Politische Theorie

 

Die bürgerliche Demokratie

(aus: Ernst Niekisch: Europäische Bilanz, Potsdam: Rütten & Loening 1951)

 

Die bürgerliche Demokratie ist eine Grundform der „Integration“, der Einverleibung der Massen in den gesellschaftlichen Organismus, ihrer Bindung an eine politische Führung. Sie ist keinesfalls unmittelbare Selbstbestimmung des Volkes, wofür sie sich gern ausgeben möchte; sie ist es umso weniger, als es zweifelhaft erscheint, ob eine solche Selbstbestimmung, außer bei zahlenmäßig kleineren Gruppen, praktisch überhaupt zu verwirklichen ist. Im Worte „Volksherrschaft“ liegt zudem ausdrücklich angedeutet, dass das Herrschaftsverhältnis gar nicht aufgehoben ist; nur freilich bleibt man im Dunkel, wer beherrscht wird. Man kommt dahinter, wenn man die Demokratie aus ihrer geschichtlichen Entwicklung als das Ergebnis innerpolitischer, gesellschaftlicher Kämpfe begreift. Hierzu ist es nötig, sie in ihrer Beziehung zu den beiden anderen politischen Herrschaftsgrundformen, der Monarchie und Aristokratie zu betrachten.

Die Monarchie ist die Herrschaft einer Familie. Durch ihr Herrschaftsmonopol wird sie zur „vornehmsten“ Familie erhoben. Sie bedarf einer übersteigerten Autorität, um sich unangefochten in ihrer bevorzugten Stellung behaupten zu können. Allerdings bewahrt sie ihre Autorität unerschüttert nur so lange, als sie Sachwalterin wie Treuhänderin von bevorzugten ständischen Sonderinteressen und zugleich des Allgemeininteresses erscheint. Die ständischen Sonderinteressen vor allem geben ihr Halt und Stütze; indem die ständischen Sonderinteressen im Monarchen den Bürgen ihrer Vorrechte erblicken, wird er ihnen zum Symbol ihres Daseinssinns. So eng waren die ständischen Sonderinteressen mit dem monarchischen Familieninteresse verquickt, dass sie mit diesem standen und fielen. Die unteren Bevölkerungsschichten waren den Ständisch-Privilegierten teils zur Ausplünderung überlassen, teils genossen sie von diesen ein solches Minimum von Fürsorge, dass sie eben noch zu existieren vermochten; und das Minimum war es, um dessentwillen sie sich für den politisch-sozialen Gemeinkörper einfangen ließen.

Die Aristokratie, die Adelsherrschaft, stellt sich der Monarchie, der Einherrschaft gegenüber, auf eigene Beine. Die ständischen Glieder behalten sich die Ehre selbst vor, die in der Monarchie der herrschenden Familie gewährt wird. Sie bilden eine mehr oder weniger geschlossene Körperschaft, ihr anzugehören macht die höchste Stufe sozialer Vornehmheit aus. Die Aristokratie ist die Ordnungsmacht, der Kopf des Gemeinwesens; alle Privilegien gehören ihr wegen ihrer leitenden Funktion. Es ist Frevel, sie unter die kritische Lupe zu nehmen; Venedigs Bleikammern waren eines der abschreckendsten Mittel, kritische Gelüste zum Schweigen zu bringen und kritische Köpfe einzuschüchtern. Die Masse wird betreut wie in der Monarchie, ihr Wohl wird ausschließlich durch den ständischen Körper besorgt; es selbst in Acht zu nehmen, dazu fehlt der Masse die Befugnis. Sie ist in ihrem pöbelhaften Unverstand zu töricht, um zu wissen, was für sie das Beste ist.

Die Demokratie entsteht gegen Monarchie und Aristokratie als Protest- und Oppositionsbewegung. Glieder der unteren, politisch minderberechtigten oder rechtlosen Schichten, die durch Glück oder Tüchtigkeit zu Reichtum gelangt sind, wollen sich mit dem Zustand gesellschaftlicher Missachtung und politischer Ohnmacht, in dem sie sich gehalten haben, nicht mehr abfinden. Sie werfen sich zu Wortführern der Masse auf, der jene monarchischen und ständischen Vorrechte ebenso widerwärtig sind wie ihnen. In der Gegnerschaft gegen die Privilegien bilden sie mit den Massen eine gemeinsame Front; die besondere Interessenverschiedenheit zwischen dieser Masse und ihnen verschwindet im Angesicht des einheitlichen Feindes. Gegen Monarchen und Aristokraten proklamieren sie sich als „Volk“. Der Sinn ihrer Bewegung ist, die adligen Herren aus der Macht zu verjagen. Das „Volk“, welches sich selbst bestimmen will, ist in Wahrheit eine Gruppe reichgewordener Plebejer und Emporkömmlinge, jener Bürger, die es wirtschaftlich zu etwas gebracht haben und es nunmehr auch gesellschaftlich und politisch zu etwas bringen möchten. Jene Gruppe spricht die Sprache des gemeinen und niedrigen Mannes, um dessen Vollmacht und Beistand gegen die Privilegierten zu bekommen; so gewinnt sie ihre Massenbasis, mit deren Hilfe sich viele Dinge auf den Kopf stellen lassen. Die Demokratie ist die Herrschaft jener Bürgerschicht, welche die Massen davon überzeugt hat, dass zwischen ihnen beiden kein Interessengegensatz vorhanden sei, dass, wenn sie sich selbst bestimme, zugleich auch die Masse überhaupt das Recht der Selbstbestimmung ausübe.

