Befreiungsnationalismus
und Antiimperialismus
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Verfasser: Richard Schapke, im August 2004
Vor 25 Jahren - am 19. Juli 1979 - siegte die linke Revolution gegen die rechte
Diktatur in Nicaragua. Vor einem Vierteljahrhundert zogen Kämpfer der Sandinistischen
Nationalen Befreiungsfront (Frente Sandinista para la Liberacion Nacional/FSLN)
in die Hauptstadt Managua ein und beendeten die 43-jährige Herrschaft der
Familie des korrupten Diktators Anastasio Somoza Debayle, der nach Florida flüchtete.
Die Familie Somoza wurde von den Amerikanern in den Sattel gehoben, die das
Land von 1912 bis 1933 militärisch besetzt hatten. Die im Jahre 1961 gegründete
FSLN berief sich auf den Freiheitskämpfer Augusto César Sandino,
welcher 1934 von den Schergen der Somozas ermordet wurde. Sandino hatte seit
1926 mit seinen Guerrilleros beachtliche militärische Erfolge gegen die
US-Besatzer und ihre Schergen in der nicaraguanischen Nationalgarde erzielt.
In der Befreiungsfront FSLN fanden sich zahlreiche Strömungen von revolutionären Marxisten über Antiimperialisten in der Schule Che Guevaras bis hin zu linksbürgerlichen Reformen zusammen - eine wahre Volksfrontbewegung. Bereits Mitte der 70er Jahre spaltete die sandinistische Bewegung sich in drei Fraktionen auf: Die Proletarische Tendenz unter Jaime Wheelock, die „Tendenz des verlängerten Volkskrieges“ um Romás Borge und die Terceristas unter den Brüdern Daniel und Humberto Ortega. Im antiimperialistischen Befreiungskrieg sollte sich die letzte Tendenz als die bedeutendste erweisen, denn den Terceristas gelang erfolgreich der Schulterschluss mit Befreiungstheologen, christlichen Basisgruppen und dem liberalen Bürgertum. Zur Götterdämmerung des Somoza-Regimes geriet im Januar 1978 die Ermordung des bürgerlichen Oppositionsführers, des Verlegers Pedro Joaquín Chamorro, welche einen auch von den unterprivilegierten Klassen mitgetragenen Generalstreik auslöste. Zwar wurde der Massenstreik erbarmungslos niedergeschlagen, aber schon im September 1979 verwickelten die Rebellen die Regierungstruppen in blutige Kämpfe um mehrere Städte, und ab Mai 1979 kann man von einem regelrechten Volkskrieg gegen das reaktionäre Regime in Managua sprechen. Nachdem 15.000 Menschen starben, brach die Herrschaft des amerikahörigen Somoza-Clans in sich zusammen.
Mit der sandinistischen Machtergreifung triumphierte die sozialistische Revolution ein zweites Mal in Lateinamerika - 20 Jahre nach dem Sieg Fidel Castros über die US-Imperialisten und ihre kubanischen Kollaborateure. Die siegreichen Rebellen bildeten eine Regierungsjunta, an der sich zunächst auch Vertreter bürgerlicher Parteien beteiligten, darunter die Chamorro-Witwe und spätere Staatspräsidentin Violeta Barrios de Chamorro. Die von Daniel Ortega Saavedra geleitete „Junta für nationalen Wiederaufbau“ übte kollektiv die Geschäfte des Staatspräsidenten aus und machte sich in Zusammenarbeit mit der FSLN und Basisinitiativen an den wirtschaftlichen Wiederaufbau Nicaraguas.
Die 2000 landwirtschaftlichen Betriebe der Somoza-Anhänger mit 20 % der Nutzfläche wurden enteignet und zu 800 Staatsunternehmen mit selbständiger Wirtschaftsrechnung umgewandelt. Wenn ein beschlagnahmter Betrieb nicht rentabel umgewandelt werden konnte, verteilte man ihn an Landarbeiter und Kleinbauern oder an eine Genossenschaft. Nach Möglichkeit wurden ökologische Faktoren berücksichtigt, aber einer gänzlich an den natürlichen Gegebenheiten ausgerichteten Agrarpolitik stand die Abhängigkeit von Deviseneinnahmen aus Agrarexporten (Kaffee!) entgegen. Wilden Landbesetzungen machten die Sandinistas bereits im Februar 1980 ein Ende, da diese die Landwirtschaft destabilisierten.
Ebenfalls verstaatlicht
wurden die der Familie Somoza gehörenden Dienstleistungs- und Industriebetriebe.
Die Reformpolitik der Sandinisten orientierte sich hierbei an Rahmenkonzepten.
