Befreiungsnationalismus und Antiimperialismus

 

Die Partei Gottes und der Westen

Zur politischen Ideologie der Hizbu´llah

 

"Und Gott gehören die Heerscharen der Himmel und der Erde." (Koran, 48.7)

 

Vorbemerkung:

Die Hizbu´llah gilt in den westlichen Medien als Terrororganisation. Bemerkenswerterweise wird dieser Vorwurf gegen eine der größten libanesischen Parlamentsparteien von allen politischen Seiten des Libanons zurückgewiesen. Es ist zwar lächerlich, wenn jene, die einen Stauffenberg oder die Mörder Heydrichs niemals als Terroristen sondern als Widerstandskämpfer bezeichnen würden, dieses Wort einer Bewegung anhängen, die offensichtlich den Kampf gegen eine fremde Besatzungsarmee geführt hat.

Dennoch müssen zwei Dinge erwähnt werden: 1. Die Geiselnahmen in Beirut Anfang der Achtziger Jahre. Diese sind für mich nicht in allen Einzelheiten nachzuprüfen und sollen gar nicht pauschal gerechtfertigt werden. Bürgerkrieg ist eine schmutzige Sache und es wurden vermutlich von allen Seiten Dinge getan, die besser unterblieben wären. Für eine heutige Einstufung als Terrororganisation ist das ohnehin nicht mehr relevant.

2. Ein gravierender Vorwurf ist der des Bombenanschlages auf ein jüdisches Gemeindezentrum in Argentinien. Dafür wurden bisher keine überzeugende Beweise vorgelegt und die Hizbu´llah hat diese Vorwürfe immer entschieden zurückgewiesen. Sollten die Taten von Sympathisanten oder Randfiguren der Hizbu´llah ausgeführt worden sein - wofür es, wie gesagt, keinen ernsthaften Anhaltspunkt gibt - , so wäre dies schlimm, daß die Führung den Auftrag gab, glaube ich ausschließen zu können. Sollte dies dennoch der Fall sein, so lehne ich dies nicht nur vollständig ab, sondern dies würde auch meine Darstellung in Frage stellen, die darauf beruht daß die Hizbu´llah keine Terrororganisation ist, sondern eine religiöse, soziale und nationale Befreiungsbewegung, die das Interesse auch der Nicht-Libanesen und Nicht-Schiiten finden sollte.

 

1. Unterdrücker und Unterdrückte

"Und Wir wollten Unsere Huld den Unterdrückten im Lande erweisen und sie zu Vorbildern und Erben machen" (Koran, 28.5)

Die zentrale begriffliche Unterscheidung im Weltbild der Hizbu´llah ist die zwischen den Unterdrückten und den Unterdrückern. Diese kategorische Einteilung geht, wie ein großer Teil der Ideologie, auf den Imam Khomeini und das Vorbild der islamischen Revolution im Iran zurück.

Die Unterscheidung zwischen Unterdrückten und Unterdrückern und die Parteinahme für die Unterdrückten deckt sich weder mit einer Einteilung in Gläubige und Ungläubige noch innerislamisch in Schiiten und Sunniten. Dennoch ist der Islam für die Hizbu´llah eine Anleitung zur Befreiung, der Islam ruft nicht "nur" zum Sturz der falschen Götzen, sondern auch zum Sturz der falschen Herrscher auf, denn alle Macht liegt bei Allah, und die weltliche Macht, die er seinen Dienern - Gläubigen - zukommen läßt, ist ausschließlich für die Organisation von sozialer Gerechtigkeit und den Schutz der Gläubigen zugelassen. Die Schiiten wiederum sind in spezifische Hinsicht die "Entrechteten" und Unterdrückten des Islam, da sie im Streit um das Kalifenamt unterlagen und schließlich von den irregeleiteten Kalifen unterdrückt, verfolgt und zu Märtyrern gemacht wurden. Von daher bezieht die Emphase auf die Aufhebung der Unterdrückung ihre religiöse Substanz, aber weder in der Propaganda noch in der Praxis verkürzt die Hizbu´llah dies so, daß etwa die Schiiten unverrückbar den Verfolgtenstatus hätten, sozusagen diesbezüglich ein zweites "auserwähltes Volk" sei, dem, egal was es macht, nun einmal der Bonus des Opfers anhaften würde. (Die Realität ist natürlich genau umgekehrt, ihnen kann man antun, was man will, in der Weltmeinung bleiben sie immer bloß Terroristen und Fanatiker.) Nein, auch Schiiten können Unterdrücker sein und sind es oft. Auch Nicht-Muslime können unterdrückt sein und mit ihnen solidarisiert sich die Hizbu´llah, so mit dem von den USA bedrohten Kuba und Nicaragua (der Sandinisten), aber auch der IRA gegen England usw.