Es war eine Fiktion, aber die Fiktion zündete und wurde als Wirklichkeit akzeptiert. Das „Volk“ habe sich zur Herrschaft über die bisherigen Herren aufgeschwungen, so lautete die fable convenue. In Wahrheit hatte die Schicht der hochgekommenen Reichen, der Bürger, die aristokratischen Herren an die Wand gedrückt und sich an die Sonnenseite des Daseins vorgekämpft; sie hatte einfach die Auswechslung der Herrenschicht zu ihren Gunsten erzwungen. Damit ist die Aktion gegen die einstigen Herren um so mehr erledigt, als sich diese der neuen Oberschicht eingliedern; aus Aristokraten werden, wie es in England geschah, Großbürger: das ist die Weise, in der sie zum „Volk“ herabsteigen. Das Volk, die Masse, bleibt auch ferner Objekt der Herrschaft, die neue Oberklasse hat noch lange nicht dem Ehrgeiz des höheren Ranges abgesagt. Nur soll die Masse es nicht merken, dass sie auch weiterhin „unten“ bleibt. Die neue Oberklasse stellt sich nicht, wie es die aristokratische tat, repräsentativ zur Schau; sie kleidet sich wie jedermann, sie sticht nicht theatralisch in die Augen; sie sieht aus, als ob gar kein Unterschied vorhanden wäre. Sie schließt sich nicht unzugänglich ab, sie öffnet emporstrebenden Elementen gern ihre Reihen. Nicht nur, dass sie sich dergestalt verjüngt - sie nimmt der Masse die besten Kräfte weg und beugt so der Entstehung bösartiger Oppositionsbewegungen vor. Denn in diesem Bestreben verharrt die Oberschicht: kein Gegensatzbewusstsein zwischen sich und der Masse aufkommen lassen. Jeder Bürger will als „Sohn des Volkes“ gelten; die Rechtsgleichheit, die formal eingeführt ist, soll den Schein verbreiten, dass jeder jedem gleich sei. Mit Vorbedacht wird der Blick von den Unterschieden des Vermögens und des Machtbesitzes abgelenkt; sie werden als unerhebliche Zufälligkeiten behandelt, mit denen es nicht viel auf sich habe. Die Masse soll sich betrachten, als ob sie eins mit ihrer Oberschicht wäre; eben diese Empfindungen der Einheit, in der sich Oberschicht und Masse treffen, ist die Grundlage, aus der die Idee des Volkes als Erlebnis aufsteigt. Die Volksidee bindet bürgerliche Oberschicht und Masse zusammen; die Demokratie ist die politische Apparatur, mittels deren die gefühlsmäßige Einheit institutionell vollzogen wird.

Demokratie ist ein politischer Begriff der griechischen Antike. Nie war sie so verstanden, dass den Sklaven Rechte zugebilligt wurden; nur die freien Bürger zählten zum „Volk“. Die Volksversammlung auf dem Marktplatz war insofern souverän, als sie jede Zuständigkeit an sich reißen, jede Beamtenstelle durch Wahl oder gar durch Los besetzen konnte. Wo die Einrichtungen funktionierten, war es jedem Freien nahe gelegt, das Gefühl zu hegen, dass er mitzureden, dass er etwas zu sagen habe. Die wirklichen Drahtzieher, die Reichen, blieben im Hintergrunde; aus ihrem Dunkel heraus kauften sie Stimmen, lenkten sie die von ihnen wirtschaftlich Abhängigen, ließen sie die mannigfachen Einflüsse spielen, die ihnen zu Gebote standen. Eben der Umstand, dass sie aus dem Verborgenen heraus wirkten, nicht angreifbar und fassbar waren, in der Öffentlichkeit aber die Masse agieren ließen, kennzeichnete die Eigenart der Demokratie gegenüber der Aristokratie, verlieh ihr das Merkmal der „Volkstümlichkeit“. Sie war Volks-, war Massensache, nicht mehr bloß Angelegenheit einer Auslese oder gar eines Einzelnen.

Das Prestige der Demokratie wurde wenig dadurch beeinträchtigt, dass nicht selten ein Wahlzensus festgelegt, die politische Berechtigung also an eine gewisse Vermögenshöhe gebunden war. Die Abschaffung dieser Beschränkungen, die doch der Natur der Sache nach der Weg zur konsequenten Verwirklichung der „Volksherrschaft“ gewesen wäre, galt als Degeneration, Depravation, Verfall und wurde als Ochlokratie, als Pöbelherrschaft, gebrandmarkt. Die Pöbelherrschaft besteht darin, dass die Einflussmöglichkeiten der Mächte im Hintergrund lahm gelegt oder ausgeschaltet sind; sie setzt die Massen frei, zwingt sie nicht mehr in die Botmäßigkeit der Oberschicht hinein und verfehlt so den eigentlichen Zweck der Demokratie.

