Befreiungsnationalismus und Antiimperialismus

 

Nordkorea und die koreanische Wiedervereinigung

 

Eine Betrachtung von Shang Naojin

Der koreanische Nord-Süd-Gipfel Mitte Juni in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang setzte einen deutlichen Schlußpunkt unter die Jahrzehnte des eisigen Schweigens auf der ostasiatischen Halbinsel. Schon beim historischen Händedruck des südkoreanischen Staatspräsidenten Kim Dae Jung und des nordkoreanischen "Geliebten Führers" Kim Jong Il wurde deutlich, daß die Dinge in Bewegung gerieten. Bei Kim Jong Il handelte es sich offensichtlich nicht um den debilen und stotternden Säufer, als welcher er in den westlichen Lizenzmedien weltweit gerne dargestellt wurde, sondern um einen entschlossenen und selbstbewußten Politiker, der sein Geschick übrigens schon 1997 mit einer Säuberung von Militärführung und Regierung unter Beweis stellte. Beide Seiten bekräftigten ihr Interesse an der nationalen Wiedervereinigung des geteilten Korea.

Besprochen und mittlerweile eingeleitet wurde die Zusammenführung der nach Hunderttausenden und Millionen zählenden Familien, die durch die vom amerikanischen und sowjetischen Imperialismus gezogene Grenze getrennt sind. Ferner vereinbarte man Verhandlungen über südkoreanische Investitionen im Norden. Joint ventures sind in Nordkorea seit September 1984 zugelassen. Hier winken einträgliche Verdienstmöglichkeiten: Die Angleichung des Lebensstandards an den des Südens dürfte zwischen 1 und 2,5 Billionen Euro kosten. Investoren aus dem Ausland haben in Nordkorea jedoch höhere Grundlöhne als beispielsweise in Vietnam oder Teilen Mittelamerikas zu zahlen, daher hielt sich das internationale Interesse bislang in Grenzen. Weitere Hemmnisse sind die schwache Infrastruktur und die allgegenwärtige Bürokratie. Im Rahmen des Möglichen scheint die Teilnahme einer gesamtkoreanischen Mannschaft an den Olympischen Spielen zu sein, außerdem nahm Kim Jong Il eine Einladung zu neuen Gesprächen nach Seoul entgegen. Sowohl der kommunistische Norden als auch der kapitalistische Süden verzichteten auf feindselige Maßnahmen propagandistischer und umstürzlerischer Natur; die Militärs werden eine Verbindung für Krisenfälle einrichten. Der bundesdeutsche Botschafter Claus Voller konstatierte, der koreanische Gipfel sei weitaus erfolgreicher verlaufen als das Treffen zwischen Brandt und Stoph im Jahre 1970.

Angesichts des Zustandes, in dem der Waffengang des Kalten Krieges Anfang der 50er Jahre das Land hinterließ, vollbrachten Nord und Süd eine beeindruckende Wiederaufbauleistung. Das Gemetzel forderte alleine unter der Zivilbevölkerung bis zu 1,5 Millionen Todesopfer, und vor allem die nordkoreanischen Städte wurden von amerikanischen Terrorbombern systematisch in Trümmer gelegt. Die Hälfte aller Bergwerke und 85 % aller Industrieanlagen in Korea waren zerstört, ferner wurden zwei Drittel des Viehbestandes abgeschlachtet oder gingen zugrunde. Ein Fünftel der landwirtschaftlichen Nutzfläche glich einer Wüstenei.

Zur deutschen Teilung finden sich historische Parallelen: Immer wieder initiierte der kommunistische Norden Kampagnen für die Wiedervereinigung als zunächst lockere Konföderation, während im von reaktionären Militärs beherrschten Süden bis 1970 jede Diskussion dieses Themas verboten war. Die Regierenden in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang hielten ihren Widersachern in Seoul immer wieder ihren Verrat am koreanischen Volk, ihre Unterwerfung unter den US-Imperialismus sowie den Ausverkauf des Landes an das japanische und amerikanische Monopolkapital vor. Entlang des 38. Breitengrades entstand die bedrohlichste Grenze der Welt. Das Mobilmachungspotential des Nordens umfaßt 1,147 Millionen Mann mit 3800 Panzern, 850 Flugzeugen, 310 Hubschraubern und 430 Schiffen, während der Süden 690.000 Mann mit 2200 Panzern, 550 Flugzeugen, 570 Hubschraubern und 170 Schiffen ins Feld stellen kann.