Wer sind nun die Unterdrücker? Zweifellos werden fast alle muslimischen Staaten von Unterdrückern beherrscht. Dennoch ruft die Hizbu´llah nicht generell zur Revolte auf, denn eine solche würde nur ein Chaos schaffen, das den Unterdrückern im Weltmaßstab zu Gute kommen würde. Statt dessen ruft sie diese Herrscher auf, ihrer Pflicht nachzukommen, um sich gegen "arroganten Mächte" im Weltmaßstab zur Wehr zu setzen. Dabei spielt es keine Rolle, daß manche der kleinen Machthaber, wie etwa die mit der Hizbu´llah verbündete Ba´ath-Partei säkularistisch ausgerichtet ist. (Generell ist die Hizbu´llah gegen Säkularisten auch in der islamischen Welt erstaunlich tolerant, solange diese nicht die Ausübung der islamischen Religion generell unterbinden.) Noch weniger würde die Hizbu´llah zu einem generellen Djihad gegen Christen und Juden aufrufen, wie dies das wahhabitische Netzwerk des Bin Ladin getan hat. Cui bono, wenn ganze Religionen zu Feinden erklärt werden, unabhängig davon ob die Einzelnen nun auf der Seite der Unterdrückten oder der Unterdrücker stehen? Genau die beiden erzrepressiven Staaten, die auch von jeder Verzettelung in Kämpfen gegen Lokalfürsten profitieren: USA und Israel. Die USA nehmen in der politischen Metaphysik der Hizbu´llah die Rolle des "sündigsten" Unterdrückers ein, insoferne als die USA der Staat sind, der jedes Maß verloren hat, der jedes Verbrechen, jede Abweichung vom menschlichen Auftrag, in maßloser Weise begeht. Israel, das "zionistische Gebilde", das sie natürlich in keiner Weise als Staat anerkennen, ist hingegen der "Unterdrücker der Unterdrücker", wie es in typisch arabischer Rhetorik ausgedrückt wird. Dabei beziehen sie sich natürlich auf Landraub und Vertreibung an den Palästinensern, es ist der Hizbu´llah aber auch nicht entgangen, daß die Zionisten die gesamte westliche Welt für ihre Zwecke zu instrumentalisieren verstanden haben, und daher hinter vielen Unterdrückungsphänomenen stehen bzw. diese verschärfen.

Das Zentrum der Unterdrückung liegt damit sozusagen direkt vor der "Haustür" der Hizbu´llah, was kein Zufall ist, denn die Hizbu´llah ist ja im Widerstand gegen die zionistische Besetzung des Libanon entstanden und gewachsen, bis zu ihrem ersten Triumph als die israelische Armee - die viertstärkste Streitmacht der Welt - sich zurückziehen mußte. Seit diesem Tag hat die Hizbu´llah weitere Stufen ihrer Entwicklung durchgemacht, die die Unterordnung unter das Ziel der Bekämpfung Israels beweisen. So kam es auch zu keinem Rachefeldzug gegen jene Christen, die die südlibanesische Kollaborationsarmee unterstützten, stattdessen wurde eine libanesische Integrationspolitik betrieben, um eine starke und nicht eine geschwächte libanesische Gesellschaft vorzufinden. Übereilte Revolutionsschritte, die Kinderkrankheit auch des Islamismus, wie sie in anderen Ländern zu Chaos und Elend führten, sind nicht im Interesse der Hizbu´llah. Kompromißlos bekämpft sie hingegen alle, die sich zu direkten Erfüllungsgehilfen des Zionismus machen, vor allem die Palästinenserbehörde unter Arafat, die das Ziel der Befreiung ganz Palästinas aufgegeben hat und zu einem Bestandteil des Unterdrückungsapparates wurde.

