Politische Theorie

 

Autochthone Modernität - Ein Fragment zur Technikdiskussion

Verfasser: Richard Schapke, Sommer 2002

 

In der Diskussion um alternative Modelle zur One World des Globalisierungskapitalismus besteht nur zu sehr die Gefahr, sich in esoterischer Germanentümelei zu verlieren. Es gilt hingegen, eine Synthese aus Verstand und Willen, also aus Ratio und Mythos, zu erreichen und dabei nicht die Berücksichtigung der Technologie aus den Augen zu verlieren. Diese Synthese kann in autochthoner Modernität, in einer spezifischen Art von Modernität, gefunden werden.

Im ausgehenden 20. und erst recht im 21. Jahrhundert konstatiert eine allgemeine Grundlagenkrise das Ende der rationalen Weltsicht eines selbstermächtigten, für autonom erklärten Ich. Der selbstgewisse Zugriff des Menschen als Herr und Eigentümer auf die Natur nähert sich seinem Ende, ebenso der hemmungslose Individualismus des liberalen Zeitalters.

Es gibt keine absoluten Wahrheiten mehr, wie das 19. und 20. Jahrhundert sie definierten. Die Wirklichkeit ist nicht homogen, sondern heterogen, sie ist nicht harmonisch, sondern dramatisch, nicht einheitlich, sondern unterschiedlich strukturiert. Diese Fakten liegen im Grunde genommen schon seit den erkenntniskritischen Werken Nietzsches vor.

Bereits die beiden Weltkriege, viel mehr noch aber die rasante Veränderung des Erd- und Menschheitsantlitzes im Zeitalter der Globalisierung haben die Selbstgewissheit des Menschen erschüttert. Schon 1917 formulierte der Kunsttheoretiker Hugo Ball: "Eine Welt brach zusammen. (...) Die Prinzipien der Logik, des Zentrums, Einheit und Vernunft wurden als Postulate einer herrschsüchtigen Theologie durchschaut. Der Sinn der Welt schwand. (...) Chaos brach hervor. Tumult brach hervor. Die Welt zeigte sich als ein blindes Über- und Gegeneinander entfesselter Kräfte. Der Mensch verlor sein himmlisches Gesicht, wurde Material, Zufall, Konglomerat, Tier, Wahnsinnsprodukt abrupt und unzulänglich zuckender Gedanken. Der Mensch verlor seine Selbstdarstellung, die ihm die Vernunft gewährt hatte."

Zertrümmert wurde der Mythos von der immer weiter wachsenden Vernünftigkeit des Menschen, seiner Gerechtigkeit und Glückhaftigkeit. Im früheren Jahrzehnten als ideale Freiheit vorschwebenden Zustand völliger Bindungslosigkeit treten vermehrt bisher unbekannte Lebensschwierigkeiten wie Orientierungslosigkeit und innere Haltlosigkeit für den Einzelnen in der atomisierten Gesellschaft zutage. Das für autonom erklärte Ich ruft nach einem geistigen Regenten oder einer Willenshand an seiner Statt.

Das Individuum muss Macht erringen, mächtig werden, um ein Ziel erreichen zu können. Das Ziel ist die Überwindung der beliebigen Moderne. Nicht alle Lebensfragen können wissenschaftlich gelöst werden. Die Wissenschaft verliert ihre geistige Führerrolle, nicht aber ihren dienenden Zweck in einer hochtechnisierten Gesellschaft. Eine völlige Grundlagenrevision des wissenschaftlichen Weltbildes ist nicht erforderlich, aber die Naturwissenschaften haben keinen allumfassenden Anspruch mehr. Das von ihnen hinterlassene Vakuum kann mit dem Mythos, der Innerlichkeit des Reiches aufgefüllt werden, also mit Max Webers zweitem Idealtyp legitimer Herrschaft - der traditionalen Herrschaft, basierend auf der Heiligkeit einer überlieferten Ordnung.

Die sich dem Zusammenbruch nähernde Ordnung der Gegenwart muss nicht zuletzt in Technik und Industrie überformt werden. Diese Überformung wird sich nicht nur durch die Theologie des Reiches, sondern auch durch die autochthone Modernität, durch die selektive Umarmung der rationalen Moderne, vollziehen müssen. Der technische Fortschritt kann nicht umgekehrt werden, sondern seine schädigenden Auswirkungen sind durch die innere Befreiung, die Freisetzung des Mythos, einzuengen und aufzuheben. Gewissermaßen ist die Technik aus ihren vom westlichen Seelentum kompromittierten Zusammenhängen herauszulösen. Bereits 1936 schrieb der Kulturphilosoph Eugen Diesel: "Wir sind in dem heutigen Deutschland bestrebt, die Formen zu erarbeiten, in denen wir als deutsche Menschen leben können, in denen wir den Herzschlag der Heimat und unserer alten Geschichte spüren, in denen wir die überspannte Organisierung und Mechanisierung zurückdrängen, einen organischen Volkszusammenhang gewinnen und doch nichts von unserer Modernität, unserem Bekenntnis zur Technik und zur Weltaufgeschlossenheit preisgeben."

Literaturhinweise:

Graeb-Könneker, Sebastian: Autochthone Modernität. Eine Untersuchung der vom Nationalsozialismus geförderten Literatur, Opladen 1996
Ketelsen, Jens-Uwe: Literatur und 3. Reich, Schernfeld 1992
Wachsmuth, Bruno: Der Arzt in der Dichtung unserer Zeit, Stuttgart 1939
Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, 2. durchges. Auflage, Weinheim 1988

 

 

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