Politische
Theorie
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Verfasser: Claudio Finzi
Vorbemerkung: Nachstehender Aufsatz entstammt dem Heft 5-6/96 der Schriftenreihe
„Junges Forum“. Die Neuveröffentlichung auf dieser Seite
erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Regin-Verlages als neuen Rechteinhabers.
Wir weisen darauf hin, dass das „Junge Forum“ mittlerweile wieder
erscheint. Das - an dieser Stelle ausdrücklich empfohlene - erste
Heft der neuen Folge trägt den Titel „Eurasien über alles“
und widmet sich den Thesen Alexander Dugins.
Bezug: www.regin-verlag.de
--- Richard Schapke, im Juni 2004
Unsere Politiker und Intellektuellen sprechen ständig von Europa und dem Westen in einem Sinne, als ob ersteres offensichtlich vollständig im zweiten aufgeht. Bestehend aus den Ländern Europas, besonders Westeuropas, sowie den Vereinigten Staaten von Amerika mit dem kanadischen Anhang, bezeichnet der Westen in dieser Annahme eine Einheit. Mit anderen Worten: der Westen wird deckungsgleich mit der NATO gesehen.
Aber wenn wir den Ursprung des Begriffes „Westen“ prüfen und zwar nicht im geographischen, sondern im politischen Sinne, entdecken wir etwas ganz anderes als diese „NATO-Denkweise“: Am Anfang des 19. Jahrhunderts wurde dieser Ausdruck in den Vereinigten Staaten geboren, nicht um Europa in einen geräumigeren atlantischen Zusammenhang einzuverleiben, sondern im Gegenteil, damit der kürzlich entstandene Staat Amerikas sich von allen Staaten des alten Kontinents distanzieren konnte.
Der „Westen“ des Thomas Jefferson
Wir finden die ersten Spuren dieser Unterscheidung in den Reden eines der interessantesten amerikanischen Präsidenten, Thomas Jefferson, dessen 250. Geburtstag man 1993 feierte. Schon 1808 bekräftigte Jefferson, dass Amerika ein separater Erdteil wäre, schließlich 1812 und noch klarer 1820 beschwor er einen bestimmten Meridian, um „unsere Hemisphäre“ von Europa zu trennen. In der amerikanischen Hemisphäre, d.h. in der westlichen Hemisphäre, prophezeite er, werden der Löwe und das Lamm von der einen bis zur anderen Küste in Frieden leben.
Den nächsten Schritt stellte die berühmte Erklärung des Präsidenten Monroe am 2. Dezember 1823 dar, durch welche er jeder europäischen Macht untersagte, in der westlich-amerikanischen Hemisphäre zu intervenieren.
Seit damals hat die Bekräftigung der westlich-amerikanischen Eigenheit bis zu den Stellungnahmen von Präsident Theodore Roosevelt am Anfang unseres Jahrhunderts und den diplomatischen Erklärungen von 1940 sowie unmittelbar nach dem Krieg zugenommen. Von Bedeutung ist, dass in all diesen Reden, in all diesen Erklärungen, in all diesen diplomatischen amerikanischen Dokumenten bei der Betonung des Westens, der westlichen Hemisphäre, etwas radikal Gegensätzliches zu Europa herauszuhören ist. (Wir erinnern hier an Rumsfelds Worte vom „Alten Europa“, R.S.)
Es handelt sich hier nicht nur um die Bezeichnung einer zugewiesenen und abgegrenzten Einflusssphäre oder Verteidigungszone, in welcher man die Präsenz aller potenziellen Feinde ausschließt. Wenn das der Fall wäre, würde der Westen nur eine dieser unzähligen nützlichen Bezeichnungen in der Politik und Diplomatie darstellen, um einen Ort, eine geographische oder strategische Lage näher zu bestimmen.
Die meridiane Barriere
Es geht um etwas anderes. In Wirklichkeit basiert die Wahl eines Meridians, der Europa vom Westen trennt, auf der Idee, dass der Westen, d.h. Amerika als der Westen, sich in Opposition zu Europa, als von Grund auf verschieden in seinem Wesen und seiner Bedeutung zu Europa versteht. Diese Idee setzt daher die Mutmaßung voraus, dass diese zwei Welten, die alte und die neue, hinsichtlich der Tradition und der Moral von Natur aus radikal verschieden sind.
In einem solchen Zusammenhang müsste sich Amerika im Endeffekt Europa gegenüber grundverschieden entwickeln, weil Amerika der Kontinent der Gleichheit und der Freiheit ist im Gegensatz zu Europa, dem Kontinent, in dem soziale Schichtenbildungen existieren und in dem Unterdrückung herrscht. Während Europa der Kontinent der Unvollkommenheit und Korruption ist, stellt Amerika, verstanden als die Vereinigten Staaten von Amerika, den Kontinent dar, in welchem der gute Mensch erfolgreich eine soziale Ordnung und eine gute Politik erschuf; Amerika ist das Land des Friedens, Europa das des Missklangs und der Sklaverei.
