Politische Theorie

 

Der eigene Gerichtstag

 

Alles ist relativer und provisorischer geworden, das gilt heute mehr als je zuvor. Selbst das Leben wird gegen einen hohen Zins geliehen. Nicht nur das Leben des einzelnen, auch das der Nationen, der Menschheit insgesamt. Die Favoriten...sind in jeder Epoche und unter jedem Regime in der Regel R�uber und Wucherer. Sie sind versessen darauf, alles in die Kategorien des Barprofits einzuordnen und komplizierte Probleme so lange und gr�ndlich zu simplifizieren, bis die ganzheitliche Welt f�r alle zu einer in sich abgeschlossenen Interessensph�re des einzelnen zusammenschrumpft. Der eingefleischte Egoist will nichts davon wissen, da� sein Heute dem Gestern entstammt und da� er nicht das Recht hat, ein fremdes Morgen zu gef�hrden. Das eigene Wohl geht ihm �ber alles. Selbst der Gedanke, da� nicht so sehr die Nachbarschaft wie die Verbindung der Zeiten Zivilisation schafft, ist ihm l�stig.

Alles wird mehr und mehr relativ und provisorisch, sagte ich und stockte. Es kommt ja nicht von selbst. Unsere Verantwortungslosigkeit und unsere ma�losen Launen haben die Erdkugel weniger lebensfreundlich gemacht. Die Regierungen k�mmerten sich im zwanzigsten Jahrhundert haupts�chlich darum, unseren Planeten den Forderungen der Geopolitik verschiedener Spielarten und Kaliber anzupassen, den hei�en und kalten Kriegen, den begrenzten und den totalen. Niemand kann, ohne die Wahrheit zu vergewaltigen, behaupten, er sei auf diesem Sch�tzenfest nur Zuschauer gewesen.

Man sagt, die Zeit heilt alles. Aus zeitlicher Distanz f�llt es leichter, den rechten Ma�stab f�r vergangene Ereignisse zu finden. Selbst den G�ttern aber ist es versagt, Geschehenes ungeschehen zu machen, sagten die alten Griechen und warnten auf diese Weise davor, etwas zu unternehmen, das sp�ter zu bereuen w�re.

Die Geschichte hat sich nicht nach einer ideologischen Rangordnung oder nach graphischen Darstellungen der Stubenpolitologen vollzogen. In unserem Jahrhundert zeigte sie ihren �u�erst schroffen Charakter. Die Laster haben die Tugenden so lange und so hart bedr�ngt, da� von dem Jubel, mit dem das "goldene zwanzigste Jahrhundert" willkommen gehei�en wurde, keine Spur mehr geblieben ist.

Und wir, deprimiert von Entt�uschungen und Sorgen, schleppen uns dem eigenen Gerichtstag, dem dritten Jahrtausend entgegen.

 

Aus: Valentin Falin - Politische Erinnerungen, M�nchen 1995

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