Nördlich der Trennungslinie am 38. Breitengrad liegt die Demokratische Volksrepublik Korea DVRK mit ihren mehr als 22 Millionen Einwohnern. Es sei darauf hingewiesen, daß durch seine gezielten Entwicklungspläne der Norden bis in die 70er Jahre hinein der deutlich modernere Staat war. Durch planvolle Umschichtung überschüssiger Arbeitskräfte vom Land in die Industrie konnte auch die Bildung der in Südkorea  - und China -üblichen Slums vermieden werden, zur sinnlosen Aufblähung des Dienstleistungssektors und zur ökonomischen Marginalisierung der Städte durch die übermächtige Hauptstadt kam es nicht. Mit "Dschutsche" (phonetisch) gab Staatsgründer Kim Il Sung Nordkorea eine Staatsideologie, die eher ein an die Gegebenheiten und Bedürfnisse des Landes sowie die Kraft des Einzelnen angepaßtes Aufbauprogramm darstellte. Nordkoreas Volk sollte auf seine eigenen Kräfte vertrauen und in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Unabhängigkeit den nationalen Weg zum Sozialismus suchen. Entsprechend investiert der Staat hohe Beträge in die Ausbildung der Bevölkerung (10jährige Schulpflicht, polytechnische Ausbildung). Die begrenzten Konsummöglichkeiten glich Pjöngjang durch stark verbilligte Grundbedarfsgüter und ein vorbildliches Sozialnetz aus (1 Arzt auf 417 Einwohner). In den 70ern setzte jedoch die ökonomische Explosion des Südens ein, der seine beispielsweise in Textilindustrie und Fischerei erzielten Profite sinnvoll umsetzte und in neue Branchen investierte, bis er zu einer der bedeutendsten Wirtschaftsnationen der Welt wurde.

Der Zusammenbruch des Ostblocks ab Ende der 80er Jahre erschwerte die wirtschaftliche Lage der DVRK (obwohl sie nicht dem Wirtschaftsbündnis RGW angehörte), und schon vorher erreichten Industrie und Landwirtschaft die Grenzen ihres Kapazitätsausbaus, was eigentlich eine ökonomische Neuorientierung auf den Konsumgüter- und Dienstleistungssektor erforderlich machte. Hinzu kamen Mißernten und Naturkatastrophen, so konnten 1996 nur 2,5 Millionen t Getreide statt der benötigten 4,8 Millionen t geerntet werden. Das Rote Kreuz schätzt, daß in Nordkorea mittlerweile 5 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht sind. Im Frühjahr konnten pro Tag und Einwohner nur noch 150 Gramm Nahrung ausgegeben werden - ein erschütternder Zustand angesichts der Verhältnisse in den 80ern. Der Westen verhielt sich hier zögerlich und verlangte als Voraussetzung für Hilfsmaßnahmen die Einstellung des nordkoreanischen Atomwaffenprogramms und die Einhaltung der Vereinbarungen über die zivile Nutzung der Atomkraft. Belief sich das BIP noch 1998 auf 17,7 Milliarden US-Dollar, so brach es im vergangenen Jahr auf 12,6 Milliarden ein. Das BIP wird vor allem von der Industrie mit 42,5 % Anteil erwirtschaftet, es folgen die Landwirtschaft mit ca. 30 % und Dienstleistungen mit 28 %. Auf Staatsunternehmen entfallen 90 % der Wirtschaftsleistung, den Rest erbringen Genossenschaftsbetriebe. Eine geographisch bedingte Trumpfkarte gegenüber dem Süden sind die reichlichen Bodenschätze und die Wasserkraftreserven. Hauptabnehmer für die Exporte ist die Volksrepublik China mit nunmehr deutlich über 40 % Anteil, gefolgt von Rußland und Japan mit je 15 %. Die Einfuhren stammen aus Japan (28 % Anteil), China (23 %), Indien (10 %) und der BRD (9 %). Pumpt Nordkorea 25,2 % des Etats in die Streitkräfte, so sind es im Süden 18,1 %. Letzterer ist infolge seiner größeren Finanz- und Wirtschaftskraft militärtechnisch mittlerweile klar überlegen - Pjöngjang kann das Wettrüsten ökonomisch nicht mehr durchhalten.

Südlich der Demarkationslinie liegt die Republik Korea mit mehr als 44,8 mio Einwohnern und einem BSP von 1995 435,137 Milliarden US-Dollar. Dieses wird durch Dienstleistungen mit 52 %, die Industrie mit 41 % und die Landwirtschaft mit 7 % erbracht. Das südkoreanische Pro-Kopf-BSP übersteigt dasjenige des Nordens um mehr als das Zehnfache. Der nordkoreanische Pro-Kopf-Wert hat sich seit frühen 70er Jahren zwar wohlwollend berechnet verdoppelt, aber das Niveau des Südens hat sich beinahe verzehnfacht. Im Gegensatz zum Norden ist das südkoreanische Volkseinkommen sehr ungleichmäßig verteilt, der durchschnittliche Lebensstandard entspricht demjenigen Portugals, also des "ärmsten" EU-Staates. Auch die Republik Korea befindet sich in einer krisenhaften Lage, bedingt durch heftige innenpolitische Auseinandersetzungen mit Gewerkschaften, Linken und Nationalisten sowie wuchernde Korruption und Wirtschaftskrise. Von letzterer sind auch gerade die Zugpferde des südkoreanischen Wirtschaftswunders wie Automobilbau, Schwerindustrie, Werften und Halbleiterproduktion betroffen. Die früher zweistelligen BSP-Wachstumsraten waren seit Mitte der 90er Jahre rückläufig, boomen aber seit 1999 wieder mit 10,7 %. Die Auslandsverschuldung wuchs explosionsartig auf derzeit bis zu 100 Milliarden US-Dollar an, und das Außenhandelsdefizit ist horrend.