 

2. Der Islamische Staat und die Demokratie

Der Islam ist ein vollständiges und alle Lebensbereiche umfassendes Lebenssystem. Der Islam ist daher auch ein Staatssystem, dessen Verwirklichung religiöse Pflicht ist. Als Schiiten hat die Hizbu´llah jedoch kein historisches Modell vor Augen, außer dem gegenwärtigen System der Islamischen Republik Iran. Primäres Ziel des islamischen Staates ist die Verwirklichung der Gerechtigkeit.

Daraus ergeben sich zwei Faktoren, die kurzschlüssige westliche Analytiker oft nicht genügen beachten, sich aber aus den Aussagen und vor allem auch der Praxis der Hizbu´llah ergeben:

1. Eine religiöse Pflicht bedeutet nicht, daß der Staat jemandem aufgezwungen werden kann oder darf. Im Gegenteil: Es gibt keinen Zwang im Glauben. Dies ist eine grundlegende Aussage, die zwar von vielen mißachtet wurde und wird, aber gerade für die Schiiten, jahrhundertelang Opfer der Verfolgung, absolut verpflichtend. Aus diesem Grund kann nicht gegen, sondern nur mit dem Willen der Bevölkerung ein islamischer Staat errichtet werden.

2. Der islamische Staat ist die beste, aber nicht die einzige Form der Gerechtigkeit. Es gibt auch andere Regierungsformen, die als legitim anerkannt werden können, so die gegenwärtige des Libanon, in deren Rahmen sich die Hizbu´llah bewegt, um ihr zukünftiges Staatsmodell zu propagieren.

Wenn das Ziel des islamischen Staates die Gerechtigkeit ist, so folgt daraus nicht nur logisch daß eine ungerechte Einführung kein Weg sein kann, sondern auch, daß die Islamisierung der libanesischen Gesellschaft nicht ein primäres Ziel ist, sondern der Bekämpfung der größten Ungerechtigkeit, verkörpert in der Existenz des zionistischen Gebildes, untergeordnet ist. Ein nicht nach islamischen Regeln lebender Libanese, der sich der Bekämpfung Israels widmet, macht einen größeren Schritt in Richtung Gerechtigkeit als ein sich der minutiösen Einhaltung muslimischer Frömmigkeitsregeln widmender Schiite, der dabei den Kampf gegen die Ungerechtigkeit des Zionismus vergißt. Natürlich ist das Ziel der Hizbu´llah eindeutig, beides zu verbinden, aber die Hizbu´llah ist eine politisch-revolutionäre Kraft und keine Religionspolizei (wie in "Saudi"-Arabien und Taliban-Afghanistan).

Warum ist nach Ansicht der Anhänger der Islamischen Revolution die Demokratie dem Modell des Islamischen Staates in Hinsicht auf Gerechtigkeit unterlegen?

1. Bereits der Ausdruck Herrschaft der Mehrheit deutet auf eine unterdrückte Minderheit. Der Grad der Unterdrückung wird variabel sein, jedoch die Einteilung in Unterdrücker und Unterdrückte wohnt dem demokratischen Modell zwangsläufig inne.

2. Weiters neigen demokratische Systeme dazu, daß der Wille der Mehrheit in Wirklichkeit ein von einer Minderheit manipulierter Wille ist. Der Grundsatz der Mehrheit verschleiert nur die Herrschaft einer zumeist ökonomisch und sozial privilegierten Elite.

3. Die Demokratie ignoriert die nachwachsende Generation und erst recht die zukünftigen Generationen. Ein Leben auf Kosten der Zukunft des Volkes ist Ungerechtigkeit.