Das Bestreben jeder Führungsschicht ist es, die Geführten in Ruhe zu halten, ihre kritischen Gelüste einzuschläfern, keine Zweifel aufkommen zu lassen, ihre Fragesucht zu lähmen, ihnen den Mund zu stopfen. Die prunkhafte Repräsentation der feudalen Aristokratie verblüfft, schüchtert ein, macht verstummen, indem sie zur Bewunderung zwingt. Die angetane Gewalt erscheint erträglich, weil die Gewalttäter durch die Großartigkeit ihres Dekorums imponieren. Die Geldaristokratie hat nirgends etwas Imponierendes; sie erzieht Schmarotzer, nicht Knechte. Sie hat es nötiger als die Grundherrschaft, sich zu tarnen. Die Geldherrschaft regt alle besseren menschlichen Instinkte gegen sich auf, sobald sie als Herrschaft erscheint. Wo sich ein Widerspruch gegen sie zeigt, muss sie sogleich beschwichtigen, indem sie ihren Herrschaftscharakter maskiert und leugnet. Es gibt wohl keine Veranstaltung, die den Herrschaftscharakter mehr verkleidet, als es die Demokratie tut; so wird sie zur hervorstechendsten Verlarvungsmaßnahme der Plutokratie.

An die Stelle der Volksversammlung tritt in den modernen Nationalstaaten das Parlament; es ist ein Ausschuss des Volkes. Es wird gewählt, und je allgemeiner das Wahlrecht ist, für umso demokratischer gilt es. Wenn jeder Volljährige beiderlei Geschlechts ohne Besitz oder Beruf vorbehaltlos wählen darf und wählbar ist, ist eine wesentliche demokratische Forderung erfüllt. Die politische Aktivität des Volkes besteht in seiner Wahlhandlung; sie ist eine Vollmachtserteilung an den Erwählten. Diese Vollmachtserteilung muss aus Zweckmäßigkeitsgründen geschehen; das Volk ist in seiner Masse unmittelbar nicht politisch handlungsfähig, es bedarf für die politische Aktion eines Organs. Das Parlament ist dieses Organ.

Nun verlangt die demokratische Logik, dass dieses Organ mehr ist als eine Dekoration oder ein Sprachrohr der Opposition, wie es der deutsche Reichstag vor 1918 war. Der „Staat“ ist seinem Wesen nach der Inbegriff der Verwaltungs-, Justiz- und Militärbürokratie, die zur Wahrnehmung der Interessen einer herrschenden Gesellschaftsschicht eingesetzt wird; er ist Herrschaftsinstrument einer oberen Klasse. Die Demokratie hat die Tendenz, den Kastengeist, das Eigenleben dieser Bürokratie abzubauen; der Beamte soll zum bloßen Funktionär werden, der sich in bedingungsloser Abhängigkeit vom Parlament befindet, er ist Spezialist zur Erledigung von Aufgaben, die eine besondere Sachkenntnis verlangen.

Jede Bevölkerung eines Gebiets ist durch tiefgehende Interessengegensätze aufgespalten. Die Interessen schaffen sich in den Parteien ihre Organe; im Parlament wird der Kompromiss vollzogen, in den freilich nur eintreten kann, wer sich dem bürgerlichen Grundinteresse unterordnet. Ein Interesse, das für den Kompromiss nicht in Frage kommt, kann zwar im äußersten demokratischen Fall noch zu seiner Partei gelangen; aber diese Partei wird als revolutionär verfolgt, schikaniert, an die Wand gedrückt werden; sie kommt als vaterlandslos, landesverräterisch in Verruf. Nur Parteien, welche irgendwie noch dem bürgerlichen Interesse verpflichtet sind, gelten als seriös. So ist die Demokratie eine bürgerliche Herrschaftsorganisation, die solange funktioniert, als die besitzlosen Massen Wahlrecht und Abstimmungsfreiheit nicht als Waffen gegen das bürgerliche Interesse gebrauchen. Wo sich das ereignet, zeigt das bürgerliche Interesse sogleich, dass es nicht mit sich spaßen lasse.

Die moderne bürgerliche Demokratie ist die Vollendung des parlamentarischen Systems. Dieses ist die Maschinerie, welche die Generalzustimmung des Volkes zu allem Tun und Treiben, die am Wahltag in Bausch und Bogen für eine ganze Wahlperiode erfolgt ist, in Einzelzustimmungen für die praktischen Fälle des Alltages umsetzt. Der große Effekt, welcher erzielt werden muss, ist der, das „Volk“ in der Überzeugung zu erhalten, dass nichts ohne seine ausdrückliche Einwilligung geschehe.

Zur Startseite!