Politische Theorie

 

Ernst Jünger: Der Wille

 

aus: Die Standarte, 6. Mai 1926


Jedes Erlebnis sei eine Verpflichtung für uns! Wenn wir nach der Klärung unseres Erlebnisses an seine Verwertung gehen, um es für den Dienst an zukünftigen Zielen arbeitsfähig zu machen, so treten wir aus einer Landschaft der Prüfung und Betrachtung in die härtere des Willens ein. Die Werte, welche vom Inneren in Ruhe gesichtet, gewogen und anerkannt wurden, werden nach außen in Bewegung gesetzt, um sich im Kampfe zu verwirklichen. Aus Gefühlen sollen Taten wachsen, aus Überzeugungen Waffen und aus einem Glauben seine Verkündigung.

Wenn wir nun die Frage aufwerfen, was wir überhaupt durch unseren Willen bestimmen können, so wollen wir uns damit nicht am Streite um die Freiheit des Willens beteiligen, der die Geschichte der Religionen und der Systeme des Denkens bis auf den heutigen Tag begleitet hat. Sie wurde unzählige Male verworfen oder anerkannt, ohne dass sich dadurch die Wirklichkeit jemals um Haaresbreite verschoben hätte. Ihre Bejahung oder Verneinung ist nichts als ein Ausdruck des eine Zeit beherrschenden Lebensgefühls. Als von einer solchen Äußerung nehmen wir davon Kenntnis, dass die Wissenschaft unserer Zeit in ihren gerade aktuellen Zweigen immer schärfer dazu neigt, die Willensfreiheit zu verneinen. Ob die Geschichtsphilosophie große und zwingende überpersönliche Kraftströme voraussetzt, die sich der Lebenseinheiten bemächtigen oder ob die moderne Biologie im Neovitalismus eine Lehre ins Vordertreffen stellt, welche die individuellen Zufälligkeiten des Darwinismus leugnet durch die Annahme einer schöpferischen und ebenfalls überpersonellen Lebenskraft: das soll uns nicht mehr als ein Zeichen sein. Wir fragen nicht, ob dieses an sich so ist oder jenes so, sondern wir fragen uns, wie wir uns in unserer gegebenen Welt durchsetzen wollen. Wir sind mit Karl Marx der Meinung, dass es in erster Linie nicht darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Wir fragen nicht als lediglich denkende, sondern als tätige und wollende Wesen. Wir stützen uns nicht auf das, was wir wissen können. Die verstandesmäßige Erkenntnis ist ein Teil unserer Gesamthaltung, der mit den anderen in Übereinstimmung stehen soll, aber keineswegs der wesentliche.

Wenn wir uns als erstes nach den Möglichkeiten unseres Willens fragen, so ist es nicht der Verstand, sondern ein zwingendes Gefühl, dass uns dazu treibt. Es geschieht aus dem Gefühl eines inneren Zusammenbruches heraus, der äußere Zusammenbrüche begleitet hat. Wir alle haben gewollt wie Menschen nur wollen können, und am Ende dieses Willens stand der Misserfolg. Wir haben elementare Erscheinungen, Kriege und Revolutionen erlebt, die mit der unbarmherzigen Achtlosigkeit von Naturereignissen über unsere Freuden, Leiden und Wünsche hinwegstampften. Wir sahen einen Sieg auf die andere Seite fallen, an den wir jahrelang als an einen sicheren Lohn unserer Willenskraft geglaubt hatten. Und wir erleben es Tag für Tag, dass begeistert das Gute, Wahre und Gerechte verkündet wird, ohne dass das Leben auch nur um eine Spur die Bahn seiner großen, ewigen, von vornherein gegebenen Grundgesetze verlässt. Wir haben nach einer persönlichen Schuld geforscht bei diesem und jenem, aber wenn dieses Forschen für uns überhaupt einen Wert gehabt hat, so ist es der, dass es uns überzeugte von der Notwendigkeit, Unausweichbarkeit und inneren Folgerichtigkeit des Geschehenen. Wir haben nach einem Sinn unseres Erlebnisses gefragt und haben nur feststellen können, dass dieser Sinn jedenfalls ein ganz anderer sein muss als der, den wir damals meinten, also dass wir wohl wollten, aber dass dieser Wille in ganz andere Bahnen gebogen wurde als in die, welche er gehen wollte. Das alles hat uns sehr stutzig gemacht und berechtigt uns wohl zu fragen, inwieweit wir denn überhaupt Bestimmung auszuüben vermögen. Denn stärker wollen als damals - das ist eine Unmöglichkeit.