Gerecht regiert werden kann also nicht im Namen des Volkes werden - hinter dem sich wie man sieht bloß die Minderheit der jetztlebenden Menschen - sondern nur in der Statthalterschaft Gottes (Khalifah t´Allah), wie der grundlegende Begriff des Koran lautet. Der islamische Staat kennt eine Pluralität im Rahmen des breiten Weges des vom Islam erlaubten, er besteht notwendigerweise aus einer pluralistischen Gesellschaft ("Was Gott erlaubt hat, darf nicht verboten werden.") im Rahmen der von Gott vorgesehenen Ordnung, deren Regelungen, soziale Gerechtigkeit vorgeben und ungerechtfertigte wirtschaftliche Bereicherung (Wucher) verbieten. Die Entscheidung darüber, was im Rahmen des Gesetzes Gottes liegt, unterliegt dabei dem Wächteramt der Rechtsgelehrten.

Um dieses von Imam Khomeini ausgearbeitete Modell richtig einzuordnen, sollte man es auch nicht nur den westlichen Modellen der Demokratie und der Diktatur (z.B. der Pahlevi-Dynastie in Persien) gegenüberstellen, sondern auch den alten Herrschaftsformen, die in den Königtümern der islamischen Welt vor der Kolonialzeit bestanden. Damals gab es sehr wohl auch einen Berater (Wesir) des Sultans. Der Herrscher konnte dem Rat folgen oder nicht und in jedem Fall unterlagen die Menschen dem alleinigen Willen des Königs (soweit physisch durchsetzbar). Im Modell des Islamischen Staates können die Menschen frei handeln, sich beraten, Vertreter wählen usw. solange sie die Entscheidungen über die Grenzen, die die göttliche Offenbarung setzt, beachten. Hier muß auch über den Charakter des göttlichen Gesetzes etwas gesagt werden. Gott ist nicht nur Schöpfer der Naturgesetze, sondern kennt auch die "sozialen Gesetze", die Regeln des Zusammenlebens, da er den Menschen erschaffenen hat. Im Koran - und in den früheren Propheten geoffenbarten Gesetzen - wird dem Menschen dieses Wissen zugänglich gemacht, um ein gedeihliches Zusammenleben und den Frieden zu ermöglichen.

Die Haltbarkeit der islamischen ökonomischen Vorschriften im Vergleich mit dem marxistischen Pfusch und mit der kapitalistischen Ausbeutung des Menschen bis hin zur Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen ist in der Theorie leicht nachzuweisen. In der Praxis ist es schwerer, da jeder Versuch natürlich von jenen verhindert wird, die vom Wucher leben und an der Spitze der "kapitalistischen Nahrungskette" (die Großen fressen die Kleinen) stehen.

Die Vortrefflichkeit der sonstigen sozialen Vorschriften, nicht zuletzt des Schutzes der Familie, die Verteidigung der Frau gegen ihre sexuelle Ausbeutung, die Achtung der Älteren, usw. ist rational leicht einsehbar, solange man nicht seine eigenen Götzen - die Bequemlichkeit und Lust - anbetet, sondern das Wohl der Gemeinschaft im Auge hat. Die Angst vor dem Vordringen der muslimischen Bevölkerung auf das von Dekadenz zerfressene Europa mit seinen korrupten Demokratien ist das Eingeständnis der Überlegenheit selbst der heute wenig konsequenten Anwendung der koranischen Gebote in den muslimischen Ländern, dem Europa nicht mehr als Vernichtungstechnologie und verstärkte Unterdrückungsmaßnahmen entgegensetzen kann, solange es nicht entweder wieder "seinem" Gott folgt oder den Gott der koranischen Offenbarung annimmt.

Apropos, die Verankerung der Teilnahme der religiösen Minderheiten in der Politik des Islamischen Staates ist nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich ein Gebot des Islam.

