Politische
Theorie
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(aus: Ernst Niekisch: Europäische Bilanz, Potsdam: Rütten & Loening 1951)
Der voraussetzungslose, durch keine feudal-ständische Tradition belastete
bürgerliche Ökonomismus des jungen Amerika verbündete sich bald
mit dem geistesaristokratischen Typus des Technikers; die Typen des Priesters
und Philosophen übernahm es nur als rudimentäre Anhängsel. Der
ökonomische Welterraffungsdrang verschmolz mit dem technischen Naturüberwältigungstrieb;
das Ergebnis war eine wirtschaftliche und politische Stoßkraft von unerhörter
Sieghaftigkeit. Es gab kein Ding, für welches man nicht den Preis aufzubringen,
es gab keine Schwierigkeit, zu deren Bewältigung man nicht die erforderlichen
Mittel und Wege aufzuspüren vermocht hätte. Man war in jeder Hinsicht
das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, und was unmöglich zu sein
schien, wurde möglich gemacht. Das alte Europa hatte ein stetes Gefühl
für Grenzen und die in die eigenen Grenzen eingesponnene Eigenart, für
die Qualitäten also. Das junge Amerika kennt keine Grenzen, Qualitäten
interessieren nicht, sie sind überlebter Plunder, Trost für den, der
sich ins Kleine versenken und Reize am Kleinen entdecken muss. Wo es keine Grenzen
gibt, da hat man nur noch ein Auge für Quantitäten, hinter den Weiten
lockt das noch Weitere, hinter dem Großen das Riesige, das Gigantische.
Das Kleine und die Enge sind verächtlich; man bewährt seine Gesunde
Kraft daran, dass man durch keine Ungeheuerlichkeit zu Boden gedrückt wird.
In der Raumbewältigung einerseits, der Industrialisierung andererseits bewährte sich dieser junge Amerikanismus. Der Geschäftsmann und der Ingenieur arbeiten Hand in Hand; der eine finanziert und der andere konstruiert, und wo sich der Ausblick auf einen neuen Job eröffnet, hat der Techniker auch gleich eine neue konstruktive Idee bereit. Da die Neigung zum Stillstand durchaus fehlt, kommt es nirgends zu einer Verwurzelung; der Bauer bindet sich so wenig an den Boden, wie der industrielle Produzent es tut. Der Finanzmann, der reine Plutokrat ergreift die Zügel; er stampft Industrien aus dem Boden, wo der Standort sie begünstigt, und verlegt sie kurzerhand, sobald ein besserer Standort winkt. Die Finanzbourgeoisie, die entsteht, steigt zu unfassbarer Macht empor. Sie prunkt nicht mit ihrem Reichtum, sie fordert damit nicht heraus; sie kleidet sich einfach; sie beteiligt die Massen durch hohe Löhne am Geschäft. Darüber hinaus bildet sie noch ein ganz besonderes System der Massenbestechung heraus, das eine Art irdischer Heilsgüterverteilung und Diesseitsbeseligung darstellt: es ist der Komfortismus.
Der Komfortismus ist die sinnfälligste und wohl auch ehrlichste Verwirklichungsform des demokratischen Liberalismus. Er löst die Wechsel ein, die den Himmel auf Erden für alle verheißen hatten. Jeder Bürger soll sein Eigenheim haben mit Staubsauger, elektrischem Kocher, Bad und allen Schikanen der Neuzeit; die hygienischen Vorkehrungen sind in allen Betrieben, in Bäckereien, Schlachthäusern und Molkereien auf die Spitze getrieben; jede Arbeit, auch die des Haushalts, wird maschinell erledigt. Vor allem jedoch: jeder hat sein Auto, seinen billigen Brennstoff; der kleinste Angestellte wird damit zum Beherrscher der amerikanischen Weite. Komfort ist alles; die Menge des Komforts, die man genießt, ist Maßstab der Kultur, die man besitzt. Die Komfortabilität der äußeren Lebenshaltung schafft das Paradies; die inneren Persönlichkeitswerte sind zu Nonvaleurs herabgesunken, nach welchen kein Mensch mehr fragt.
Persönlichkeit ist man eben, wenn man täglich badet und die Wäsche wechselt, alle Vorschriften der Hygiene beachtet und im eigenen Wagen fährt. Jede gesellschaftliche Unaufrichtigkeit wird im Meer des Komfortismus erstickt. Revolutionär ist, wer nichts zu verlieren hat als seine Ketten. Wer im Komfort lebt, hütet sich, radikal zu sein; solange man Bequemlichkeiten hat, zieht man es vor, es sich bequem zu machen.
Der Komfortismus ist ein wirkungsvoller Religionsersatz; er mäßigt die Gesinnungen, indem er glücklich macht. Er ist für den bestehenden Gesellschaftszustand eine leistungsfähige Rückversicherung; stiftet er doch eine Gemeinschaft aller Nutznießer des Komforts gegen die, welche ihn in Frage stellen.
Nicht von ungefähr gedieh das Massenbesänftigungs- und Bestechungsmittel des Komfortismus zu voller Blüte in Amerika; der Komfortismus setzte die Fülle der natürlichen Reichtümer voraus, über welche das „gottgesegnete“ Land verfügt und zugleich die Intensität der technisch-industriellen Entfaltung, die hier aufgewandt wurde. Die Technik steuert das ungeheure Arbeitsquantum bei, das über den natürlichen Reichtum hinaus den zusätzlichen künstlich-industriell hervorgezauberten Reichtum erzeugt, welcher nötig ist und mobilisiert werden muss, um die umfassende Massenbestechung durchzuführen, auf der die bisherige Unerschütterlichkeit der amerikanischen Demokratie beruht. Der echt liberale Stolz darüber, wie so herrlich weit man es gebracht hat, wird durch den Komfortismus genährt: wer, den die automatische Rolltreppe in die Höhe trägt, sollte sich nicht erhaben fühlen allen Völkern und Menschen gegenüber, die mit solchen Fortschritten nicht aufzuwarten haben? Man ist insoweit ein höherer Mensch, als man Komfort hat: das ungefähr ist der Kulturbegriff des Amerikanismus.