Wir sind ein Geschlecht, das sich schon auf große Leistungen berufen darf und das sich nicht vor den Vätern zu schämen braucht. Aber am Ende dieser Leistungen steht der Misserfolg. Das wirf uns in einen tiefen Zwiespalt, das erschüttert unsere innere Sicherheit und damit unsere äußere Kraft. Wie standen unsere Väter dagegen fest in der Welt! Söhne des Sieges und der Aufklärung, durften sie wohl wagen, die Ursache der Bestimmung des Zukünftigen im Menschen zu sehen. In seinen Einsichten, seinen Willensäußerungen lag das Wesentliche, aus ihnen ging jede Bewegung hervor, und der Summe dieser Bewegungen wurde durch den Namen Fortschritt das positive Vorzeichen gegeben. Fortschritt, ein schönes Wort, und so mit dem ganzen Gehalt an Glauben, dessen auch ein materialistisches Geschlecht fähig ist, erfüllt, dass man sich nicht nachträglich darüber lustig machen sollte. In dieser Haltung liegt eine einheitliche Geschlossenheit, die nicht zu verachten ist. Aber was hilft uns diese Anerkennung, wir sind durch unser Tiefenerlebnis zu solcher Haltung nicht mehr fähig und aus unserem Munde ist ein solches Wort nicht mehr als eine Redensart.

Fortschritt - das Wort hat für uns seinen Klang verloren. Wenn wir es gebrauchten, würden wir nicht nur auf die Helden und Heiligen vergangener Zeiten herabsehen, sondern wir würden auch unsere eigene Leistung verleugnen. Und das wollen wir doch wohl nicht, selbst wenn sie zum Misserfolg führte? Wir wollen vielmehr stolz darauf sein. Wen das Glück im Stiche ließ, der soll sich nicht noch selbst im Stiche lassen. Lieber wollen wir uns der Sicherheit unserer Väter, der verstandesmäßigen Sicherheit, begeben. Ja, auch wenn wir das nicht wollten - wir müssten es. Wir müssen an einen höheren Sinn glauben als an den, den wir dem Geschehen zu geben imstande sind, und an eine höhere Bestimmung, innerhalb deren sich das, was wir zu bestimmen wähnen, vollzieht. Sonst wird uns der Grund, auf dem wir stehen, mit einem Ruck unter den Füßen fortgerissen und wir taumeln in einer sinnlosen, chaotischen, zufälligen Welt. Was hilft es, dass der Verstand sich an die Dinge anklammert und sich ihrer zu bemächtigen sucht, wenn diese Dinge nicht in der Tiefe gefestigt und von Grund auf geordnet sind? Wir müssen glauben, dass alles sinnvoll geordnet ist, sonst stranden wir bei den Scharen der innerlich Unterdrückten, der Entmutigten oder der Weltverbesserer oder wir leben wie die Tiere als Duldende in den Tag hinein.

Erwachend aus tiefen Erschütterungen unseres innersten Wesens ahnen wir, dass wir einen neuen Schwerpunkt gewonnen haben, um den dieses Wesen kreist. Noch ist es eine Ahnung, ein dumpfes Fühlen, das eine ganze Generation beängstigt und nicht zur Ruhe kommen lässt. Propheten tauchen auf, Wahrheiten werden verkündet, jedes Wort scheint neu geworden zu sein und löst seltsame Erregungen aus. Ein der Aufklärung überdrüssig gewordenes Geschlecht beginnt die Religion wieder sehr ernst zu nehmen, alle irgendwie bedeutsamen Bücher unserer und fremder Kulturen werden neu gedruckt und anders verstanden als vor zehn Jahren noch, und überall wird über alle Dinge soviel gesprochen, gelesen und geschrieben, dass auch der Gleichgültigste die große Unruhe spüren muss, die wach geworden ist. Neue Gemeinschaften werden gegründet, alte beleben sich wieder und das Gefühl, dass das logische Gefüge der Welt sich in unserem Bewusstsein gelockert hat, richtet die Menschen auf die Beschäftigung mit dem Übersinnlichen, eine Beschäftigung die sich rings um uns verrät von ihren höchsten Erhebungen und tiefsten Abstürzen bis zu den Torheiten und Marktschreiereien, die die Spalten der Zeitungen füllen. Der Krieg ist der große Wendepunkt, er deutet sich an von der Geschichte der Metaphysik bis zu der der Medizin und von unserer Auffassung von der Seele und vom Staat bis zu der vom Gelde oder vom bürgerlichen Recht. Noch ist alles im Stadium des Tastens und des Versuchs, aber ein wenig mehr Glaube, ein wenig mehr Ernst - und wir stehen in einer anderen Welt.