Der Meridian, der den Westen von Europa trennt, übernimmt daher eine Schutzfunktion des Guten gegenüber dem Bösen; er signalisiert einen radikalen und unüberwindlichen Gegensatz, wenigstens solange Europa sich nicht von seinen Perversitäten lossagt (aber wäre dieses eines Tages möglich?).
Diese Art des Denkens hat ihre Wurzeln in den sehr alten politischen Traditionen Amerikas, den Traditionen der Gründungsväter. Erinnern wir uns daran, dass sie Puritaner waren, extreme Protestanten, beflügelt von einem tiefen Glauben an Gott und sich selbst; sie glaubten dafür auserwählt zu sein, die Zwänge Englands zu verlassen, um somit der Verfolgung und Berührung zwischen verdorbenen Protestanten und teuflischen Papisten zu entfliehen. Für sie war Amerika eine jungfräuliche Erde, auf der sie eine neue Welt errichten konnten, eine „reine“ Welt, eine Welt für das Volk Gottes, eine Welt frei von den gottlosen Regeln Europas, glücklich getrennt durch Tausende von Meilen des Ozeans.
Aus diesem Grunde habe Gott Amerika seinen Bewohnern geschenkt und diese müssten es rein und unverdorben bewahren, frei von aller europäischen Schande, um die abzulegen sie gekommen waren. Die Monroe-Doktrin und der Begriff der westlichen Hemisphäre sind die im Laufe der Jahrzehnte von kirchlicher Bindung befreiten politischen Umstellungen dieses ursprünglich rein religiös konzipierten Denkens, welches eine deutlichere Trennung von Europa wollte.
Jene, welche heute indifferent die Begriffe „Europa“ und „Westen“ benutzen, als wären sie synonym oder als wenn der zweite den ersten Begriff einschließt, und diesen irrtümlichen Gebrauch sich zu eigen machen, begehen einen schwerwiegenden historischen und politischen Fehler. Es sei denn, dass sie, hoffend auf den Eintritt Europas in den Westen, bewusst oder unbewusst, die amerikanische Sichtweise der Welt akzeptieren.
Es scheint angebracht, die folgende Tatsache zu betonen: in der Definition des Westens, so wie sie bei Jefferson entstanden war, setzten sich ohne weiteres die zwei Formen des amerikanischen Denkens internationaler Beziehungen durch, welche man sonst voneinander auszuschließen pflegt: die Intervention und die Isolation. In der Tat, wenn der Westen das „Gute“ schlechthin darstellt, wird er also dadurch wie eine separate Welt betrachtet, die nicht von den europäischen Angelegenheiten pervertiert wurde; man wollte daraus in Amerika zwei Schlüsse ziehen: Einerseits kann man sich dafür entscheiden, sich auf sich selbst zurückzuziehen, um der Gefahr der eigenen Verseuchung zu entgehen; andererseits kann man sich dafür entscheiden, herauszutreten aus seinem eigenen Schützengraben, um vorwärts drängend die Welt zu retten.
Es ist die zweite Politik, die mehr in der Geschichte Amerikas gegolten hat, vor allem weil die Idee von einem unverdorbenen Westen mit der „offenkundigen Bestimmung“ der Vereinigten Staaten verbunden ist (dieser Ausdruck wurde 1845 während der Streitsache erfunden, welche die USA zu England wegen Oregon in Opposition brachte), um den Schlimmsten aller Imperialismen zu bilden.
Auf diese Art und Weise wurde jeder US-amerikanische Zugriff auf den amerikanischen Kontinent als eine Verteidigungsmaßnahme zugunsten der eigenen US-amerikanischen Interessen betrachtet, die ganze überseeische Aktion ist seitdem eine „Mission“ des Guten, um die Welt zu retten. Wohingegen das Gegenteil für die Europäer, Träger des „Schlechten“, nicht gültig ist, da ihnen niemals das Recht zugesprochen wird, sich in die Angelegenheiten des amerikanischen Kontinentes einmischen zu können, wie es die Monroe-Doktrin deutlich fordert, da sie Europäern jegliche Regung westlich des Meridians der „Trennung“ untersagt.
Jene, die sich heute in Europa einbilden, Paladine des Westens zu sein, sind alle Individuen, welche sich der Welt des Seins und des Denkens der Amerikaner untergeordnet haben, und die, bewusst oder unbewusst, es schätzen, durch sie gerettet und „befreit“ worden zu sein. Von der europäischen Tradition losgesagt, haben sie in Wirklichkeit ihre Seele unterworfen.