Wirtschaft und Gesellschaft sollten auf die Bedürfnisse des Landes ausgerichtet
werden. Ausbau des Sozialsystems, Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und Arbeitsbeschaffung
wurden in Angriff genommen und drosselten die Arbeitslosigkeit drastisch. Die
Einkommen schichtete man zugunsten
der Unterschicht um. Zugleich nahmen hiermit Nachfrage, Versorgungsprobleme
und Staatskontrolle über Produktion und Handel zu. Die Partizipation der
Bevölkerung sollte nach basisdemokratischen Prinzipien aufgebaut werden,
aber einer Demokratisierung standen der Machtanspruch der FSLN, die Unbildung
der Bevölkerung und die starke Zentralgewalt im Wege. Pluralismus der Parteien
und Meinungen sowie der Unternehmensformen wurden zumindest prinzipiell anerkannt.
Da die Sandinisten an der traditionellen Agrarexportwirtschaft festhielten (einziges
industrielles Großprojekt war eine Zuckermühle), waren sie auf die
Privatunternehmen angewiesen. Versuche, das Bürgertum und die Privatunternehmer
zu gängeln, führten sehr bald von abwartender Skepsis zum offenen
Widerstand. Die USA sperrten als Antwort auf die Verstaatlichungen und Enteignungen
die Wirtschaftshilfe, was Ortega zur Ausrufung des nationalen Notstandes zwang.
Die einheimischen Unternehmer transferierten ihre Gelder ins Ausland und investierten
nicht mehr in der Heimat.
Für das hoffnungsvoll begonnene Werk von Aufbau und Umgestaltung blieb wenig Zeit, denn nach dem Amtsantritt Ronald Reagans 1981 unterstützten die USA mit allen zu Gebote stehenden Mitteln die reaktionäre Gegenguerrilla der Contras. Reagan ging es nicht nur um die Wahrung amerikanischer Wirtschaftsinteressen (Stichwort United Fruit Company), sondern auch um die Verhinderung eines zweiten Kuba, eines weiteren sozialistischen Landes im Vorhof der USA. Die antikommunistische Reagan-Doktrin stürzte - vom Nicaragua-Konflikt abgesehen - fast ganz Mittelamerika in blutige Bürgerkriege zwischen rechten Diktaturen und linken Befreiungsbewegungen. Entscheidende Figur hierbei war übrigens John Negroponte, heute US-Botschafter im kolonisierten Irak. Im Zeitalter des Kalten Krieges konnten die Contras sich auch zumindest moralischer Unterstützung durch die Kohl-Administration und die der CDU/CSU nahe stehenden Politik-, Presse- und Wirtschaftskreise erfreuen. Es begann ein das Land lähmender Bürgerkrieg, der bis zu 50.000 Menschenleben forderte. Nicaragua und Mittelamerika wurden zum Schauplatz eines Stellvertreterkrieges: Hier die von exilierten Nicaraguanern, der CIA, Exilkubanern sowie den rechten Militärdiktaturen in Guatemala, El Salvador und Honduras unterstützten Contras, dort die mit der Sowjetunion, der DDR, Kuba und linken Guerrilleros in den Nachbarländern verbündeten Sandinistas.
Trotz des Bürgerkrieges und der wirtschaftlichen Zerrüttung konnten sich die Sandinisten bei den Parlamentswahlen vom 4. November 1984 mit 67 % der Stimmen durchsetzen. Mit der Coordinadora Democrática boykottierte die wichtigste Oppositionspartei den Wahlgang, da Vertreter der Contras nicht in den politischen Prozess eingebunden wurden. Daniel Ortega wurde zum Staatspräsidenten gewählt und erklärte die nun überflüssig gewordene Junta für aufgelöst, was für weiteren Unmut im bürgerlichen Lager sorgte. Am 1. Mai 1985 verkündeten die USA ein vollständiges Handelsembargo gegen Nicaragua. Das Land verlor einen wichtigen Absatzmarkt für Agrarprodukte, außerdem brach die Ersatzteilversorgung von Industrie und Landwirtschaft zusammen. Auch mit Notmaßnahmen wie Preiserhöhungen, Steuererhöhungen, Subventionskürzungen für Grundnahrungsmittel und Einfrieren der Staatsausgaben konnte die Regierung den wirtschaftlichen Verfall nicht aufhalten. Bedrängt durch Wirtschaftskrise und Contra-Rebellen, verhängte Ortega ein halbes Jahr nach dem Embargo den Ausnahmezustand. Dieser galt auch nach Inkrafttreten einer neuen Verfassung, die demokratische Grundrechte und eine gemischte Wirtschaftsform aus staatlichen und privaten Betrieben vorsah.