Der Glaube an einen verborgenen Sinn erfüllt auch uns, ein vielfach gehärtetes Geschlecht, das im glühenden Schoße der Kampfgräben geboren und das stolz auf seine Vergangenheit ist. Dass diese Vergangenheit mit einem Misserfolge an die Gegenwart grenzt, soll uns nicht zu dem Schlusse verführen, dass sie sinnlos war, wie wir es heute von jedem Krämer und an jeder Straßenecke hören können. Das, wofür Männer sterben, kann niemals sinnlos sein. Selbst ein Untergang ist nicht ohne Sinn. Heute, noch einmal in dieselbe Lage zurückversetzt, würden wir wohl, durch die Erfahrung gewitzigt, dies oder jenes anders machen, aber im Wesentlichen, das vor aller Erfahrung liegt, würde unsere Haltung hoffentlich genau dieselbe sein. Mag man uns vorwerfen, dass wir unbelehrbar sind: wir wissen, dass es Dinge gibt, die man nicht lernen kann, weil sie angeboren sind. Wir wollen nicht nach Erfolg oder Misserfolg werten, wie es die Art des Pöbels aller Schichten ist, sondern wir wollen nach dem fragen, was zu tun notwendig ist. Ob dieses Tun Erfolg haben wird, wissen wir nicht, aber wir wissen, dass es einen Sinn erfüllt.

Die große Quelle und Ursache dieses Notwendigen wollen wir das Schicksal nennen. Im Schicksal sehen wir nichts Blindes und Zufälliges, sondern eine schaffende Kraft, deren Ziele wir nicht kennen und von der wir nicht wissen, ob sie überhaupt Ziele besitzt oder nichts als eine reine, göttliche Bewegung ist, gleich mächtig und gleich vollendet in einem Augenblicke wie im anderen. Wohl aber können wir den Zug des Schicksals erkennen, der sich eben andeutet als das Gefühl für das Notwendige, als Zwang, der uns oft veranlasst zu handeln gegen das eigene Interesse, gegen Ruhe, Glück, Frieden, ja gegen das Leben selbst. Durch dieses Notwendige soll unser Wille gerichtet sein. Wir alle haben Augenblicke erlebt, in denen uns das Schicksal mit seiner vollen Gewalt ergriff. Wir wissen, dass das dramatische, nicht jedem Geschlecht offenbarte Augenblicke sind, mit denen eine lange Kette von Freuden und Leiden beginnt. Aber diese Freuden sollen uns nicht locken und diese Leiden nicht schrecken, das Notwendige zu tun und das zu wollen, was das Schicksal will. Es ist eine große Bejahung vom Glück der Zeugung bis zu den Schmerzen der Geburt und von einer Kampfansage, die notwendig ist bis zum Ende des Kampfes, durch den sie besiegelt werden muss. Ob das Schicksal seine Forderungen zu den unseren macht oder wir unsere Forderungen zu den seinen, das ist eine Professorenfrage, die uns nicht berührt. Wir sehen hier keine Trennung, sondern eine höchste Einheit, eine kentaurenhafte Verschmelzung von Reiter und Ross.

Wir wollen also das Notwendige. Warum? Weil es das Notwendige ist! Was werden wir damit erreichen? Den Sinn. Und das ist das Wesentliche, das absolut Erreichbare, selbst wenn dieser Sinn unser Untergang sein sollte. Aber wir, alte Soldaten und erzogen in der Gewohnheit des Krieges, haben niemals unser Glück oder Unglück, unser Sein oder unseren Untergang zur herrschenden Frage gemacht. Was liegt denn an uns?

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