Die Gespräche über die Zukunft Koreas laufen schon seit August 1997, als in New York eine Viererkonferenz von beiden Koreas, China und den USA beschickt wurde. Zuvor scheiterte ein auf den Juli 1994 angesetzter koreanischer Gipfel am unerwarteten Tod von Kim Il Sung, dem sein Sohn Kim Jong Il nachfolgte. Nordkorea hatte als Vorbedingung für New York den Waffenstillstand von 1953 akzeptiert. Die USA und Südkorea regten an, unter Einbindung Chinas den Waffenstillstand durch einen formellen Frieden zu ersetzen. Nordkorea verlangte als Vorleistung die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den USA und den Abzug der ungeliebten US-Truppen, die hier ein Mandat des UN-Sicherheitsrates erfüllen.

Die Entscheidung über die Wiedervereinigung Koreas liegt wie in "Deutschland" in der Hand ausländischer Mächte. Diese Wiedervereinigung würde das politische, wirtschaftliche und militärische Gleichgewicht der gesamten Region durcheinanderbringen. Korea hat China, Rußland, Japan und die USA als starke Nachbarn. Die Präsenz von 37.000 Mann US-Truppen in Korea stützt deren strategische Interessen im pazifischen Raum - seit 1945 ist der Pazifik faktisch ein mare americanum. US-Außenministerin Albright erteilte in Seoul einem Truppenabzug eine deutliche Absage. China und Rußland haben ebenfalls militärische Gründe: Nordkorea liegt als Pufferstaat wie die Mongolische Volksrepublik zwischen ihnen. Der russische Präsident Putin hat bereits als erster Kremlchef seinen Besuch in Pjöngjang angekündigt, wobei er auf Einladung Kim Jong Ils kommen wird. Noch vor Jahresende will Putin auch Südkorea einen Besuch abstatten. Nachdem die Perestroika Mitte der 80er Jahre Moskau den Vorwurf des Verrates am Sozialismus einbrachte, schlossen beide Staaten im Februar 2000 einen neuerlichen Freundschaftsvertrag.

Kim Jong Il besuchte kurz zuvor Peking, das zwar Entspannung wünscht, aber keine Wiedervereinigung unter Führung des Südens. Der Geliebte Führer bekundete in China demonstratives Interesse an der Geplanten Marktwirtschaft der Volksrepublik, die in Anlehnung an Peking in der Tat ein Modell für ein geeintes Korea sein könnte (auch Südkorea weist eine enge Interessenverflechtung zwischen Staat, Bankwesen und Großkonzernen auf). Chinas Staatspräsident Jiang Zemin kündigte bezeichnenderweise eine konstruktive Unterstützung des Einheitskurses an.

Nordkorea könnte in einigen Jahren mit Interkontinentalraketen Hawaii und Alaska treffen. Japan befindet sich mittlerweile voll in Reichweite der Taepodong-2 Mittelstreckenraketen. Tokio befürchtet ferner von einer koreanischen Einheit die Gefährdung seiner Stellung als stärkste Wirtschaftsmacht Asiens. Die USA wiederum wollen eine Entspannung, würden aber dadurch ihr mühsam herbeigeredetes Schreckgespenst Nordkorea verlieren, mit dem sie ihre Rüstungspläne (Stichwort NMD) rechtfertigen. Washington schwächt immerhin seine Wirtschaftssanktionen gegen den Norden ab.

Wir sehen, zahlreiche vor allem internationale Faktoren werden die künftigen Geschicke der koreanischen Halbinsel beeinflussen. Hinzu kommen noch die Drahtzieher hinter den Kulissen der Weltpolitik: Das angloamerikanische Finanzkapital trat sofort nach dem koreanischen Gipfel auf die Bremse. Die Anleger ziehen mittlerweile Gelder aus Südkorea ab und begründen dies mit der Aussicht auf abenteuerliche Investitionen nördlich des 38. Breitengrades. Deutsche und japanische Großkonzerne zeigen sich weniger zögerlich und kaufen sich derzeit massiv in Südkorea ein. IWF und Weltbank pochen auf Einhaltung der Südkorea auferlegten Reformen, also auf die Unterordnung der koreanischen Wirtschaftsinteressen unter die Diktate New Yorks. Gerade unter solchen Voraussetzungen ist eine freiwillige Selbstaufgabe des sozialistischen Nordens kaum zu erwarten.

 

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