Welche politische Betätigung ist vom islamischen Staat ausgeschlossen? Diejenige, die ihn prinzipiell abschaffen will. Dies hat natürlich nicht nur seine Berechtigung, sondern leider auch eine große Schwierigkeit. Es wird keine Gruppierung mit diesem Ziel auftreten, wenn dies verboten ist, sondern man wird den Mantel von - prinzipiell legitimen - Reformbewegungen annehmen, was dann dazu führt, daß diese in Konflikte geraten, die zu Repressionen führen können. Dies ist die Tragik der Islamischen Republik Iran, wo Reformkräfte mit anscheinend moderaten Zielen ausgenutzt werden, um das Ziel der Rückführung des Iran in den Unterdrückungszustand vor der Revolution zu erreichen. Es wird zwar immer Menschen geben, die sich aus freien Stücken für die Unterdrückung entscheiden, weil sie meinen, sie müßten in größerem Ausmaß profitieren als die anderen. Primär ist es aber wieder die Existenz der beiden großen Unterdrückerstaaten USA und Israel, die jeden Versuch der Errichtung eines gerechten Systems - in der islamischen Welt, in Deutschland oder wo auch immer - zu hintertreiben versuchen, weil sie vom System der weltweiten Unterdrückung am meisten profitieren und weil sei eine Ausbreitung der Revolution der Gerechtigkeit fürchten. Daher wird ein stabiles Islamisches System nicht errichtet werden können, so lange diese beiden Unterdrücker in ihrer jetzigen imperialistischen Form bestehen. Der Erfolg eines Systems wie der Islamischen Republik Iran oder der Hizbu´llah bemißt sich daher nicht ausschließlich an der Herstellung von Gerechtigkeit in ihrem Bereich. Dieses Ziel können sie unter den gegebenen Umständen gar nicht vollständig erreichen, da sie zu Repressionen gegen die Wühlarbeit der Imperialisten und Zionisten greifen müssen. Der Erfolg bemißt sich vielmehr auch daran, diesen Feinden standzuhalten.

 

3. Zwischen islamischem Univeralismus und nationaler Identität

Der Name Hizbu´llah verrät ihn schon, den universalistischen Anspruch. Der islamische Anspruch, eine universale Botschaft für die Menschheit zu sein, bildet die wichtigste Identität für die Hizbu´llah, die Partei Gottes. Der Referenzrahmen für die Hizbu´llah ist die Gemeinschaft aller Gläubigen. Sie artikuliert den politischen Willen dieser Gläubigen im Libanon, so wie die Islamische Republik Iran die institutionalisierte Islamische Revolution im Iran repräsentiert.

Dieses Selbstverständnis hat zwei konkrete Folgen. Zum einen die Entgegensetzung zu einem Pan-Arabismus, der die Identität des Arabertums über die Ergebung unter den Willen Gottes stellt. Zum anderen die Avantgarde-Rolle in der Herausbildung einer gemeinsamen Revolution der islamischen Gemeinschaft gegen den zionistischen Unterdrücker.

