Politische Theorie

 

Ernst Niekisch: Zum Begriff der Klasse

(aus: Ernst Niekisch: Europäische Bilanz, Potsdam: Rütten & Loening 1951)

 

Der Begriff der „Klasse“ ist doppelsinnig. Auf der einen Seite formuliert er einfach die Feststellung gesellschaftlicher Tatsachen. Die Gesellschaft scheidet sich in zwei große Gruppen, die Gruppe der Besitzer von Produktionsmitteln und die Gruppe derer, die an den Produktionsmitteln keinen Anteil haben und infolgedessen in die Abhängigkeit der Besitzer geraten. Die erste Gruppe bildet die Klasse der Besitzenden, der Bürger, die zweite die Klasse der werktätigen Bevölkerung, der Proletarier insbesondere.

Andererseits bedeutet die Klasse den politisch aktiv gewordenen, sich seiner Situation bewussten und zur Umwälzung dieser Situation entschlossenen Teil der Arbeiterschaft.

Die Konstituierung der Klasse bedarf ebenso sehr eines besonderen Bewusstseins wie die Konstituierung des Standes oder der Nation. Es ist nicht wahr, dass der Industriearbeiter einfach auf Grund seiner sozialen Lage sich als Glied der politisch aktiv verstandenen proletarischen Klasse fühlt. Es erfordert Einsichten und einen Willensentschluss, sich der proletarischen Klasse zuzurechnen; man gehört der Klasse im kämpferischen Sinne nur an, wenn man ihr angehören will. Nur eine begrenzte Zahl von Proletariern ist dieses Entschlusses fähig, weiß, was sie will. Man hebt sich aus der Masse heraus, wenn man sich seiner Klassenzugehörigkeit bewusst wird, man wird dadurch Sachwalter der proletarischen Interessen, im Bewährungsfalle Berufsrevolutionär, Funktionär, Führer. Die klassenbewussten Arbeiter werden zur Auslese, zur Elite, zu einer proletarisch-klassenkämpferischen Vorhut; sie allein wissen, was dem Proletarier frommt, und sie allein sind auch imstande, dessen Interessen wirksam und erfolgreich wahrzunehmen. So wird auch die Klassenidee zum Gestaltungsprinzip einer neuen Elite.

Dem Klassengesichtspunkt wohnt eine aggressive Absicht inne. Es war der Sinn der Idee „Nation“ gewesen, zu verhüllen, dass der Unterschied zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden irgendeine entscheidende Bedeutung habe; auch die formale parlamentarische Demokratie läuft auf eine Verschleierung solcher Art hinaus. Es soll staatsbürgerliches Axiom sein, dass Besitzunterschiede ausschließlich der privaten Sphäre zugerechnet werden müssten und in keinem Betracht politische und öffentliche Angelegenheiten seien.

Der Klassengesichtspunkt zielt rücksichtslos gegen die bürgerlichen Verhüllungstendenzen; er zieht die folgenschwere Bedeutung des Besitzunterschiedes nicht nur ans Licht, sondern betont dessen entscheidende und zentrale Rolle. Solange seine Gewichtigkeit zu verbergen war, konnte der besitzende Bürger mit der ihm so nützlichen Behauptung Glauben finden, es gebe zwischen ihm und dem Habenichts lebenswichtige Gemeinsamkeiten. Der Klassengesichtspunkt zerstört diesen Glauben in den Köpfen der Habenichtse, ein Vorgang, der die Fundamente der bürgerlichen Ordnung erschüttert. Der Klassengesichtspunkt begründet die Solidarität der Nichtbesitzenden gegen die Besitzenden: der Bürger hat infolgedessen allen Anlass, ihn aus tiefstem Herzen zu hassen. Man begreift, wie widerwärtig es dem Bürger ist, wenn er von der „bürgerlichen Klasse“ reden hört; das ist die Sprache des „aufgehetzten Proletariats“, das sich über ihn, zu seinem Schaden, klar geworden ist.

Es gibt gesellschaftliche Identifikationen der verschiedensten Art; in der Vergangenheit sind sie zum Teil zu höchster Wirksamkeit gelangt. Was für die feudalen Aristokratien Gott, für den nationalen Bürger das Volk war, das ist für die klassenbewusste Arbeiterschaft die Masse.