Die Verurteilung der amerikanischen Nicaragua-Politik durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag am 27. Juni 1986 beeindruckte Washington wenig; es setzte seine Unterstützung der Contras fort, und weiterhin verübte der US-Geheimdienst Sabotageakte. Reagan setzte sich hierbei sogar über einen Beschluss des Kongresses hinweg, was 1986/87 zur sattsam bekannten Iran-Contra-Affäre führte. Aufgrund der Zerrüttung der Wirtschaft durch den Bürgerkrieg und die Maßnahmen der USA musste Nicaragua im März 1987 seine Zahlungsunfähigkeit erklären. Die knappen Devisen wurden für Rüstungsgeschäfte ausgegeben, was zu einer dramatischen Knappheit bei Erdöl und Benzin führte. Da die Löhne mit der galoppierenden Inflation nicht Schritt hielten, verlor die Bevölkerung monatlich 40-50 % ihrer Kaufkraft. Schon im Herbst konnte das staatliche Versorgungssystem nicht einmal 50 % des Bedarfes an Grundnahrungsmitteln und Konsumgütern decken; es profitierten Schieber und Schwarzhändler. Auch nach Verkündung eines einseitigen Waffenstillstandes durch Ortega setzten die Contras den von zahlreichen Gewaltakten und Massakern gegen Sandinisten, Bauern und ausländische Helfer begleiteten Kampf fort.
Mitte Januar 1988 erklärte die sandinistische Regierung sich zur Aufnahme direkter Verhandlungen mit den Rebellen bereit und hob den Ausnahmezustand auf, was zu einer zunehmenden innenpolitischen Liberalisierung führte. Erste Verhandlungen scheiterten jedoch bis zur Jahresmitte. Dennoch setzte Ortega den Demokratisierungskurs fort - mit fatalen Folgen: Bei den Präsidentschaftswahlen vom 24. Februar 1990 siegten Violeta Chamorros Konservative mit 55,2 %. Die Sandinistas versprachen eine geordnete Machtübergabe, sicherten sich aber zunächst Schlüsselpositionen in Armee, Polizei und Gewerkschaften. Auf ihrer Erfolgsbilanz standen trotz der chaotischen Wirtschaftslage die Landreform, der Ausbau des Bildungswesens und die Senkung der Analphabetenrate von 50 auf 13 %.
Chamorro nahm Friedensverhandlungen mit den Contras auf - die bald zur Demobilisierung des Großteils der Rebellen führten - und leitete eine neoliberale Wirtschaftspolitik ein. Im April 1991 begann die von USA, IWF und Weltbank wohlwollend quittierte Rosskur für die nicaraguanische Wirtschaft: Abwertung der Währung, Kürzung der Sozial- und Bildungsausgaben, Streichung staatlicher Subventionen für Grundnahrungsmittel, Brenn- und Treibstoffe etc. Gehaltserhöhungen gab es nur für die Staatsbediensteten, so dass die Unterschichten mit voller Wucht getroffen wurden. Auch unter ihrem Nachfolger Arnaldo Alemán Lacayo (1997) wurde die neoliberale Politik fortgesetzt. Massenarbeitslosigkeit, soziales Elend und Korruption prägen das Bild Nicaraguas bis auf den heutigen Tag. In seiner vierjährigen Amtszeit zweigte alleine Alemán rund 100 Millionen Dollar aus der Staatskasse ab.
Von der weit verbreiteten Unzufriedenheit profitierte die Frente Sandinista de Liberación Nacional, die bei den Kommunalwahlen vom 5. November 2000 die Mehrzahl der 151 Bezirke sowie die Hauptstadt Managua für sich gewinnen konnte. Zugute kam der FSLN dabei der Zerfall des antisozialistischen Blocks, den Konservative und Liberale bis dahin gebildet hatten. Allerdings konnte sich bei den Präsidentschaftswahlen vom 4. November 2001 der Liberale Enrique Bolanos Geyer, ein ehemaliger Großgrundbesitzer, mit 56,4 % gegen seinen sandinistischen Konkurrenten Daniel Ortega durchsetzen. Die gleichzeitigen Parlamentswahlen brachten der FSLN 43 der 93 Mandate, ein Zugewinn um 6 Sitze. Wenn die sandinistische Bewegung ihren politischen Vormarsch fortsetzt, könnte sie bei den Präsidentschaftswahlen 2006 auf legalem Wege an die Regierung gelangen.
Die Chancen stehen gut: Die Analphabetenrate nahm unter der bürgerlichen Regierung auf 33 % zu. Infolge ihrer Notlage mussten die Bauern oftmals das unter den Sandinistas gewonnene Land verkaufen - der Großgrundbesitz eroberte seine alte Stellung zurück. Bei einem Bruttosozialprodukt von knapp 2 Milliarden Dollar war Nicaragua im Jahre 2000 mit über 7 Milliarden Dollar verschuldet und gehört zu den Krisenfällen von Weltbank und IWF. Heute leben in Nicaragua wieder zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung in absoluter Armut. Ein Viertel von ihnen verfügt über weniger als einen Dollar pro Tag. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 22 %.