Unterhalb dieser Identitätsebene liegt die Anerkenntnis regionaler und nationaler Gliederungen, die dann in ihr Selbstverständnis auch Nicht-Muslime einbezieht. So ruft die Hizbu´llah seit langem die libanesischen Christen auf, sich nicht dem Westen, sondern der arabischen Welt zugehörig zu fühlen, und dementsprechend nicht mit dem Zionismus zu kollaborieren, sondern ihm als Libanesen und Araber Widerstand zu leisten. Selbst ist die Hizbu´llah nach Aussagen ihres Führers bereit, im Falle eines Widerspruches der Interessen des Libanons und des Irans, den Libanon über die Bindung an das iranische Modell zu stellen. Für die Hizbu´llah besteht kein Widerspruch zwischen Islam und Nation. Im Gegenteil: der Islam verteidigt die Nation und die Nation verteidigt den Islam. In dieser Rolle als Verteidiger der Nation, als die sich die Hizbu´llah ja durch die Vertreibung der zionistischen Okkupanten aus dem Staatsgebiet des Libanon bestens bewährt hat, versteht sich die Hizbu´llah wie gute Nationalisten als Verteidiger aller Libanesen - Muslime oder nicht - obwohl sie, wenn man die Definition des Nationalismus als jener Bewegung, deren tiefste Loyalität der Nation gilt, zugrunde liegt, natürlich nicht nationalistisch ist. Aber es ist nur die verwirrte Sicht der westlichen politischen Lehren, die hier einen Widerspruch sehen kann. Die Partei Gottes zu ergreifen heißt: Alle menschlichen Eigenschaften und Bindungen zu verteidigen, die gerecht sind, dazu gehört auch der "Befreiungsnationalismus" der unterdrückten Völker, und all jene Selbst-Überhebungen des Menschen abzulehnen, die auf das Vorbild des Iblis (oder Shaitan) zurückgehen, jenes Engel, der sich nicht vor dem Statthalter Gottes verneigen wollte. Zu der Partei des Satans (Hizbu´shaitan) zählt auch der "schlechte Nationalismus" des Chauvinismus und Imperialismus, als deren extremste Form von der Hizbu´llah das israelische Staatsgebilde aufgefaßt wird.

 

4. Der Kampf gegen den Westen und gegen die zionistische Besatzung

"Satan hat völlige Macht über sie gewonnen und hat sie die Ermahnung Allahs vergessen lassen. Sie sind Satans Partei. Hört! es ist Satans Partei, die die Verlierende ist." (Koran, 58.19)

Was unterscheidet den Kampf gegen den Westen grundsätzlich vom Kampf gegen andere Unterdrücker, vom Kampf gegen Feinde des Islam wie die christlichen Kreuzritter, Hindutva-Fanatiker oder dem Kampf der falschen Kalifen um Vorherrschaft in der islamischen Welt? All diese Feinde der gerechten Ordnung sind Abweichungen vom Idealbild der Statthalterschaft Gottes. In manchen Fällen sind sie vielleicht nicht einmal viel weniger legitim als die bestehende miserable Ordnung in Staaten der islamischen Welt. Sie entspringen menschlichem Gewinnstreben und Überheblichkeit oder Verblendung im Glauben an falsche Götzen. Was das Neue an der westlichen Bedrohung ist, ist der reine Materialismus. Es handelt sich nicht bloß um eine politische Konfliktsituation, sondern um eine "Kultur" (sofern die Negation jeder Kultiviertheit auch noch ein Grenzfall einer Kultur ist) der Leugnung jeden höheren Wertes, der alles Hohe in den Schmutz zieht, alle Güter zu bloßen Waren macht, lediglich die Befreiung der niedrigsten Instinkte als Emanzipationsziel angibt. Es ist die Partei des Satans, die radikale Verneinung jeden göttlichen Anspruchs. Die westliche Moderne ist die Verkörperung eines nun endlich im Weltmaßstab agierenden materialistischen Antriebes, der sich jeder Hegung durch göttliche Gebot versagt, jeden solchen Versuch als fundamentalistisch, rückständig, mittelalterlich, barbarisch brandmarkt. Man lese die Bücher der in Neu-York lebenden Jüdin Oriana Fallaci um den Haß der materialistischen Lebenseinstellung auf die Gläubigen zu begreifen. Und man sieht leicht daß dieser Haß trotz der gelegentlichen aufgetragenen christlichen Abendlandstünche auch jede andere Religion treffen würde, die sich der westlichen Planierraupe aller Werte entgegenzustellen wagen würde. Nur jene, die sich in das große Geschäft einspannen lassen und die kapitalistische Grundlage nicht gefährden, dürfen auch zur Mobilisierung gegen den islamischen Feind beitragen.