So sehr das Schicksal der Elite an die überzeugende Geltungskraft ihres Legitimierungsprinzips gebunden, dass sie mit diesem Prinzip steht und fällt. Entsprechend dieser Bedeutung gerät das Prinzip unvermeidlich in das helle Licht bewusster Aufmerksamkeit, es wird zum Gegenstand eindringender und tiefschürfender Spekulationen. Die Spekulationen sind verwahnender oder entwahnender Art, je nachdem, ob der spekulative Kopf für oder gegen die Elite denkt. Im ersten Fall wird das Prinzip zum Träger aller positiven Werte, zur Verheißung und zum Inbegriff aller Vollkommenheit, im letzteren Falle aber zur Quelle allen Unheils. Dieselbe Stellung, die man praktisch zur Elite hat, nimmt man theoretisch zu ihrem Prinzip ein.

Die Elite, die sich um das Banner der Klassenidee geschart hat, spekuliert infolgedessen über die „Masse“. Man horcht auf den Herzschlag der Masse, beugt sich vor dem Massenwillen. Der klassenbewusste Arbeiter steht in der Hut der Masse, nur ihren Willen möchte er erfüllen, von ihr will er getragen sein; keinen Schritt wagt er auf eigene Faust und Verantwortung, von der Masse soll er gebilligt werden.

Die Nation konnte sich mit dem Stand nicht mehr vertragen, sie liquidierte ihn und machte dabei mit den „Aristokraten“ wenig Federlesens. Keine Elite sollte außerhalb der Nation mehr bestehen dürfen; sie wurde als antinational verfemt und verlor damit ihr Daseinsrecht. Nicht weniger unduldsam ist die Klasse; keine andere Elite soll neben ihr mehr bestehen. Hat sie mit den Rückständen der traditionellen Eliten abgerechnet, dann ist die klassenlose Gesellschaft gestiftet. Sie ist klassenlos, weil die Klasse nun total geworden ist und ihr Anspruch, das einzige Organ der Masse zu sein, von keiner Gesellschaftsmacht mehr in Frage gestellt werden kann.

Jede Elite hat ihre besondere Waffe, die sie einsetzt, um sich zu behaupten. Der Stand verließ sich auf sein Schwert; damit schlug er jeden nieder, der sich gegen ihn erhob, verschaffte sich Respekt und zog die Distanz, die er brauchte. Die bürgerliche Nation vertraute ihrem Geld; der Besitz, das Privateigentum zeichnete aus und bot die Mittel, die höhere und bessere Existenz zu finanzieren und sich die Dienstbarkeit und Unterwürfigkeit zu erkaufen, mit welcher der Habenichts für das ganze Futter bezahlte, das ihm nun der „vermögende Mann“ zu reichen hatte. Die proletarische Klasse gründet ihre Zukunft auf die Macht der Technik. Wohl hatte bereits die bürgerliche Nation die Technik in ihrem Schoß entwickelt und ihren Machtcharakter erfasst, indes war die Entfaltung der Technik doch stets unter dem Gesichtspunkt erfolgt, ob sie sich rentierte; was nicht rentierte, blieb unentwickelt und ungenutzt. Außerdem beschränkte sich das technische Interesse auf die Energien der Natur; die Naturkräfte zu beherrschen, war das technische Ziel. Die Gesellschaft sollte sich selbst überlassen bleiben; nur widerstrebend und dem Zwang der Umstände gehorchend, begann man auch sie zu organisieren. Die Klasse bemächtigt sich der technischen Gesamtausrüstung; die natürlichen wie gesellschaftlichen Energien will sie für sich mobilisieren. Sie berechnet, welch unermessliche Macht die technische Ausbeutung der Natur wie die technische Planung des Gesellschaftsdaseins in sich bergen. Wird das Gesamtdasein zu einer Maschinerie, ist derjenige der Lenker des Ganzen, der die Hand am Hebel und an den Schaltern hat. Die Klasse fühlt sich berufen, die entscheidenden Hebel und Schalter zu bedienen.

 

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