die deutsche bürgerliche Ordnung ihr System der Rückversicherung (…) immer vollkommener auszubauen. (…)
Das ist das Hoffnungslose der deutschen Lage: dass sich die Verbindung zwischen proletarischem Kampfwillen und nationalem Pathos nicht als ein schlechthin elementarer Vorgang vollzogen hat.
Klassenkampfwille, der auf seine Reinheit und Unverfälschtheit achtet, befreit nicht einmal die soziale Schicht, die ihn pflegt.
Klassenkampfwille als politisches Organ und Gefäß nationalen Lebenswillens befreit Völker.