Die Propagierung des materialistischen Way-of-Life des ungezügelten Konsums und der Ausschweifung, der eine Unterdrückung und Ausbeutung eines großen Teil des Planeten zur Voraussetzung hat, durch die Medien und die Pop-Kulturindustrie geht Hand in Hand mit einer propagandistischen und finanziellen Unterstützung des Zionismus. Auch ein erheblicher Teil der Gewinne der Konzerne, die vom selbstmörderischen Konsumrausch leben, wie auch des Gewinns im Rahmen der Finanzspekulation, fließen in die gleichen Hände. Die Hizbu´llah hält es daher für keinen Zufall, daß der unterdrückerischste Staat des Westens gerade das zionistische Gebilde ist, deren Bekämpfung nach ihrer Auffassung die höchste Aufgabe eines jeden Muslims und jedes gerechtigkeitsliebenden Menschen ist.

Der Kampf gegen den Zionismus richtet sich aber keinesfalls gegen den Juden als Angehörigen einer Abstammungsgemeinschaft, da dieser wie jeder Mensch Muslim werden kann. Er richtet sich genausowenig gegen den Juden, der den Geboten Moses und der Torah folgt. Imam Khomeini sagte zur Unterscheidung von Zionismus und Judentum ganz klar: "Die Zionisten sind keine religiöse Gruppe. Die Lehren des Propheten Moses waren göttlich inspirierte und sehr wertvolle Lehren; der Prophet Moses wird im Koran mehr als jeder andere Prophet erwähnt, seine Lebensgeschichte wird im Koran erzählt. Gottgegebene Macht und die Wahrung der Interessen der Unterdrückten gegenüber den arroganten Mächten, deren erste der Pharao war, und Auflehnung gegen diese arroganten Mächte bestimmten die Handlungsweise des Propheten Moses. Diese Lehren und diese Handlungsweise stehen in vollkommenen Gegensatz zum Handlungsprogramm der Zionisten. Die Zionisten stehen mit den arroganten Mächten unserer Zeit in enger Verbindung, sie spionieren für sie, sie agieren als deren Handlanger und handeln somit gegen die Interessen der Unterdrückten. (...) Wir wenden uns gegen die Zionisten, weil sie sich gegen alle Religionen stellen, sie sind keine Juden, sondern Politiker, die ihre schmutzigen Geschäfte im Namen des Judentums machen."

Der Kampf der Hizbu´llah richtet sich also gegen den Zionisten und den Angehörigen der westlich-materialistischen "Kultur", der von seinen mosaischen Ursprüngen soweit abgewichen ist, daß man sagen kann, er habe sie ins Gegenteil verkehrt. Die Mächte der materialistischen Ideologie des Karl Marx wurden besiegt - soweit dieser das soziale Anliegen der Gütergerechtigkeit zugrunde lag, wird dieses vom Islam besser vertreten -, dazu hat die Niederlage der Sowjetunion in Afghanistan ihren Teil beigetragen. Der materialistische Feind in Gestalt des Westens und seines Vorpostens in der zionistischen Besetzung Palästinas ist heute noch immer auf dem Vormarsch. Seine Niederlage ist nicht nur ein Anliegen der muslimischen Welt, sondern kommt auch den Unterdrückten im Westen zu Gute, deren Seele bis dahin besetztes Gebiet bleibt.

"Du wirst kein Volke finden, das an Gott und an den Jüngsten Tag glaubt, und dabei die liebt, die sich Gott und Seinem Gesandten widersetzen, selbst wenn es ihre Väter wären oder ihre Söhne oder ihre Brüder oder ihre Verwandten. Das sind die, in deren Herzen Gott den Glauben eingeschrieben hat und die Er gestärkt hat mit Seinem eigenen Wort. Er wird sie in Gärten führen, durch die Ströme fließen. Darin werden sie weilen ewiglich. Gott ist wohl zufrieden mit ihnen, und sie sind wohl zufrieden mit Ihm. Sie sind Gottes Partei. Hört! es ist Gottes Partei, die erfolgreich ist." (Koran, 58.22)

P. Baden

 

Die Darstellung beruht im Wesentlichen auf dem Buch von Amal Saad-Ghorayeb: Hizbu´llah. Politics and Religion; London 2002.
Weitere Literaturangaben: Das Palästinaproblem aus der Sicht Imam Khomeinis (s.a.); Teheran 1996.

 

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